BT-Drucksache 17/12539

zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Markus Kurth, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksachen 17/2376, 17/5323 - Personenzentrierte und ganzheitliche Reform des Betreuungsrechts

Vom 27. Februar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12539
17. Wahlperiode 27. 02. 2013

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Markus Kurth, Jerzy Montag, Maria
Klein-Schmeink, Britta Haßelmann, Volker Beck (Köln), Katrin Göring-Eckardt,
Memet Kilic, Beate Müller-Gemmeke, Dr. Konstantin von Notz, Brigitte Pothmer,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Markus Kurth, Volker Beck (Köln), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksachen 17/2376, 17/5323 –

Personenzentrierte und ganzheitliche Reform des Betreuungsrechts

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In den vergangenen Jahren haben sich die Voraussetzungen für die Zurver-
fügungstellung rechtlicher Assistenz bzw. Betreuung entscheidend verändert.
So besteht seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)
im März 2009 etwa gemäß Artikel 12 ein Menschenrecht auf „Gleiche Aner-
kennung vor dem Recht“, gemäß Artikel 13 ein Menschenrecht auf „Zugang
zur Justiz“ sowie gemäß Artikel 14 ein Menschenrecht auf „Freiheit und
Sicherheit der Person“. Sowohl die rechtlichen Regelungen als auch die Praxis
des deutschen Betreuungsrechts müssen sich diesen Anforderungen stellen. Die
im Betreuungswesen tätigen Personen und Berufsgruppen müssen entspre-
chend hohe fachlich-qualitative Standards erfüllen. Zudem wird auf Grund
demographischer und gesellschaftlicher Entwicklungen auch künftig die Zahl
der auf rechtliche Assistenz bzw. Betreuung angewiesenen Menschen steigen.

Eine Debatte um eine personenzentrierte und ganzheitliche Reform des Betreu-
ungsrechts muss zwar auch die finanziellen Gesichtspunkte in den Blick neh-
men. Diese stellen neben Fragen der individuellen Bedürfnisse der auf recht-
liche Assistenz bzw. Betreuung Angewiesenen, der Betreuungsqualität sowie
des Zusammenwirkens sozialer und rechtlicher Leistungen jedoch nur einen

Aspekt unter vielen dar.

Es ist richtig, rechtliche Betreuung dort zu vermeiden, wo andere Hilfen die be-
darfsgerechte Form der Unterstützung sind. Materielle und verfahrensrechtliche
Leistungsverbesserungen im Sozialrecht sind hier genauso vonnöten wie eine
leistungsträgerübergreifende Zusammenarbeit in Arbeitsgemeinschaften. Zwar
kann die Stärkung der Stellung bzw. der Aufgaben der Betreuungsbehörden in

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diesem Sinne durchaus sinnvoll sein. Ohne die Aufstockung finanzieller wie per-
soneller Ressourcen ist dieser Ansatz allerdings kontraproduktiv.

Bei der Umsetzung des sogenannten Erforderlichkeitsgrundsatzes geht es
neben der Betreuungsvermeidung aber auch zwingend um die nach § 1901 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) bestehende Verpflichtung der rechtlichen Be-
treuerinnen und Betreuer, vorranging Selbstbestimmung zu ermöglichen, bevor
stellvertretende Entscheidungen getroffen werden. So stellen die Berufsver-
bände in ihrer verbandlichen Praxis fest, dass Zahl und Ausmaß der grund-
rechtsrelevanten rechtlich stellvertretenden Handlungen bei qualifizierten Be-
treuerinnen und Betreuern signifikant niedriger sind als bei solchen mit
geringerer Qualifikation. Eine gesetzliche Festschreibung von Eignungskrite-
rien für berufliche Betreuung liegt sowohl im Interesse der Menschen mit Be-
hinderungen, als auch im Interesse der Akteure im Betreuungswesen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

Nummer I

in Zusammenarbeit mit den betroffenen Akteuren und der Wissenschaft ein
Konzept zu entwickeln, das folgende Punkte beinhaltet:

1. Entwicklung von Modellen rechtlicher Assistenz:

Durch die BRK ergeben sich neue Anforderungen an die rechtlichen Rege-
lungen und die Praxis des deutschen Betreuungsrechts. Auf dieser Grund-
lage sind Modelle rechtlicher Assistenz zu entwickeln.

2. Vermeidung von Unterbringung und Behandlung:

Die derzeitige Praxis zur Unterbringung und Behandlung ohne Einverständ-
nis oder gegen den Willen des Betroffenen muss, auch vor dem Hintergrund
der Anforderungen der BRK, grundlegend reformiert werden. Dabei gehö-
ren sowohl die Praxis zur Unterbringung und Behandlung ohne Einverständ-
nis oder gegen den Willen Betroffener auf den Prüfstand, als auch die ent-
sprechenden Regelungen im BGB und in dem Gesetz für psychisch Kranke.
Ergänzend zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Normen sind Schritte zur
Herstellung von Transparenz bei der Unterbringung und bei medizinischen
Zwangsbehandlungen erforderlich.

Nummer II

Außerdem wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzu-
legen, der folgende Punkte beinhaltet:

1. Vermeidung von ärztlichen Zwangsmaßnahmen:

Dass ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer betreuungsrechtlichen
Unterbringung nur „Ultima Ratio“, also immer nur die allerletzte Möglich-
keit, wenn keine andere, mildere Maßnahme möglich ist, sein dürfen, ist
mittlerweile gesetzlich festgeschrieben. Um solche ärztlichen Zwangsmaß-
nahmen, aber auch die Unterbringung selbst, so weitestgehend wie möglich
zu vermeiden, sind darüber hinaus tiefgreifende Veränderungen im psychia-
trischen Alltag erforderlich. Es sind Krisenhilfen als fester Bestandteil der
Versorgung erforderlich, die Unterbringungen und Zwangsbehandlungen so
oft wie möglich entbehrlich machen.

2. Soziale Bürgerrechte:

Neben zwingend notwendigen Änderungen des materiellen Rechts in den
jeweiligen Büchern des Sozialgesetzbuches (SGB) gilt es, die Verfahrens-,

Leistungs- und Partizipationsrechte der Nutzerinnen und Nutzer sozialer
Leistungen sozialgesetzbuchübergreifend zu stärken.

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3. SGB IX und Teilhabegesetz:

Das trägerübergreifende SGB IX muss im Sinne des Selbstbestimmungs-
rechts der Menschen mit Behinderung weiterentwickelt werden; ein Teilha-
beleistungsgesetz als echten Nachteilsausgleich, das unabhängig von Ein-
kommen und Vermögen gezahlt wird, ist unumgängliches Mittel zum Zweck
und muss bei jeder Weiterentwicklung mitgedacht werden .

4. Arbeitsgemeinschaften:

Betreuungsvereine und -behörden einerseits sowie Sozialleistungsträger
andererseits müssen gemeinsam in einer Art leistungsträgerübergreifendem
Fallmanagement zusammenarbeiten. Die Betreuungsgerichte sollten als
ständige Partner beteiligt sein. Nur so kann herausgefunden werden, welches
die für die Person geeignetste, d. h. angemessenste und bedarfsgerechte Lö-
sung ist. Hierfür gehören örtliche Arbeitsgemeinschaften institutionalisiert
sowie überörtliche Fragestellungen landesweit koordiniert.

5. Festschreibung gesetzlicher Kriterien:

Menschen mit hohem Unterstützungs- und Assistenzbedarf bedürfen einer
professionellen Betreuung, die nicht ohne Weiteres von Ehrenamtlichen über-
nommen werden kann. Aus diesem Grund sollten gesetzliche Mindestquali-
fikationen für rechtliche Berufsbetreuer/-innen entwickelt und eingeführt
werden.

6. Geänderte Vergütungssystematik:

Die stärkere Professionalisierung und Spezialisierung von rechtlichen Be-
treuer/-innen sollte mit einer Änderung des Vergütungsbemessungssystems
einhergehen.

Berlin, den 26. Februar 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Zu Nummer I.1 (Entwicklung von Modellen rechtlicher Assistenz)

Artikel 12 Absatz 2 BRK besagt, „dass Menschen mit Behinderungen in allen
Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit
genießen“. Die Vertragsstaaten müssen ferner geeignete Maßnahmen treffen,
„um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaf-
fen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenen-
falls benötigen (vgl. Artikel 12 Absatz 3 BRK). Der Artikel 13 BRK legt dazu
ein Modell rechtlicher Assistenz nahe. Da auch Modelle von rechtlicher Assis-
tenz die Gefahr von Einschränkungen in der Lebensführung bergen, sieht die
Konvention vor, dass für Maßnahmen, die die Ausübung der Rechts- und
Handlungsfähigkeit betreffen, „geeignete und wirksame Sicherungen vorgese-
hen werden, um Missbräuche zu verhindern“. Diese sollen gewährleisten, dass
„die Rechte, der Wille und die Präferenzen der betreffenden Person geachtet
werden, es nicht zu Interessenkonflikten und missbräuchlicher Einflussnahme
kommt, dass die Maßnahmen verhältnismäßig und auf die Umstände der Per-
son zugeschnitten sind, dass sie von möglichst kurzer Dauer sind und dass sie
einer regelmäßigen Überprüfung durch eine zuständige, unabhängige und

unparteiische Behörde oder gerichtliche Stelle unterliegen“ (vgl. Artikel 12
Absatz 3 BRK).

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Auch wenn das deutsche Betreuungsrecht nicht zuletzt mit seiner Verpflichtung
dem Wohl der Betreuten zu entsprechen (§ 1901 Absatz 2 BGB) durchaus fort-
schrittlich ist, stellt nach Angaben des neuseeländischen Berichterstatters auf
der BRK-Vertragsstaatenkonferenz im September 2009 in New York die
Umsetzung des Artikels 12 BRK die größte Herausforderung der BRK dar,
„denn kein Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen war bisher in der Lage solche
Unterstützungssysteme einzurichten“.

Auch der Leiter der UN-Monitoringstelle, Dr. Valentin Aichele, betont, dass die
Konvention auf das Modell der „unterstützten Entscheidungsfindung“ setze.
Der Staat habe danach zu gewährleisten, dass Menschen mit eingeschränkter
Entscheidungskompetenz die notwendige Unterstützung und Hilfe erhielten,
um selbst zu handeln und entscheiden zu können.

Zu Nummer I.2 (Vermeidung von Unterbringung und Behandlung)

Artikel 14 BRK besagt, dass „Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt
mit anderen die Freiheit nicht rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird, dass
jede Freiheitsentziehung im Einklang mit dem Gesetz erfolgt und dass das Vor-
liegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt“.
Gemäß Artikel 17 der Konvention hat jeder Mensch mit Behinderung „gleich-
berechtigt mit anderen das Recht auf Achtung seiner körperlichen und seeli-
schen Unversehrtheit“. Je nach Landkreis bzw. kreisfreier Stadt kommt es in
Deutschland zu ganz unterschiedlicher Unterbringungshäufigkeit. Die Gründe
hierfür sind vielfältig, jedoch zum heutigen Zeitpunkt nicht abschließend defi-
nierbar.

Auch die Verbände des Kontaktgespräches Psychiatrie zum Übereinkommen
der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen stel-
len fest, „dass die Rechtsanwendung der verschiedenen Arten von Unterbrin-
gung und Freiheitsentzug in Deutschland vielfach nicht dem Artikel 14 ent-
spricht“. Die Vereinbarkeit der geltenden Rechtslage mit Artikel 14 BRK sei
hingegen noch zu klären.

Zu Nummer II.1 (Vermeidung von ärztlichen Zwangsmaßnahmen)

Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines öffentlichen Fachgesprächs der Bundes-
tagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 28. November 2011 mit dem
Titel „Rechte psychisch Kranker“ bewerteten ein Übermaß von Behandlung
gegen den Willen von Patientinnen und Patienten als Ergebnis unzureichend
ausgebauter ambulanter Hilfsangebote. Auch der Bedarf an Qualifizierung der
Betreuerinnen und Betreuer wurde von vielen betont. Ärztliche Zwangsmaß-
nahmen im Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung dürfen immer
nur „Ultima Ratio“ sein. Dies wurde im Januar 2013 ausdrücklich gesetzlich
geregelt (Bundestagsdrucksache 17/11513). In einem Änderungsantrag fordert
die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weitergehende Ein-
schränkungen und ein höheres Schutzniveau für Betreute (Bundestagsdruck-
sache 17/12086). Um Behandlungen gegen den Willen der Betroffenen möglichst
entbehrlich zu machen, muss die Versorgungssituation entscheidend verbessert
werden und es bedarf weiterer ergänzender Maßnahmen, die von der Bundes-
tagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch in einem Entschließungsantrag
gefordert wurden (Bundestagsdrucksache 17/12091). Der Willen der psychisch
kranken Menschen ist so weitgehend wie möglich zu berücksichtigen. Dazu
schlagen wir den Abschluss von Behandlungsvereinbarungen als zweiseitigen
Vertrag zwischen Patient/-innen und Behandler/-innen vor. Krankenhäuser müs-
sen finanziell und personell in die Lage versetzt werden, patientenorientierten
Behandlungsanforderungen zu genügen. Wichtig sind auch Nachsorgeangebote

unter Einbeziehung von Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen psychisch

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/12539

Kranker, die darauf ausgerichtet sind, das Auftreten einer psychiatrischen Krise
frühzeitig zu erkennen.

Zu Nummer II.2 (Soziale Bürgerrechte)

Das Sozialrecht ist sowohl auf den Schutz von Individuen gerichtet als auch auf
die Prinzipien der Selbstbestimmung, Partizipation und Teilhabe. Eine nicht
durchgängig auf Partizipation ausgerichtete Sozialgesetzgebung, eine restrik-
tive Rechtsumsetzung und mangelnde Kooperation der Sozialleistungsträger
sowie eine enorme Komplexität des Sozialrechts verhindern allerdings eine auf
die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer ausgerichtete Inanspruchnahme
sozialer Leistungen. Statt im Interesse der anspruchsberechtigten Personen zu-
sammenzuarbeiten und ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen, gibt es
immer wieder Sozialleistungsträger, die offenbar vorrangig darauf bedacht
sind, ihren jeweils eigenen Haushalt möglichst nicht zu belasten. Zu dieser Ein-
schätzung kommt auch der Vorsitzende Richter des Bundessozialgerichts,
Dr. Josef Berchtold, anlässlich eines Urteils von Mai 2011 zum Persönlichen
Budget (Az.: B 5 R 54/10 R). So geht er davon aus, dass ein wahrer „Krieg ei-
ner gegen den anderen, innerhalb des Staatswesens“ bestehe. Auch Betreuerin-
nen und Betreuer wissen um diese Praxis, wenn sie etwa bei Fragen an das Job-
center eine kostenpflichtige Telefonhotline anrufen müssen, ihnen sowohl bei
der Suche nach assistierenden Diensten als auch bei der Antragstellung nicht
adäquat geholfen wird und ihren zu Betreuenden aufgrund einer zögerlichen
Bearbeitung des Antrages auf eine Anschlussbehandlung die gesundheitliche
Verschlechterung droht. Die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hat einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, der die Stärkung der
Verfahrens-, Leistungs- und Partizipationsrechte der Nutzerinnen und Nutzer
sozialer Leistungen sowie die Steigerung der Effektivität, Effizienz sowie der
Legitimationsbasis des sozialen Rechtsstaats zum Ziel hat (Bundestagsdruck-
sache 17/7032).

Zu Nummer II.3 (SGB IX und Teilhabegesetz)

Um der Zersplitterung im Leistungsrecht für Menschen mit Behinderung zu be-
gegnen und das Handeln der Rehabilitationsträger stärker aufeinander abzu-
stimmen, wurde vor zehn Jahren das SGB IX geschaffen. Leistungen zur Teil-
habe sollten personenzentriert und aus einer Hand gewährt werden. Auch wenn
das SGB IX für viele Menschen mit Behinderung erkennbare Fortschritte und
Vereinfachungen gebracht hat, wenden zu viele Rehabilitationsträger die Vor-
schriften des SGB IX nicht oder nur unvollständig an. Das Persönliche Budget
wird zudem nur in kleiner Zahl als trägerübergreifende Leistung gewährt, als
Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben jenseits der Institution Werkstatt für be-
hinderte Menschen ist es lediglich in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen flä-
chendeckend verfügbar. Die Beratungsstrukturen sind weder im erforderlichen
Maße noch in zufriedenstellender Qualität ausgebaut. Die Bundestagsfraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat einen Antrag mit dem Ziel erarbeitet, das
SGB IX im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Menschen mit Behinde-
rung weiterzuentwickeln (Bundestagsdrucksache 17/7951). Die beste Lösung
zur Organisation eines ebenso wirksamen wie effizienten Unterstützungsbe-
darfs ist ein einheitliches Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen,
das den Nachteilsausgleich als Sozialleistungsprinzip verfolgt und in dem
Strukturverantwortung, Kontrolle des Leistungsgeschehens und Finanzierung
in einer Hand liegen. Bis eine umfassende Bündelung aller Leistungen in Form
eines Bundesleistungsgesetzes entwickelt ist, müssen in konkreten Schritten
abgestuft im Rahmen der bestehenden Systeme die Voraussetzungen für eine
einheitliche Leistungserbringung geschaffen werden.

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Zu Nummer II.4 (Arbeitsgemeinschaften)

Die schwarz-gelbe Bundesregierung teilt in der Antwort auf die Große Anfrage
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 17/5323)
mit, dass ihrer Auffassung nach das deutsche Betreuungsrecht mit der BRK im
Einklang stehe. Zwar sei dem Betreuungsrecht ein Spannungsverhältnis zwi-
schen Selbstbestimmung und Fürsorge immanent. Allein die konsequente An-
wendung des Erforderlichkeitsgrundsatzes, wonach eine rechtliche Betreuung
immer nur dann eingerichtet würde, sofern die Angelegenheiten des Volljähri-
gen nicht ebenso gut durch andere Hilfen besorgt werden kann, garantiere je-
doch die Übereinstimmung von deutschem und internationalem Recht. Die
Bundesregierung unterliegt hier einem monokausalen Erklärungszusammen-
hang, der weniger die Menschen mit ihrem Selbstbestimmungs- und Teilhabe-
recht in den Vordergrund stellt, als vielmehr die fiskalischen Gründe, die
schließlich einseitig die Betreuungsvermeidung zum Ziel haben. Bei der Frage,
ob rechtliche Betreuungen eingerichtet oder ob vielmehr soziale Hilfen zur Ver-
fügung gestellt werden müssen, kann es indes stets nur um die für die Person
geeignetste, d. h. angemessenste und bedarfsgerechte Lösung gehen. Zur Be-
antwortung eben dieser Frage können örtliche und überörtliche Arbeitsgemein-
schaften durch ihre Netzwerkarbeit und den interdisziplinären Erfahrungsaus-
tausch einen entscheidenden Beitrag leisten. Hierfür müssen Betreuungsvereine
und -behörden einerseits sowie Sozialleistungsträger andererseits gemeinsam
in einer Art leistungsträgerübergreifendem Fallmanagement zusammenarbei-
ten. Die Betreuungsgerichte sollten als ständige Partner beteiligt sein. Bisher
sind Bestand und Qualität von örtlichen und überörtlichen Arbeitsgemeinschaf-
ten allerdings regional sehr unterschiedlich. Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe
im Bundesministerium der Justiz hat in ihrem Abschlussbericht vom 20. Okto-
ber 2011 daher konsequenterweise eine Institutionalisierung örtlicher Arbeits-
gemeinschaften gefordert sowie an die Länder appelliert, „überörtliche Frage-
stellungen im Betreuungswesen durch landesweite Arbeitsgemeinschaften zu
behandeln und zu koordinieren“.

Zu Nummer II.5 (Festschreibung gesetzlicher Kriterien)

Das Betreuungsrecht befindet sich in einem Spannungsverhältnis zwischen
dem Vorrangprinzip (ehrenamtlicher Betreuung) sowie einem sich immer weiter
professionalisierenden Bereich beruflicher Betreuung.

Menschen mit einem hohen Unterstützungs- und Assistenzbedarf brauchen in
einem besonderen Maße eine professionelle Betreuung, die nicht ohne Weiteres
von Ehrenamtlichen übernommen werden kann bzw. sollte. Aus diesem Grund
sollten gesetzliche Mindestqualifikationen für Berufsbetreuer/-innen für die not-
wendige Qualitätssicherung sorgen. Kernkompetenz der Berufsbetreuer/-innen
ist es, zu wissen, was rechtliche Stellvertretung bzw. Eingriffe in Grundrechte
der Betreuten sind und wie diese so weit wie möglich durch Beratung und
Unterstützung vermieden werden können. Die Bundesregierung konzentriert
sich bei ihren Ausführungen zum Erforderlichkeitsprinzip hauptsächlich auf
die Frage, wie rechtliche Betreuungen im Vorfeld vermieden werden können.
Im Sinne des Erforderlichkeitsprinzips haben Betreuer/-innen aber auch zu prü-
fen, ob und inwiefern Eingriffe in die Grundrechte der oder des Betroffenen
erforderlich sind. Bevor stellvertretende Entscheidungen für die Betroffenen
getroffen werden, haben Betreuer/-innen ihnen vorrangig Selbstbestimmung zu
ermöglichen. Betreuer/-innen haben die Aufgabe, im Sinne des Grundsatzes
der Verhältnismäßigkeit, ständig zu prüfen, ob ein Grundrechtseingriff zur
Wahrung der Rechte oder zur Erfüllung der Pflichten des Betreuten notwendig
und zulässig ist. Sie müssen sich ein umfassendes Bild von der Lage und den
Wünschen des Betroffenen machen, um das notwendige Maß des Grundrecht-

seingriffs abschätzen zu können. Rechtliche Betreuer/-innen müssen der Garant
dafür sein, dass die Grundrechte der Betroffenen gewahrt werden und Dritte

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nicht in ihre Rechte eingreifen. Hierfür brauchen Betreuer/-innen eine Exper-
tise und Ausbildung, an die gewisse Anforderungen zu stellen sind.

Verbindliche Standards und Eignungskriterien gibt es dennoch bisher nicht,
obwohl die Anforderungen an die im Betreuungswesen Tätigen in den letzten
Jahren immer weiter angestiegen sind.

Die Bundesregierung betont an mehreren Stellen ihrer Antwort auf die Große
Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/5323), dass die hohen praktischen An-
forderungen an das Betreuungsrecht durch die BRK nicht weniger geworden
sind. Dennoch hält sie die Einführung einer gesetzlichen Mindestqualifikation
von Berufsbetreuer/-innen für nicht mit der Grundkonzeption des Betreuungs-
rechts vereinbar (Antwort zu Frage 39). Zwar hänge die Geeignetheit eines Be-
treuers auch von dessen Fähigkeiten und Fachkenntnissen ab. Entscheidend
seien allerdings dessen persönliche Eigenschaften (Antwort zu Frage 23).

Damit verkennt die Bundesregierung die hohe grundrechtliche Relevanz der
von Betreuer/-innen getätigten Entscheidungen, für die gewisse Fachkenntnisse
und Fähigkeiten von Bedeutung sind. So kommt beispielsweise insbesondere in
Unterbringungsangelegenheiten dem rechtlichen Betreuer bzw. der rechtlichen
Betreuerin eine wesentliche Rolle bei der Wahrung des Verhältnismäßigkeits-
grundsatzes zu (Antwort zu Frage 5).

Berufsqualifizierende verbindliche Standards sollten unter Einbeziehung der
Berufsverbände erarbeitet und gesetzlich festgeschrieben werden, um eine zu-
verlässige und verantwortliche berufliche Betreuung sicherzustellen. Darüber
hinaus wäre die Einführung von Zulassungskriterien auch aus Wettbewerbs-
gründen von Vorteil, da ein Großteil der Betreuer/-innen nicht in Verbänden
organisiert ist.

Zu Nummer II.6 (Geänderte Vergütungssystematik)

Eine stärkere Professionalisierung und Spezialisierung sollte sich konsequenter-
weise in einem neuen Vergütungsbemessungssystem widerspiegeln. Die unter
Rot-Grün eingeführte Mischkalkulation (Pauschalvergütung) lässt schon heute
eine zu geringe Differenzierung nach Art und Umfang der Betreuung zu. Aus
diesem Grunde steht seitens der Berufsverbände nicht nur die Auskömmlich-
keit der Vergütung seit Jahren zur Disposition.

Da die Bundesregierung einen weiteren Professionalisierungsbedarf allerdings
negiert, macht sie sich auch keine Überlegungen, das Vergütungssystem in Be-
zug auf den Grad der beruflichen Spezialisierung weiter auszudifferenzieren
(Antworten zu den Fragen 41 und 42).

Damit Betreuer/-innen ihren Aufgaben adäquat nachkommen können, muss
sich ihre Vergütung auch nach der Schwierigkeit des jeweiligen Falles bemes-
sen. Hier sollten verschiedene Vergütungsstufen eingeführt werden, die nach
Fallgruppen gestaffelt sind. Auf lange Sicht kann eine Änderung des Vergü-
tungsbemessungssystems einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung von
Betreuung leisten.

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