BT-Drucksache 17/12376

Eine ausreichende Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs gewährleisten

Vom 19. Februar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12376
17. Wahlperiode 19. 02. 2013

Antrag
der Abgeordneten Katrin Kunert, Sabine Leidig, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Steffen
Bockhahn, Roland Claus, Caren Lay, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch,
Thomas Lutze, Kornelia Möller, Jens Petermann, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert,
Kersten Steinke, Sabine Stüber, Alexander Süßmair, Katrin Werner und der
Fraktion DIE LINKE.

Eine ausreichende Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs gewährleisten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist für die gesellschaftliche Ent-
wicklung in der Bundesrepublik Deutschland sowohl in sozialer als auch in
ökologischer Hinsicht von größter Bedeutung. Die Gewährleistung eines aus-
reichenden Angebotes auch im öffentlichen Personennahverkehr ist deshalb
Bestandteil der Daseinsvorsorge und im gesamtgesellschaftlichen Interesse.
Der Bund trägt hierfür auch eine finanzielle Verantwortung.

Im Vergleich zum motorisierten Individualverkehr weist der ÖPNV eine deut-
lich bessere Umweltbilanz aus, da bezogen auf die zurückgelegte Strecke des
einzelnen Fahrgasts nur ein Bruchteil der Energie und Fläche verbraucht wird.
Hinzu kommt die Möglichkeit, den ÖPNV, dort wo er elektrisch betrieben wird,
aus erneuerbaren Energien zu versorgen. Gleichzeitig kann mit einem gut funk-
tionierenden barrierefreien und bezahlbaren ÖPNV das Mobilitätsbedürfnis
aller Bürgerinnen und Bürger erfüllt werden, auch jener, die aus sozialen Grün-
den oder aus Alters- oder gesundheitlichen Gründen nicht am motorisierten
Individualverkehr teilnehmen können oder es nicht wollen.

Ein öffentlicher Personennahverkehr, der flächendeckend ein für Nutzerinnen
und Nutzer attraktives Angebot bereithält, braucht eine entsprechende Verkehrs-
infrastruktur, die es noch nicht überall in ausreichendem Maße gibt. Die Ver-
kehrsinfrastruktur ist in Deutschland chronisch unterfinanziert. Dies betrifft ins-
besondere die Schieneninfrastruktur, für deren Bestandserhalt jährlich 1,4 Mrd.
Euro mehr aufgewendet werden müssten. Der kommunale öffentlichen Straßen-
personennahverkehr (ÖSPV), der die Verkehre von städtischen Schnellbahnen
(U-Bahnen), Stadtbahnen, Straßenbahnen, O-Bussen und Kraftomnibussen
kommunaler, gemischtwirtschaftlicher und privater Unternehmen umfasst,

weist eine jährliche Unterfinanzierung von ca. 600 Mio. Euro auf. Allein für den
Erhalt der Infrastruktur des öffentlichen Personenverkehrs fehlen somit jährlich
2 Mrd. Euro (vgl. Abschlussbericht der sog. Daehre-Kommission zur „Zukunft
der Verkehrsinfrastruktur“ vom Dezember 2012; Zahlen Stand: 2012).

Trotz dieses Finanzierungsdefizits des ÖSPV steigen dort die Fahrgastzahlen.
Im Jahr 2005 wurden im ÖSPV rund 8,7 Milliarden Fahrgäste befördert. Die

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Personenverkehrsleistung betrug dabei 50,3 Milliarden Personenkilometer. Bis
zum Jahr 2011 stieg die Zahl der Fahrgäste auf etwa 9 Milliarden pro Jahr. Bei
näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass dies auf deutliche Steigerungen
der Fahrgastzahlen in der Altersklasse der 18- bis 44-Jährigen zurückzuführen
ist, während sie in der Altersklasse der 60- bis 65-Jährigen deutlich zurückge-
gangen sind.

Wichtigste Säule der Finanzierung des Neu- und Ausbaus des ÖSPV sind die
Mittel nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG). Seit der
Föderalismusreform im Jahr 2006 fließen diese Mittel über das Entflechtungs-
gesetz in seitdem nominal konstanter Höhe von 1,33 Mrd. Euro pro Jahr an die
Länder. Weitere 333 Mio. Euro stehen aus den Bundesprogrammen des
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes jährlich für größere Investitionen zur
Verfügung. Aus den Betriebserträgen allein können die Kommunen und die
Verkehrsbetriebe notwendige Neu- und Ausbauten nicht finanzieren. Zudem
sind die Bundesmittel wegen der Preissteigerungen immer weniger wert. Des-
wegen fordern die Bundesländer berechtigterweise eine bedarfsgerechte Erhö-
hung der Entflechtungsmittel auf 1,96 Mrd. Euro pro Jahr.

Der zukünftige Erweiterungsbedarf im Bereich des ÖSPV wurde vom Verband
Deutscher Verkehrsunternehmen e. V. (VDV) bereits im Jahr 2009 auf etwa
12 Mrd. Euro bis zum Jahr 2025 geschätzt. Die Höhe der erforderlichen turnus-
mäßigen Reinvestitionen in Fahrwege und Bahnhöfe der U-Bahnen, Stadt- und
Straßenbahnen wird vom VDV auf jährlich 550 Mio. Euro geschätzt. Wegen der
unzureichenden Finanzausstattung können davon derzeit nur etwa 220 Mio.
Euro aufgebracht werden, so dass jährlich ein Betrag von 330 Mio. Euro fehlt.
Somit hat sich der gesamte Nachholbedarf für den Bestandserhalt im Vergleich
zur Studie des VDV von 2,35 (Stand: 2007) bereits auf 4 Mrd. Euro im Jahr 2012
erhöht.

Den zweiten wichtigen Bereich des ÖPNV bildet der Schienenpersonennahver-
kehr (SPNV), der S-Bahnen und Regionalzüge umfasst. Im SPNV wurden im
Jahr 2010 2,3 Millionen Personen befördert und 47,9 Milliarden Personenkilo-
meter zurückgelegt. Die Investitionen in den Neu- und Ausbau des SPNV wer-
den neben dem Bundesschienenwegeausbaugesetz (BSchWAG) ebenfalls mit
Mitteln nach dem Entflechtungsgesetz, dem Regionalisierungsgesetz und aus
den GVFG-Bundesprogrammen finanziert. Letztere sind zur Hälfte für Investi-
tionen in die S-Bahn-Infrastruktur vorgesehen. Zusätzlich stehen BSchWAG-
Mittel in Höhe von lediglich ca. 25 Mio. Euro und Mittel aus dem Regionalisie-
rungsgesetz von ca. 50 Mio. Euro pro Jahr für Investitionen in den SPNV zur
Verfügung. Erforderlich sind aber insgesamt 10,62 Mrd. Euro bis zum Jahr
2025 bzw. ca. 630 Mio. Euro pro Jahr.

Sowohl ÖSPV als auch SPNV sind dringend auf Mittel nach dem Entflech-
tungsgesetz und aus den GVFG-Bundesprogrammen sowie dem Regionalisie-
rungsgesetz angewiesen. Derzeit laufen Verhandlungen zwischen Bund und
Ländern über die Fortführung des Entflechtungsgesetzes, da bei der Föderalis-
musreform im Grundgesetz (Artikel 143c Absatz 3) festgelegt wurde, dass die
Förderung Ende 2019 gänzlich auslaufen soll, dass die Zweckbindung der Mit-
tel Ende 2013 ausläuft und bis zum Ende des Jahres 2013 über die Höhe der ab
dem Jahr 2014 vom Bund zu zahlenden Mittel eine Einigung erzielt werden
muss. Der Bund hat bei diesen Verhandlungen die Position vertreten, die Mittel
von derzeit 1,33 Mrd. Euro jährlich linear bis zum Jahr 2019 abzusenken.
Wegen des berechtigten Widerstandes der Länder dagegen will der Bund als
Kompromissangebot die Mittel zunächst im Jahr 2014 weiterhin in der derzei-
tigen Höhe gewähren. Erst nach der Bundestagswahl im Jahr 2013 muss dann
weiter verhandelt werden. Die Bundesregierung hat Ende des Jahres 2012 einen

entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen.

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Für die Mittel nach dem Regionalisierungsgesetz, die anders als die GVFG-
Mittel jährlich um 1,5 Prozent steigen, muss für den Zeitraum ab dem Jahr
2015 eine Neuregelung gefunden werden. Auch hier drängt der Bund darauf,
die Mittel von knapp 7,2 Mrd. Euro (2013) jährlich zu senken. Dies steht im
Kontrast zu der realen Entwicklung der Kosten. Die maßgeblichen Kostenfak-
toren Trassen- und Stationsentgelte der Deutschen Bahn AG sind mit zuletzt
2,5 Prozent pro Jahr kontinuierlich gestiegen, in den letzten zehn Jahren um
insgesamt ca. 30 Prozent. Diese Kosten schlagen mit mittlerweile bereits ca.
50 Prozent der gesamten Ausgaben des SPNV zu Buche, eine Begrenzung
gelingt dieser Bundesregierung nicht, weil sie mit dem Eisenbahnregulierungs-
gesetz einen falschen Ansatz verfolgt. Wegen dieses Kostenanstieges, der deut-
lich über der jährlichen Dynamisierung liegt, kommt es in einigen Ländern be-
reits zu Kürzungen des Angebotes im SPNV. Eine Absenkung der Regionalisie-
rungsmittel würde dies beschleunigen. Der weiterhin notwendige Ausbau des
SPNV würde unmöglich gemacht werden.

Das Ziel der in diesem Antrag geforderten Dynamisierung der Regionalisie-
rungsmittel besteht darin, den SPNV und damit den öffentlichen Verkehr insge-
samt zu stärken.

Die Deutsche Bahn AG hat seit dem Jahr 2001 ihre Angebote im eigenwirt-
schaftlichen Bereich des Fernverkehrs systematisch abgebaut, zunächst durch
die Aufgabe der Fernverkehrsgattung Interregio und seither insbesondere durch
die Ausdünnung bestehender Angebote mit IC-/EC-Zügen. Ein erheblicher Teil
dieser Verbindungen wird inzwischen durch Nahverkehrszüge, insbesondere
durch Regionalexpress-Züge (RE), wahrgenommen. Da diese von den Ländern
zu bestellen und damit aus Regionalisierungsmitteln zu finanzieren sind, wird
auf diese Weise zunehmend Fernverkehr, der eigenwirtschaftlich zu finanzieren
ist, mit Nahverkehrszügen, die aus Bundesmitteln kofinanziert werden, geleis-
tet. Dies stellt eine Zweckentfremdung von Bundesmitteln dar. Auf diese Weise
wird faktisch Schienenpersonennahverkehr reduziert oder in seiner Qualität ab-
gebaut. Die Leistungen aus den Regionalisierungsmitteln müssen in Gänze dem
Schienenpersonennahverkehr zufließen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, wonach die Mittel nach dem Entflech-
tungsgesetz und dem GVFG bedarfsgerecht auf 1,96 Mrd. Euro pro Jahr
erhöht werden;

2. sich gegenüber den Ländern dafür einzusetzen, dass diese die gewährten
Entflechtungsmittel entsprechend den Regelungen in den Ländern Branden-
burg und Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2014 hinaus mit einer Zweck-
bindung für die kommunale Verkehrsinfrastruktur versehen und diese Mittel
auch für Investitionen in den Erhalt verwendet werden können;

3. einen Gesetzentwurf für eine Neuregelung des Regionalisierungsgesetzes
vorzulegen, der ausgehend vom Niveau des Jahres 2014 eine jährliche
Dynamisierung der zu gewährenden Mittel ab dem Jahr 2015 entsprechend
der Preissteigerung der Trassen- und Stationspreise im jeweils vorangegan-
genen Jahr vorsieht, wenn diese mit mehr als 1,5 Prozent pro Jahr gestiegen
sind, andernfalls beträgt der Wert 1,5 Prozent;

4. dafür Sorge zu tragen, dass die Deutsche Bahn AG wieder Fernverkehr in
dem Umfang leistet, wie dies bis zum Jahr 2001 erfolgte, und dass damit die
bisherigen Regionalisierungsmittel bzw. die geforderte Erhöhung derselben
in vollem Umfang dem Nahverkehr entsprechend seiner klassischen Defini-
tion zugutekommen. Das Gesetz zur Definition und Gewährleistung des

Fernverkehrs, das im 1993 neu eingeführten Artikel 87e des Grundgesetzes
gefordert wird, muss zu diesem Zweck auf den Weg gebracht werden;

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5. sich gegenüber den Ländern für die Bildung einer gemeinsamen Arbeits-
gruppe, bestehend aus Bund, Ländern, Kommunen und Verbänden aus dem
Bereich des öffentlichen Personenverkehrs, des Verbraucherschutzes und des
Umweltschutzes, einzusetzen, die Konzepte einer grundlegenden Reform der
Finanzierung des ÖPNV erarbeitet. Ziel soll dabei ein sowohl in Ballungs-
zentren als auch in ländlichen Räumen attraktives Angebot des ÖPNV sein.
Zu prüfen sind von dieser Arbeitsgruppe auch alternative Finanzierungs-
modelle wie eine von Unternehmen zu zahlende Nahverkehrsabgabe und ein
von allen Bewohnerinnen und Bewohnern zu zahlendes Bürgerticket. Die
Arbeitsgruppe soll gegebenenfalls erforderliche Anpassungen von Bundes-
oder Landesgesetzen benennen, damit diese oder andere alternative Finan-
zierungsmodelle auf Landes- oder kommunaler Ebene eingeführt werden
können.

Berlin, den 19. Februar 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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