BT-Drucksache 17/11143

Gemeinsam lernen - Inklusion in der Bildung endlich umsetzen

Vom 23. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11143
17. Wahlperiode 23. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Jan Korte,
Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich,
Klaus Ernst, Nicole Gohlke, Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping,
Jutta Krellmann, Katrin Kunert, Cornelia Möhring, Petra Pau, Jens Petermann,
Yvonne Ploetz, Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte,
Frank Tempel, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Katrin Werner,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Gemeinsam lernen – Inklusion in der Bildung endlich umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention – UN-BRK) ist seit dem
26. März 2009 in Kraft, nachdem Bundestag und Bundesrat dieser Konvention
einschließlich ihres Zusatzprotokolls ohne Einschränkungen einstimmig im De-
zember 2008 zustimmten. Deutschland hat sich damit zur Inklusion verpflichtet.
Inklusion gewährleistet allen Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, das
Recht auf volle gesellschaftliche Teilhabe. Die Verschiedenheit der Menschen
birgt einen enormen Reichtum. Diese Vielfalt zu nutzen, bereichert die ganze
Gesellschaft. Das Recht auf Inklusion, abgeleitet aus der Normalität besonderer
und sehr unterschiedlicher Lebenslagen von Menschen mit Behinderung, kann
nur umgesetzt werden, wenn es auch für alle Menschen gilt. Allen muss die volle
gesellschaftliche Teilhabe von Anfang an gewährleistet werden.

Die Umsetzung der UN-BRK wurde im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU
und FDP festgeschrieben und im Juni 2011 im Nationalen Aktionsplan der
Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention unter-
setzt. „Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass inklusives Lernen in
Deutschland eine Selbstverständlichkeit wird“ (Nationaler Aktionsplan, Seite
47). Trotz der Formulierung dieses hochgesteckten Ziels bleibt der Nationale
Aktionsplan mit seinen Maßnahmen jedoch weit hinter den damit verbundenen
Erwartungen zurück. Ein Diskriminierungsverbot oder die Aufhebung des Kos-
tenvorbehalts in § 13 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) etwa
fehlen noch immer. Häufig wird Inklusion als Sparpaket missbraucht und viele
sind abgeschreckt durch die hohen Anforderungen von Inklusion an die Gesell-

schaft.

Mit dem Artikel 24 UN-BRK hat sich Deutschland ausdrücklich dazu verpflich-
tet, jeder und jedem Einzelnen Chancengleichheit in der Bildung inklusiv zu
ermöglichen. Doch vielen jungen Menschen wird derzeit die gleiche Teilhabe an
Bildung verwehrt. Das derzeitige gegliederte Schulsystem etwa steht einer kon-
sequenten Inklusion entgegen. Kinder im Alter von zehn oder zwölf Jahren auf
unterschiedliche Schulformen aufzuteilen, ist mit dem Konzept der Inklusion

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nicht vereinbar. Derzeit werden etwa eine halbe Million Förderschülerinnen und
Förderschüler in Deutschland separat unterrichtet. 75 Prozent von ihnen errei-
chen nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Diese Spirale der Ausgrenzung
setzt sich in der beruflichen Bildung fort. Der Anteil von Jugendlichen mit
Behinderung im dualen System liegt bei weniger als 1 Prozent und verdeutlicht
ihre sehr geringen Chancen auf einen anerkannten Berufsabschluss.

Deutschland muss sich den Herausforderungen stellen. Inklusion muss endlich
umgesetzt werden. Im Bereich Bildung erfordert es eine grundlegend neue Lehr-
und Lernkultur, die jeden Lernenden in seiner Individualität respektiert und
wertschätzt, die die Fähigkeiten jeder und jedes Einzelnen erkennt und fördert
und zum bestmöglichen Lernerfolg führt. Dazu bedarf es zusätzlicher Ressour-
cen, wie ausreichenden und barrierefreien Raum, die Ausstattung mit Lehr-,
Lern- und Hilfsmitteln, mehr gut ausgebildetes Personal und pädagogische wie
therapeutische Unterstützungssysteme.

Alle Bildungseinrichtungen und die Arbeit der Akteurinnen und Akteure müs-
sen auf die Verwirklichung inklusiver Bildung ausgerichtet werden. Bereits im
Bereich der frühkindlichen Bildung müssen die Betreuungsangebote vom
Grundsatz der uneingeschränkten Teilhabe und damit der Inklusion aller Kinder
– ob mit oder ohne Behinderung – ausgehen und entsprechend ausgestaltet sein.
Schon hier brauchen Kinder eine auf ihre besonderen, individuellen Bedürfnisse
ausgerichtete spezifische Förderung und Unterstützung. Im schulischen Bereich
erfordert dies tiefgreifende Veränderungen des Schulsystems und in jeder einzel-
nen Schule. Die Umsetzung von Inklusion muss bis dahin in allen derzeit be-
stehenden Regelschulformen – bis hin zum Gymnasium – umgesetzt werden.
Nicht nur im frühkindlichen und schulischen Bereich, sondern auch in den
Bereichen der Aus- und Weiterbildung sowie Hochschule muss die Inklusion
kontinuierlich weitergeführt werden, damit junge Menschen eine gleichberech-
tigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erlangen.

Der Bund steht in der Pflicht, seinen Beitrag zu einer bundesweiten Verwirk-
lichung von umfassender Inklusion in der Bildung zu leisten. Die Bundesregie-
rung nimmt bei diesem Umsetzungsprozess derzeit eine sehr passive Haltung
ein und wälzt die Verantwortung auf die bereits unterfinanzierten Länder und
Kommunen ab, die mit der Verwirklichung von inklusiver Bildung häufig über-
fordert sind. Es besteht eine deutlich größere Verantwortung beim Bund.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Initiative zu ergreifen, um das grundgesetzliche Verbot der Bildungszu-
sammenarbeit zwischen Bund und Ländern (Kooperationsverbot) ohne Ein-
schränkungen aufzuheben sowie die Gemeinschaftsaufgabe Bildung grund-
gesetzlich zu verankern;

2. in Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen ein Investitionsprogramm
„inklusive Bildung“ zu initiieren, um bestehende Bildungseinrichtungen
schnellstmöglich barrierefrei umzubauen und auszustatten. Dabei geht es um
umfassende Barrierefreiheit, also auch um Verkehrswegeplanung, öffent-
lichen Nahverkehr sowie barrierefreie Kommunikation und Beratungs-
leistungen – unabhängig von der Behinderungsart; Kommunen brauchen dar-
über hinaus dauerhafte und verlässliche Unterstützung bei der finanziellen
Sicherstellung dieser Aufgabe;

3. gemeinsam mit den Ländern eine Qualitätsoffensive für inklusive Bildung in
der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern,
Weiterbildnerinnen und Weiterbildnern sowie in der Ausbildung betrieb-
licher Ausbilderinnen und Ausbilder gemäß der Ausbilder-Eignungsver-

ordnung für inklusive Bildung auf den Weg zu bringen, mit dem Ziel, die
Herausbildung methodischer, didaktischer, psychologischer und sozialpäda-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11143

gogischer Kompetenzen und von Kompetenzen zur Gestaltung inklusiver
Lernprozesse in heterogenen Lerngruppen zu gewährleisten;

4. ein schul- und hochschulnahes Weiterbildungsprogramm für im Beruf ste-
hende Lehrende zu initiieren, um derzeit vielfach noch fehlendes Wissen
über die Erkennung von und den Umgang mit unterschiedlichen Behin-
derungsarten und heterogenen Lerngruppen zu vermitteln (inklusive Päda-
gogik und Diagnostik);

5. dafür Sorge zu tragen, dass die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in allen
sie betreffenden Bereichen inklusiv ausgerichtet ist. Die Verantwortlichkeit
für die Kinder, Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen mit Behinderung ist
bei der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII mit Rechtsanspruchscharakter
anzusiedeln. Dort ist auch auf den im SGB IX festzuschreibenden Anspruch
auf bedarfsgerechte, einkommens- und vermögensunabhängige persönliche
Assistenz und Hilfsmittel zu verweisen;

6. für Studierende mit Behinderung auch über den ersten berufsqualifizieren-
den Abschluss hinaus eine bedarfsgerechte Assistenz beim Besuch der
Hochschule (Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 Absatz 1 Num-
mer 2 SGB XII) als Nachteilsausgleich einkommens- und vermögensunab-
hängig zu gewähren;

7. einen Rechtsanspruch des Kindes auf einen ganztägigen und gebühren-
freien, inklusiven Betreuungsplatz in Kindertageseinrichtungen unabhän-
gig vom sozialen Status der Eltern bundesgesetzlich festzuschreiben und für
die qualitative Ausgestaltung vergleichbare Mindeststandards zu erarbeiten
und dabei die Anforderungen an die Angebote der Kindertagespflege als
Teil der Kindertagesbetreuungslandschaft zu berücksichtigen;

8. vergleichbare Standards für eine inklusive Schule, etwa für die Erfordernisse
des gemeinsamen Unterrichts, gemeinsam mit Schüler- und Elternvertretun-
gen und wichtigen Akteurinnen und Akteuren in den Kommunen, Behinder-
tenverbänden, Gewerkschaften, pädagogischen Fachverbänden und mit
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bundeseinheitlich zu entwickeln
und Ressourcen für deren länderübergreifende Verbreitung bereitzustellen;

9. gesetzliche Initiativen zu ergreifen, um eine betriebliche oder betriebsnahe
Berufsausbildung, wie zum Beispiel in Berufsbildungswerken, für junge
Menschen mit Behinderung umzusetzen und eine Berufsausbildungsquote
für junge Menschen mit Behinderung in Unternehmen zu verankern sowie
zu gewährleisten, dass auch für junge Menschen mit Behinderung die Ver-
mittlung in Ausbildung Vorrang hat vor der Vermittlung in Erwerbsarbeit;

10. gemeinsam mit den Ländern, der Bundesagentur für Arbeit und den Trägern
der öffentlichen Jugendhilfe länderübergreifend schwerbehinderte Schüle-
rinnen und Schüler sowie Schülerinnen und Schüler mit sonderpädago-
gischem Förderbedarf in der Berufsorientierung und Berufsvorbereitung zu
fördern. Dafür müssen die notwendigen rechtlichen Grundlagen als Rechts-
ansprüche formuliert und die finanziellen und personellen Ressourcen im
erforderlichen Umfang abgesichert werden;

11. gemeinsam mit den Ländern und Hochschulen zu gewährleisten, dass ein
wirksamer Nachteilsausgleich für Bewerberinnen und Bewerber sowie für
Studierende mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen geschaffen
wird;

12. dem Mehrbedarf für beeinträchtigungsbedingte Ausgaben Rechnung zu tra-
gen, indem diese durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz abgedeckt
werden, und die Förderungsdauer bei beeinträchtigungsbedingter Studien-

verzögerung angemessen anzuheben;

Drucksache 17/11143 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
13. den Studierenden mit Behinderung die aktive Teilhabe an der studentischen
Selbstverwaltung zu ermöglichen. Die Position der Beauftragten für diese
Studierenden ist zu stärken, und sie sind in den entsprechenden Gremien zu
beteiligen und mit einem Stimmrecht auszustatten;

14. in Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen ein Netz von Bera-
tungs- und Unterstützungssystemen vor Ort zu befördern, sich am Ausbau
finanziell zu beteiligen und die Umsetzung von Inklusion als Förderkrite-
rium verbindlich festzuschreiben;

15. verstärkt mit den gesellschaftlich relevanten Akteurinnen und Akteuren und
Betroffenen im Rahmen einer Informations- und Aufklärungskampagne
Vorbehalte und Ängste abzubauen und die Vorteile des gesellschaftlichen
Konzepts der Inklusion für alle und die damit verbundenen Grundideen zu
vermitteln, d. h. eine positive Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, auch unter
Einbindung der öffentlichen und privaten Medienanstalten;

16. die empirische Bildungsforschung an den Anforderungen inklusiver Bil-
dung auszurichten und die Evaluierung mit daraus ableitbaren, länderüber-
greifenden Handlungsempfehlungen voranzutreiben;

17. den Austausch und die öffentliche Diskussion lokaler und internationaler
Erfahrungen bei der Umsetzung inklusiver Bildung strukturell und finan-
ziell zu befördern;

18. die Umsetzung inklusiver Bildung konsequent in der nationalen Bericht-
erstattung zu verankern und die Bildungsberichterstattung mit dem natio-
nalen Behindertenbericht und dem nationalen Gleichstellungsbericht zu
koordinieren;

19. den Nationalen Aktionsplan auf die Umsetzung von Inklusion im gesamten
Bildungssystem auszurichten und mit klaren Zielkonzepten, entsprechen-
den Zeitplänen sowie transparenten, bedarfsorientierten Finanzierungsplä-
nen, die sich ab sofort im Bundeshaushalt widerspiegeln, bis zum Ende der
Legislaturperiode 2013 zu überarbeiten.

Berlin, den 23. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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