BT-Drucksache 17/12822

Menschenrechtslage und humanitäre Situation in der Westsahara verbessern und Klärung des völkerrechtlichen Status voranbringen

Vom 19. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12822
17. Wahlperiode 19. 03. 2013

Antrag
der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Wolfgang Gunkel, Dr. h. c. Gernot
Erler, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Ute Kumpf, Ullrich Meßmer, Thomas
Oppermann, Christoph Strässer, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion
der SPD
sowie der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ute Koczy, Tom Koenigs, Ingrid
Hönlinger, Marieluise Beck (Bremen), Agnes Brugger, Viola von Cramon-
Taubadel, Harald Ebner, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Dr. Tobias
Lindner, Kerstin Müller (Köln), Dr. Hermann E. Ott, Lisa Paus, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Dorothea Steiner,
Hans-Christian Ströbele, Markus Tressel, Daniela Wagner und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechtslage und humanitäre Situation in der Westsahara verbessern
und Klärung des völkerrechtlichen Status voranbringen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In der Westsahara findet einer der letzten kolonialen Konflikte der Welt statt.
Das Gebiet steht zu 85 Prozent unter der Verwaltung des Königreichs Marokko.
Dazu gehören die gesamte Küstenregion sowie die Gebiete mit Rohstoffvor-
kommen und fruchtbarem Boden. Die bereits 1991 eingesetzte Mission der Ver-
einten Nationen MINURSO (United Nations Mission for the Referendum in
Western Sahara) hat unter anderem die Aufgabe, ein Referendum über die
Zukunft der Westsahara durchzuführen. Dies ist bislang jedoch noch nicht ge-
schehen. Das MINURSO-Mandat wird vom Sicherheitsrat der Vereinten Natio-
nen (VN) jährlich verlängert. Es beinhaltet allerdings bis heute kein explizites
Mandat für das Monitoring und die Überwachung der Menschenrechtslage und
für den Schutz der Zivilbevölkerung (sog. Menschenrechtsmechanismus). Das
MINURSO-Mandat ist somit gegenwärtig das einzige VN-Mandat, bei dem der
Schutz der Menschenrechte nicht Teil des Programms ist.

Die Saharauis, die ursprüngliche Bevölkerung Westsaharas, die noch in dem
von Marokko besetzten Gebiet leben, werden in ihren Menschenrechten stark
eingeschränkt. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist gefähr-
det, das Recht auf ein faires Verfahren, das Folterverbot, die Versammlungs-

und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung der saha-
rauischen Bevölkerung können nur begrenzt ausgeübt werden. Erst im Februar
2013 wurden 24 Saharauis nach ihrer Festnahme bei der gewalttätigen Räumung
eines Protestlagers im November 2010 durch ein marokkanisches Militärgericht
zu langen Haftstrafen verurteilt. Internationale Menschenrechtsorganisationen
haben Marokko mehrfach dazu aufgefordert, den Prozess vor einem Zivilgericht
zu führen. Diese Forderungen wurden ignoriert. Auch dem Verdacht von Folter

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und gewaltsam herbeigeführten Geständnissen der Verurteilten wurde im Pro-
zess nicht nachgegangen. Durch die marokkanische Siedlungspolitik wird die
saharauische Bevölkerung immer stärker marginalisiert, was die gesellschaftli-
chen Spannungen befördert.

Die Ausbeutung der Bodenschätze auf dem Gebiet der Westsahara und der
Fischbestände vor der Küste durch Marokko ist völkerrechtswidrig, solange sie
der saharauischen Bevölkerung nicht zugute kommt. Dies ist derzeit nicht oder
nur sehr eingeschränkt der Fall.

Bis zu 160 000 saharauische Flüchtlinge leben seit 1976 infolge des Krieges
zwischen der Frente Polisario (Frente Popular para la Liberación de Saguia Al
Hamra y Rio de Oro) und dem Königreich Marokko in Flüchtlingslagern auf al-
gerischem Staatsgebiet nahe der Grenze. Die Menschen dort sowie in dem nicht
von Marokko verwalteten Gebiet Westsaharas sind nahezu ausschließlich auf
internationale Lebensmittelhilfen angewiesen. Die humanitäre Situation in den
Lagern ist angespannt. Der jungen Generation fehlen die Perspektiven.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich auf internationaler Ebene dafür einzusetzen, dass das MINURSO-
Mandat am 30. April 2013 erneut verlängert wird;

2. in den Vereinten Nationen darauf hinzuwirken, dass MINURSO in die
Lage versetzt wird, sich stärker um die Menschenrechtssituation in der
Westsahara kümmern zu können, und dazu um einen Menschenrechts-
mechanismus ergänzt wird;

3. im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen darauf hinzuwirken, dass der
Menschenrechtsrat sich im Rahmen einer „special procedure“ mit der Men-
schenrechtslage in der Westsahara befasst;

4. die marokkanische Regierung aufzufordern, die gewaltsame Räumung des
saharauischen Protestcamps Gdim Izik im November 2010 zu untersuchen
und das Verfahren gegen die im Februar 2013 im Nachgang zu den Protes-
ten in Gdim Izik verurteilten 24 Saharauis wiederaufzunehmen um dann
einen fairen und transparenten Prozess zu gewährleisten;

5. die marokkanische Regierung aufzufordern, die politischen Gefangenen
freizulassen;

6. sich bilateral gegenüber Marokko, innerhalb der EU und innerhalb der Ver-
einten Nationen dafür einzusetzen, dass die durch die Ausbeutung der na-
türlichen Ressourcen Westsaharas eingenommenen Mittel der saharauischen
Bevölkerung zu Gute kommen;

7. das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Marokko dahingehend zu
prüfen, dass Waren aus der Westsahara nur dann in die EU exportiert wer-
den, wenn die eingenommenen Mittel der saharauischen Bevölkerung zu
Gute kommen;

8. dass bei der Neuverhandlung des Fischereiabkommens mit Marokko die
Befischung der Gewässer der Westsahara solange ausgenommen wird, bis
ihr völkerrechtlicher Status durch ein Referendum geklärt ist;

9. die völkerrechtswidrige Verwaltung der Westsahara durch Marokko nicht
anzuerkennen;

10. sich innerhalb der EU für eine einheitliche Position gegenüber Marokko
und der Westsahara einzusetzen;

11. eine Verbesserung der Menschenrechtssituation der Saharauis in dem ma-

rokkanisch verwalteten Gebiet der Westsahara in bilateralen Gesprächen
mit Marokko deutlicher als bisher anzumahnen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12822

12. die humanitäre Hilfe für die Flüchtlingslager von Tindouf zu erhöhen und
das dortige Engagement des UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der
Vereinten Nationen) stärker als bislang zu unterstützen;

13. sich im Rahmen der EU und der Vereinten Nationen stärker als bislang für
eine dauerhafte Lösung des Konflikts und für eine zeitnahe und konstruk-
tive Umsetzung eines freien und demokratischen und von den Vereinten
Nationen organisierten und überwachten Referendums einzusetzen;

14. sich für die Wiederaufnahme von international geleiteten Verhandlungen
zwischen Marokko und der Frente Polisario mit konkreten Zielsetzungen
einzusetzen;

15. im Rahmen des politischen Dialogs sowie der Entwicklungszusammenar-
beit mit Marokko gemeinsam mit den vor Ort involvierten internationalen
Akteuren Möglichkeiten auszuloten, um Foren für einen Dialog zwischen
marokkanischen und saharauischen Akteuren zu schaffen;

16. im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit mit Marokko keine Projekte
auf dem von Marokko verwalteten Gebiet der Westsahara durchzuführen
und die marokkanischen Partnerinnen bzw. Partner in Vorhaben und Pro-
jekten der deutschen Entwicklungszusammenarbeit für den Westsahara-
Konflikt zu sensibilisieren und eine Lösung des Konflikts einzufordern;

17. sich vom neuen Leiter der MINURSO, Wolfgang Weisbrod-Weber, regel-
mäßig informieren zu lassen;

18. gegenüber der marokkanischen Regierung die Einhaltung der Pariser
Grundsätze für nationale Menschenrechtsinstitutionen, insbesondere in Be-
zug auf die Stärkung und Achtung der Befugnisse des CNDH (Conseil Na-
tional des Droits de l’Homme), anzumahnen;

19. sich gegenüber der marokkanischen Regierung für eine enge Kooperation
des CNDH mit Organisationen der Vereinten Nationen und internationalen
Menschenrechtsorganisationen auszusprechen;

20. die fehlenden Untersuchungen zu den Menschenrechtsverletzungen in den
Flüchtlingslagern in bilateralen Gesprächen mit der Frente Polisario anzu-
mahnen und eine Zählung der Flüchtlinge durch das UNHCR als ersten
Schritt für ein Referendum zu fordern;

21. Informationen und Studien über die Situation in den Flüchtlingslagern und
dem von der Frente Polisario verwalteten östlichen Gebiet der Westsahara
zu fördern.

Berlin, den 19. März 2013

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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Begründung
Das Gebiet der Westsahara umfasst eine Fläche von 266 000 km2 und stand bis
1975 unter spanischer Kolonialherrschaft. Während der spanischen Herrschaft
gründeten die Saharauis zahlreiche Befreiungsorganisationen, aus denen die
Frente Polisario (Frente Popular para la Liberación de Saguia Al Hamra y Rio
de Oro) als wichtigste hervorging. Mit Abzug der spanischen Kolonialmacht er-
hoben Marokko und Mauretanien Anspruch auf das Gebiet und wandten sich an
den Internationalen Gerichtshof (IGH), um ihre Forderungen gerichtlich geltend
zu machen. Der IGH urteilte 1975, dass weder Mauretanien noch Marokko wäh-
rend der Kolonialisierung territoriale Souveränität über das Gebiet ausgeübt
hätten und beide Länder folglich keinen rechtlichen Anspruch besäßen. In der
Folge besetzte Marokko im Grünen Marsch zwischen 1976 und 1979 einen gro-
ßen Teil des Gebietes, um seinen Anspruch zu untermauern. Die Frente Polisa-
rio widersetzte sich dem Einmarsch gewaltsam, rief 1976 die Demokratische
Arabische Republik Sahara (DARS) aus und bildete eine Exilregierung in der
Nähe der algerischen Flüchtlingslager, wohin ein Großteil der indigenen saha-
rauischen Bevölkerung während des Konfliktes geflohen war. Die DARS ist
Mitglied der Afrikanischen Union (AU) und wurde bisher von einigen Ländern
(die Zahlen in der Literatur schwanken zwischen 33 und 70) anerkannt.

Zwischen 1980 und 1987 errichtete Marokko ein 2 500 km langes Schutzwall-
system (BERM) aus Erd- und Steinwällen mit Wachtürmen und Minenfeldern,
derzeit bewacht von circa 150 000 marokkanischen Militärs, welches die Fläche
der Westsahara seitdem in zwei Zonen teilt. Die Saharauis leben seit diesem
Zeitpunkt aufgeteilt in drei verschiedene Gebiete: Circa 85 Prozent der Westsa-
hara stehen unter marokkanischer Verwaltung und es gilt das marokkanische
Recht. Diese Region umfasst einen Großteil des fruchtbaren Bodens, Phosphat-
abbaugebiete und Ölreserven, sowie den gesamten Küstenstreifen mit seinen er-
tragreichen Fischgründen. Begünstigt durch die massive Siedlungspolitik Ma-
rokkos ließen sich seit den 80er-Jahren viele Marokkanerinnen und Marokkaner
in dieser Region nieder. Seit Ende der spanischen Kolonialherrschaft gab es für
die auf diesem Gebiet lebende Bevölkerung keine Volkszählung mehr. Schät-
zungen zufolge leben heute insgesamt 500 000 Menschen in dem von Marokko
verwalteten Terrain. Laut Angaben der lokalen Menschenrechtsorganisation
CODESA sollen davon circa 30 Prozent Saharauis sein. Nach Angaben der
Frente Polisario leben auf diesem Gebiet circa 180 000 Saharauis und 400 000
Marokkaner. Die Frente Polisario schätzt, dass 80 Prozent der Saharauis arbeits-
los sind. 2010 protestierten mehrere Tausend Saharauis im Camp Gdim Izik für
mehr soziale Gerechtigkeit.

Die restlichen 15 Prozent im Osten der Westsahara werden von der Frente Poli-
sario kontrolliert, die schätzt, dass hier circa 30 000 bis 40 000 Menschen leben.

Der größte Teil der Saharauis lebt seit mittlerweile 37 Jahren außerhalb der
Westsahara in fünf Flüchtlingslagern in der Nähe der algerischen Stadt Tindouf.
Über die Anzahl der in den Flüchtlingslagern lebenden Personen herrscht große
Unsicherheit. Es wird von 90 000 bis 160 000 Personen gesprochen, wobei die
deutsche Botschaft in Rabat von 100 000 und der UNHCR von 116 413 Flücht-
lingen ausgehen. Die Frente Polisario und die algerische Regierung sprechen
sich bislang gegen eine Zählung durch den UNHCR aus. Das Flüchtlingslager in
Tindouf gehört de jure zum algerischen Staatsgebiet, de facto überlässt die alge-
rische Regierung jedoch die Kontrolle und die Verwaltung der Frente Polisario.
Die Flüchtlinge organisieren sich demokratisch in Lagerparlamenten mit ge-
wählten Bürgermeistern und Gouverneuren. Sie haben mittlerweile eine rudi-
mentäre Infrastruktur angelegt sowie Bildungs- und Gesundheitsdienste einge-
richtet. Die Zivilgesellschaft in den Lagern ist sehr aktiv und Frauen nehmen
eine wichtige Rolle in der Gesellschaft sowie in der Verwaltung ein. Die Alpha-

betisierungsrate der Frauen soll bei knapp 95 Prozent liegen. Die Verteilung der
Hilfsgüter des UNHCR erfolgt zu 100 Prozent über saharauische Frauen.

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1991 vermittelten die Vereinten Nationen einen Waffenstillstand zwischen Ma-
rokko und der Frente Polisario. Die eingerichtete VN-Mission MINURSO
wurde mit zwei Aufgaben betraut; 1. den Waffenstillstand zu überwachen und
2. das zwischen Marokko und der Frente Polisario vereinbarte Referendum zu
organisieren und durchzuführen. Das Referendum sollte über den zukünftigen
rechtlichen Status des Gebietes entscheiden. Bisher hat dieses in der VN-Reso-
lution 690 vereinbarte Referendum – trotz zahlreicher internationaler Vermitt-
lungsversuche – aber nicht stattgefunden. Grund dafür sind Streitigkeiten zwi-
schen Marokko und der Frente Polisario über die Modalitäten der Durchfüh-
rung, nämlich die Fragen, wer abstimmungsberechtigt ist und über welche Mög-
lichkeiten der Selbstbestimmung (Integration, Unabhängigkeit, Autonomie)
abgestimmt werden soll. International vermittelte Verhandlungen zwischen den
Konfliktparteien wurden in den vergangenen Jahren immer wieder ergebnislos
abgebrochen. Die Frente Polisario erhofft sich durch die Einsetzung des Leiters
der VN-Mission für die Westsahara MINURSO, Wolfgang Weisbrod-Weber,
und des VN-Sonderberichterstatters für die Westsahara, Christopher Ross,
neuen Schwung. Der völkerrechtliche Status der Westsahara ist somit seit über
30 Jahren umstritten. Der Auftrag von MINURSO ist jedoch klar: Ein Referen-
dum scheint die einzige richtige Lösung, um der Beilegung des Konfliktes einen
Schritt näherzukommen. Die Group of Friends of Western Sahara der VN hat
zur Aufgabe, über die mögliche Ausgestaltung eines Referendums zu beraten.
Die Gruppe entscheidet selbst über ihre Zusammensetzung. Bislang ist unter ih-
ren Mitgliedern kein afrikanisches Land. Die Gruppe setzt sich aus Frankreich,
Russland, Spanien, Großbritannien und den USA zusammen.

Die Interessen am Status des westsaharauischen Gebietes variieren stark und
sind selbst in der Europäischen Union gespalten. Die Frente Polisario favorisiert
einen unabhängigen Staat. Diese Forderung wird von Algerien unterstützt. Ma-
rokko hingegen erkennt die Polisario nicht an, betrachtet das Gebiet der West-
sahara als Teil seines Staatsgebietes und möchte es als autonome Region in sein
Staatsgebiet eingliedern, wobei es regelmäßig auf die hindernde Rolle Algeriens
in diesem Konflikt hinweist. Frankreich befürwortet eine Autonomieregelung
unter marokkanischer Souveränität. Die USA halten eine Unabhängigkeit der
Westsahara für unrealistisch und sprechen sich daher ebenfalls für eine Autono-
mieregelung aus. Die ehemalige Kolonialmacht Spanien verhält sich vorsichtig,
scheint aber einer Unabhängigkeit inzwischen ablehnend gegenüberzustehen.
Auch die deutsche Bundesregierung verhält sich bilateral wie auch im Rahmen
der EU zurückhaltend.

Unter den ungeklärten völkerrechtlichen und politischen Umständen leidet be-
sonders die Bevölkerung der Saharauis. Die Menschenrechtslage in der marok-
kanisch verwalteten Region und die humanitäre Situation in den algerischen
Flüchtlingslagern sind prekär. Sowohl die Berichte von internationalen Men-
schenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International,
der Bericht des VN-Sonderberichterstatters über Folter vom Februar 2013 und
die vorläufigen Beobachtungen der internationalen Delegation des Robert F.
Kennedy Center for Justice & Human Rights als auch die Darstellungen lokaler
Organisationen beklagten unlängst eine weitere Verschlechterung der ohnehin
schon schwierigen Menschenrechtssituation. Die jüngsten Empfehlungen im
Rahmen des Universal Periodic Review (UPR, Kontrollverfahren des VN-Men-
schenrechtsrates) im Mai 2012 fordern speziell die Einhaltung der Menschen-
rechte in der Westsahara. Ebenfalls im Mai 2012 entzog die marokkanische Re-
gierung dem Sonderbeauftragten der VN, Christopher Ross, das Vertrauen, weil
sie seinen Bericht an den VN-Sicherheitsrat für „unausgewogen und einseitig“
hielt. 2011 besuchte eine Delegation des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages die Flüchtlingsdörfer und das Ge-
biet der Westsahara.

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Die kürzlich vorgenommenen positiven Änderungen in der marokkanischen
Verfassung, die die Kriminalisierung von Folter, willkürlicher Verhaftung und
Verschwindenlassen sowie die Gleichstellung der Geschlechter und die Mei-
nungsfreiheit beinhalten, sind zu begrüßen. Ebenfalls ist die Einsetzung des ma-
rokkanischen Nationalen Menschenrechtsrates, in dem insgesamt 30 Mitglieder
des Parlaments, der Zivilgesellschaft und Religionsvertreter sitzen, positiv an-
zuerkennen. Der CNDH arbeitet seit 2011 auch in zwei regionalen Kommissio-
nen in Laayoune und Dakhla in der Westsahara. Der CNDH ist eigentlich unab-
hängig von der Regierung und erarbeitet regelmäßig Berichte zur Menschen-
rechtssituation in der Westsahara. Allerdings gibt es zahlreiche Probleme und
Hindernisse, die diese Unabhängigkeit in Frage stellen, zum Beispiel unter-
schiedliche Auffassungen darüber, wie Menschenrechte definiert werden.

In der Praxis sind jedoch besonders in dem marokkanisch verwalteten Gebiet
das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Recht auf ein faires
Verfahren, das Folterverbot, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und
das Recht auf freie Meinungsäußerung der saharauischen Bevölkerung einge-
schränkt. Auch kommt es immer wieder zu gesellschaftlichen Spannungen zwi-
schen Saharauis und Marokkanern. Viele Saharauis sowie internationale Men-
schenrechtsorganisationen sprechen von einem Klima der Angst. Das Recht auf
Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ist im Hinblick auf poli-
tisch brisante Themen in der Westsahara (und in Marokko) stark eingeschränkt.
Zu kritischen Themen gehören Äußerungen zum Status der Westsahara, zur ter-
ritorialen Integrität Marokkos, zum Selbstbestimmungsrecht der Menschen auf
dem Gebiet der Westsahara sowie Kritik an der Regierung, der Monarchie und
dem Islam. Journalistinnen und Journalisten sowie Menschenrechtsaktivistin-
nen und -aktivisten werden bedroht, von Sicherheitskräften überwacht, einge-
schüchtert, unter dubiosen Vorwänden strafrechtlich verfolgt oder wegen angeb-
licher Vergehen willkürlich verhaftet. Die marokkanische Regierung bestreitet,
dass es politische Gefangene gibt. Lokale Menschenrechtsorganisationen spre-
chen hingegen bei 85 Inhaftierten von politischen Gefangenen. Bei friedlichen
Protesten gehen Sicherheitskräfte häufig gewaltsam gegen die Demonstrieren-
den vor und es kommt zu Verhaftungen. Viele Häftlinge bleiben im Anschluss
länger als die gesetzlich erlaubten zwölf Tage (vor allem bei Terrorverdacht),
meist ohne Kontakt zur Außenwelt, inhaftiert. Zahlreichen Berichten nationaler
und internationaler Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch
und Amnesty International zufolge kommt es in Gefängnissen immer wieder zu
Folter und anderweitigen Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte. Die Be-
richte über Folter verdichten sich besonders im Falle von Häftlingen im Gefäng-
nis von El-Aaiun (Laayoune), dem einzigen Gefängnis auf dem Gebiet der
Westsahara. Hier sind seit 2008 Gefängnisbesuche für Menschenrechtsorganisa-
tionen verboten. Obwohl es zahlreiche Beschwerden über die Verhältnisse im
Gefängnis von El-Aaiun gab, stattete der CNDH dem Gefängnis 2011 und 2012
keine Besuche ab. Dies steht im starken Widerspruch zu Marokkos Rolle bei
den VN, wo es die Erklärung über den Schutz von Menschenrechtsaktivitäten
selbst aktiv mit eingebracht hat. Die Prozesse, besonders bei politisch motivier-
ten Anklagen, entsprechen nicht den internationalen Standards für faire Ge-
richtsverfahren und medizinische Gutachten bei Vorwürfen der Folter werden
häufig nicht eingeholt. Die Prozesstage für die vor dem Militärgericht Rabat 24
inhaftierten Saharauis, die im November 2010 nach den Protesten im Camp
Gdim Izik festgenommen wurden, wurde mehrere Male vertagt. Im Februar
2013 wurde gegen acht Saharauis eine lebenslange Haftstrafte und gegen die
übrigen Haftstrafen von bis zu 30 Jahren verhängt.

Die Straflosigkeit für die für schwere Menschenrechtsverletzungen an der saha-
rauischen Bevölkerung Verantwortlichen stellt ein großes Problem dar. Nach
Angaben der Staatsanwaltschaft in El-Aaiun konnte in den letzten fünf Jahren

nur gegen einen staatlichen Akteur erfolgreich strafrechtlich vorgegangen wer-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/12822

den. Dies, obwohl es zahlreiche Berichte über Folterungen und Misshandlungen
durch staatliche Sicherheitskräfte gibt. Die Straflosigkeit bezieht sich auch auf
Fälle von verschwundenen Personen in den letzten 50 Jahren. Die Wahrheits-
kommission (Instance Equité et Réconciliation) ist zwar mit der Aufgabe be-
traut, Fälle verschwundener Personen und willkürlicher Verhaftungen von 1956
bis 1999 zu untersuchen und Entschädigungen für die Opfer zu empfehlen.
Doch ihre Arbeit, dokumentiert in einem Bericht 2010, erscheint mangelhaft
und die wenigen Empfehlungen, zum Beispiel Gesetzesreformen oder Entschä-
digungen für die Familien der Opfer, werden bisher von den Behörden nur teil-
weise oder gar nicht umgesetzt. Die Wahrheitskommission beendete mit Ab-
gabe des Berichts ihre Aktivitäten.

Des Weiteren können sich einige saharauische Menschenrechtsorganisationen
nicht offiziell registrieren oder wurden von der marokkanischen Regierung ver-
boten – so zum Beispiel die Menschenrechtsorganisation Colectivo de defenso-
res de los Derechos Humanos Saharauis (CODESA), die Asociación Saharaui
de Victimas de violaciones graves de Derechos Humanos comitedas por el es-
tado marroqui (ASVDH) und das Comité de defensa del derecho a la autodeter-
minación del pueblo del Sahara Occidental (CODAPSO). Dies hindert sie an ei-
ner effektiven Ausübung ihrer Tätigkeit, da sie kein reguläres Büro eröffnen
können und alle Aktivitäten mehr oder weniger illegal sind.

Zur Lage in den Flüchtlingsdörfern stehen nur wenige verifizierbare Informatio-
nen zur Verfügung. Allerdings ist die humanitäre Situation prekär. Die Bewoh-
nerinnen und Bewohner sind völlig abhängig von externer, vor allem europäi-
scher Unterstützung. Nach Angaben der Frente Polisario ist seit 2011 besonders
die Hilfe spanischer Kommunen und regionaler Regierungen aufgrund der Fi-
nanzkrise um fast 70 Prozent geschrumpft. Besonders die extreme Hitze (Tem-
peraturen bis zu 47 Grad Celsius), häufige Sandstürme, die rudimentäre Strom-
und Abwasserversorgung und die knappen Lebensmittelrationen, welche mitt-
lerweile zu gesundheitlichen Problemen besonders bei den Frauen in Form von
Eisenmangel geführt haben, bereiten den Flüchtlingen Schwierigkeiten. Die
vom UNHCR zur Verfügung gestellten Mittel reichen nicht für eine adäquate
Versorgung der Bevölkerung aus. In den seit mehr als 37 Jahren existierenden
Flüchtlingslagern leben mittlerweile bereits die zweite und dritte Generation,
also die Nachfahren der ursprünglichen Flüchtlinge. Die fehlenden oder nur
sehr eingeschränkten Chancen und Alternativen in Bezug auf Bildung, Arbeit
und die individuellen Lebensperspektiven besonders für die junge Generation
bereiten den Flüchtlingen große Sorgen. Dies birgt auch ein gewisses Unruhe-
und Radikalisierungspotential unter den Jugendlichen.

Über gegenwärtige Menschenrechtsverletzungen der Saharauis an ihrer eigenen
Bevölkerung oder über Unterdrückungsmechanismen gegenüber politischen Geg-
nern gibt es keine Informationen. Bisher wurden von Seiten der Frente Polisario
allerdings keinerlei Maßnahmen unternommen, die Straflosigkeit für Men-
schenrechtsverletzungen in den 70er- und 80er-Jahren in den Tindouf-Lagern zu
verfolgen.

Zur Lage in dem von der Frente Polisario verwalteten östlichen Gebiet der
Westsahara existieren ebenfalls so gut wie keine Informationen. Das Gebiet
wird hauptsächlich von der nomadischen Bevölkerung bewohnt. In den drei
größeren Siedlungen (Tifariti, Mehaires und Mijek) gibt es eine rudimentäre In-
frastruktur mit jeweils einem Schulgebäude, einer Gesundheitsstation und Ver-
waltungsgebäuden. Die Siedlungen werden, wie auch die Flüchtlingslager, von
gewählten Bürgermeisterinnen bzw. Bürgermeistern verwaltet. Die Versorgung
der Menschen erfolgt durch die Hilfsgüter externer Geber über die Flüchtlings-
lager, die über unbefestigte Straßen in die drei Siedlungen transportiert werden.
Die Menschen, vor allem diejenigen, die sich nomadisch bewegen, sind auf-

grund der zahlreichen Landminen, die sich immer noch im Bereich des BERMS

Drucksache 17/12822 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
befinden, gefährdet. Zwischen dem östlichen und dem marokkanisch verwalte-
ten Gebiet besteht keinerlei Grenzverkehr.

Die EU profitiert von den reichen natürlichen Ressourcen der Westsahara, be-
sonders von den Phosphat- und Fischvorkommen. Auch in der Westsahara ge-
zogene Tomaten der Marken Azura und Idyl werden auf dem europäischen
Markt verkauft. Die EU kooperiert mit Marokko als strategischem Partner bei
der Abwehr von afrikanischen Flüchtlingen. Bis 2011 unterhielten die EU und
Marokko ein Fischereiabkommen, das Schiffen aus den EU-Mitgliedstaaten er-
laubte, in den marokkanischen Hoheitsgewässern und dabei insbesondere in den
Gewässern vor der Westsahara zu fischen. Das Europäische Parlament verlän-
gerte das umstrittene Fischereiabkommen im Dezember 2011 aufgrund der völ-
kerrechtlichen Problematik nicht. Die USA und Frankreich haben mit Marokko
derweil schon Verträge über die Untersuchung und Verwertung von Ölvorkom-
men auf dem Gebiet der Westsahara geschlossen. Des Weiteren erhofft sich in
jüngster Zeit Marokko Einnahmen durch den Export von aus erneuerbaren Ener-
gien gewonnenem Strom nach Europa. Die marokkanische Energieministerin
kündigte 2011 an, bis 2020 an fünf Standorten Solarkraftwerke, worunter eines
auch in El-Aaiun sein soll, zu errichten. Im Januar 2012 gab die Siemens Ak-
tiengesellschaft bekannt, dass es im Rahmen eines Vertrags mit einem marokka-
nischen Unternehmen insgesamt 44 Windenergieanlagen unter anderem für das
Windkraftwerk Foum El Oued liefern wird. Foum El Oued befindet sich auf
westsaharauischem Territorium. Ein solches Engagement deutscher oder euro-
päischer Unternehmen ist höchstproblematisch. Die drei Schwerpunkte der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit Marokko sind die Förderung einer
nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, die Nutzung und das Management von
Wasserressourcen sowie der Bereich Umwelt und Klimawandel, einschließlich
der Förderung erneuerbarer Energien. In diesem Rahmen hat die Deutsche Ge-
sellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH bereits gemeinsam
mit dem marokkanischen Zentrum für Erneuerbare Energien im Rahmen des
TERNA-Programmes (Technical Expertise for Renewable Energy Application)
Messungen der Windstärken in der Westsahara zur Vorbereitung der Nutzung
der Windkraft und des Baus einer Hochspannungsstromleitung nach Westeu-
ropa vorgenommen. Im APSM-Projekt (Accompagnement du Plan Solaire Ma-
rocain) unterstützt die GIZ den Ausbau der Solarenergieförderung, unter ande-
rem durch den Bau von fünf Solarkraftwerken. Drei dieser Solarkraftwerke sol-
len dabei auf dem Gebiet der Westsahara liegen. In der Projektbeschreibung ist
dabei weder das besetzte Gebiet der Westsahara auf der Planungslandkarte ver-
merkt, noch wird auf den völkerrechtlichen Status Bezug genommen.

Die natürlichen Schätze gehören jedoch nicht Marokko, sondern den Saharauis.
Abgeleitet aus dem Recht auf Selbstbestimmung besitzen alle Völker auch das
Recht, ihre eigene ökonomische, kulturelle und soziale Entwicklung zu fördern,
was die Freiheit einschließt, über die Bodenschätze und natürlichen Ressourcen
auf ihrem Gebiet selbst zu verfügen (UN General Assembly resolution 1803
(XVII) of 14 December 1962, Permanent sovereignty over natural resources).
Artikel 73 der VN-Charta besagt zudem, dass die ökonomische Ausbeutung von
natürlichen Ressourcen in nicht selbstbestimmten Gebieten nur mit der Zustim-
mung der lokalen Bevölkerung gestattet werden kann und in Übereinstimmung
mit deren wirtschaftlichen Interessen erfolgen muss. Beides ist in dem von Ma-
rokko besetzten Gebiet der Westsahara nicht der Fall. Die Nutzung der natürli-
chen Ressourcen geschieht weder mit Zustimmung der saharauischen Bevölke-
rung, noch kommt sie ihr zugute. Solange der völkerrechtswidrige Status der
Westsahara nicht geklärt ist, bleibt dieser Konflikt ein Hemmschuh für die wei-
tere Entwicklung der gesamten Region.

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