BT-Drucksache 17/11366

Hinschauen - Dunkelfeldforschung zum Thema Rechtsextremismus

Vom 7. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11366
17. Wahlperiode 07. 11. 2012

Antrag
der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Sebastian Edathy, Petra Ernstberger,
Petra Hinz (Essen), Dr. Eva Högl, Frank Hofmann (Volkach), Gabriele Fograscher,
Iris Gleicke, Wolfgang Gunkel, Michael Hartmann (Wackernheim), Ute Kumpf,
Christine Lambrecht, Kirsten Lühmann, Thomas Oppermann, Gerold
Reichenbach, Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der Fraktion der SPD

Hinschauen – Dunkelfeldforschung zum Thema Rechtsextremismus

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Anlässlich des Bekanntwerdens der Verbrechen der Neonazi-Terrorgruppe
„Nationalsozialistischer Untergrund“ hat der Deutsche Bundestag in seiner
Entschließung „Mordserie der Neonazi-Bande und die Arbeit der Sicherheits-
behörden“ (Bundestagsdrucksache 17/7771) beschlossen zu überprüfen, wo
Hindernisse dem Engagement demokratischer Gruppen gegen Rechtsextremis-
mus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus entgegenstehen. Darin heißt es:
„Wir sind entschlossen, sowohl die politisch-gesellschaftliche Auseinanderset-
zung mit Rechtsextremisten und ihren Verbündeten vertieft fortzusetzen als auch
die unabdingbaren Konsequenzen für die Arbeit der Sicherheitsbehörden rasch
zu ziehen. Dazu ist eine umfassende Fehleranalyse unverzichtbar. Aus Fehlern
müssen die richtigen Schlüsse gezogen und umgesetzt werden.“ Und weiter:
„Wir müssen gerade jetzt alle demokratischen Gruppen stärken, die sich gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus engagieren. Wir
werden prüfen, wo dem Hindernisse entgegenstehen. Wir brauchen eine gesell-
schaftliche Atmosphäre, die ermutigt, gegen politischen Extremismus und Ge-
walt das Wort zu erheben.“

Die Datenlage rechtsextremistisch motivierter Vorfälle und Fälle von „Hasskri-
minalität“ in Deutschland bildet die Realität nicht vollständig ab. Zivilgesell-
schaftliche Akteure zählen regelmäßig mehr rechtsextremistische Vorfälle und
Fälle von „Hasskriminalität“ als die amtliche Statistik. So zählt die amtliche Sta-
tistik 47 Todesopfer rechtsextremer Gewalt im Zeitraum von 1990 bis 2009, wo-
hingegen Opferberatungsstellen und Journalisten für die Zeit von 1990 bis 2009
bis zu 181 Todesopfer nennen. Beide Zählweisen erfassen nur die Fälle, in denen
durch Zeugenbeobachtungen ein rechtsextremistischer Bezug herzustellen ist.

Das Dunkelfeld ist dagegen überhaupt nicht erfasst.

Oft liegt der Grund dafür im Umgang der Behörden mit Rechtsextremismus im
Alltag. Opfer rechter Gewalt, Beratungsstellen und Opfervereine beklagen, bun-
desweit gegen eine Mauer aus Ignoranz und Verharmlosung kämpfen zu müs-
sen. Polizei und Strafverfolgungsbehörden negierten allzu oft die politischen
Motive von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Darüber hinaus existiere in

Drucksache 17/11366 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
vielen Städten eine Kultur des Wegschauens: Die Opfer würden in ihrer Not-
situation allein gelassen, die Täter hingegen erführen Solidarisierung, so das Er-
gebnis einer kürzlich veröffentlichten Befragung von zivilgesellschaftlichen
Akteuren, im Auftrag der Amadeu Antonio Stiftung. Insbesondere wird immer
wieder eine fehlende Sensibilisierung bei Polizei und Ermittlungsbehörden im
Hinblick auf rechtsextreme Straftaten bemängelt. So würden Anzeigen wegen
Volksverhetzung von der Polizei mitunter gar nicht erst entgegengenommen
oder bagatellisiert: Aussagen wie „ist doch gar nicht so schlimm“ deuten an,
dass es sich um harmlose Beleidigungen handele. Der Rassismus wird in Frage
gestellt, die Diskriminierung für die Opfer setzt sich somit auf Behördenebene
fort. Das Fehlen interkultureller Kompetenz bei Polizei und Behörden ist einer
der am häufigsten angesprochenen Kritikpunkte.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Forschungsauftrag zu erteilen, der statistisch ermittelt, wie viele Men-
schen Opfer/Zeuge bzw. Zeugin rechtsextremer Gewalt bzw. Propaganda-
delikte geworden sind. Die Ergebnisse der Studie sollen mit der amtlichen
Statistik politisch motivierter Straftaten abgeglichen werden, um eine An-
näherung an die tatsächlich Zahl rechtsextrem und rassistisch motivierter
Straften zu erreichen;

2. einen Forschungsauftrag zu erteilen, in dem Hindernisse und Barrieren im
Engagement gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus sys-
tematisch aufgedeckt werden. In einer solchen repräsentativen Studie sollen
die Erfahrungen der Engagierten mit rechtsextremer Propaganda und rechts-
extremer Gewalt transparent gemacht werden;

3. einen Bericht vorzulegen, der einen bundesweiten Überblick über die Maß-
nahmen zur Steigerung der interkulturellen Kompetenz in sicherheitsrelevan-
ten Bundes- und Landesbehörden gibt.

Berlin, den 7. November 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

Begründung

Die Entschließung „Mordserie der Neonazi-Bande und die Arbeit der Sicher-
heitsbehörden“ (Bundestagsdrucksache 17/7771) muss mit Leben gefüllt wer-
den. Die Verfassungsschutzbehörden müssen als Frühwarnsystem fungieren.
Die geltende Zählweise rechtsextremer Straftaten verfehlt dieses Ziel. Die Si-
cherheitsbehörden benötigen umfassende Kenntnisse, welche durch systemati-
sche und kontinuierliche Opferstudien im Bereich Rechtsextremismus ergänzt
und so insgesamt sichergestellt werden müssen.

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