BT-Drucksache 17/10694

Landwirtschaftliche Nutztierhaltung tierschutzgerecht, sozial und ökologisch gestalten

Vom 13. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10694
17. Wahlperiode 13. 09. 2012

Antrag
der Abgeordneten Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn,
Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, Katrin Kunert, Caren Lay, Sabine Leidig,
Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Kornelia Möller,
Wolfgang Neskovic, Jens Petermann, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert,
Kersten Steinke, Sabine Stüber und der Fraktion DIE LINKE.

Landwirtschaftliche Nutztierhaltung tierschutzgerecht, sozial und ökologisch
gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Tiere sollen laut dem Tierschutzgesetz (TierSchG) tiergerecht entsprechend den
arteigenen Ansprüchen gehalten werden, um somit Schmerzen, Leiden und
Schäden zu vermeiden und Leben und Wohlbefinden der Tiere zu schützen. Da-
rüber hinaus ist der Tierschutz seit 2002 in Artikel 20a des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland als Staatsziel formuliert.

Hohe zucht- und haltungsbedingte Erkrankungs- und Sterberaten der Tiere aus
industrieller Produktion, die mit erheblichem Leiden der betroffenen Tiere ver-
bunden sind, weisen jedoch auf erhebliche Defizite beim Tierschutz hin.

Die durch Konkurrenzdruck, Überangebot und Globalisierung geprägten Kon-
summärkte für Fleisch, Milch- und Eiprodukte tragen zum Kostendruck auf
Erzeugerseite bei und erschweren die Etablierung artgerechter Tierhaltungs-
verfahren, die in der Regel kostenintensiver sind. Unzureichende Vorgaben der
Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung (TierSchNutztV) und deren mangelnde
Kontrolle erschweren es Betrieben mit tiergerechten Haltungsformen zusätzlich,
auf dem Markt konkurrenzfähig gegenüber industrieller Tierproduktion zu sein.

Immer mehr Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft wollen mehr Tier-
schutz in der Tierhaltung und lehnen nicht tiergerechte Haltungsformen ab.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die TierSchNutztV um je einen Abschnitt mit detaillierten Haltungsanforde-
rungen für alle bisher nicht in der Verordnung berücksichtigte Nutztierarten,

wenn notwendig differenziert nach Lebensabschnitten, zu ergänzen;

2. Besatzdichten und Haltungssysteme für alle landwirtschaftlichen Nutztiere
auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse rechtlich so festzulegen, dass
• eine tiergerechte und tierschutzkonforme Haltung ohne körperliche Ein-

griffe wie Touchieren und Kupieren von Schnäbeln bei Geflügel, Amputie-
ren von Schwänzen sowie Kneifen der Eckzähne bei Ferkeln und Enthor-

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nen bei Rindern gewährleistet ist und arttypische Verhaltensweisen er-
möglicht werden,

• die Prävention vor Erkrankungen gefördert und der Einsatz von Anti-
biotika auf ein veterinärmedizinisch notwendiges Minimum reduziert
werden kann;

3. die TierSchNutztV dahingehend anzupassen, dass Ausnahmegenehmigun-
gen für schmerzhafte Eingriffe bei Tieren zur Anpassung an ein nicht tier-
gerechtes Haltungssystem schnellstmöglich nach einem verbindlichen Zeit-
plan aufgehoben werden;

4. Maßnahmen zu ergreifen, um die Zucht auf Leistung, insoweit sie entgegen
§ 11b TierSchG das Wohlbefinden der Tiere erheblich mindert und unter
Umständen sogar hohe Mortalitätsraten verursacht, wirksam zu unterbinden;

5. die Zucht und wissenschaftliche Prüfung der Leistungsfähigkeit von Mehr-
nutzungsrassen zu stärken und zu fördern;

6. eine unabhängige Prüfstelle einzurichten, die auf Basis der nach den Num-
mern 1 bis 3 (dieses Antrags) angepassten TierSchNutztV sowie tierbezo-
gener Indikatoren wie Verhaltensparametern, Verletzungs-, Krankheits- und
Mortalitätsraten die Tiergerechtheit von Haltungsanlagen und Bestand-
management regelmäßig kontrolliert, um den Betrieben zum einen eine
qualifizierte Rückmeldung zu ihrer betrieblichen Praxis zu geben und zum
anderen die Datengrundlage für ein Anreizprogramm und die Einführung
eines Tierschutzlabels zu schaffen;

7. regelmäßige unabhängige Tierkontrollen bei Ausstallen, Be- und Entladen
und bei Erreichen des Schlachthofes sowie Post-mortem-Untersuchungen
zur Erhebung von Transport- und Haltungsschäden einzuführen;

8. in der Schweinemast kurzfristig die betäubungslose Ferkelkastration zu
verbieten und mittelfristig Verfahren vorzugeben, die die chirurgische Fer-
kelkastration ersetzen;

9. die Zucht von Zweinutzungshühnern zu fördern und das Verbot der Tötung
von Küken aufgrund ihres Geschlechtes durchzusetzen. In diesem Zusam-
menhang sind die betroffenen Betriebe bei der Entwicklung und Anwen-
dung von Alternativen zu unterstützen;

10. eine an Naturschutzbelange angepasste und tierartenspezifisch ausgerich-
tete Weidehaltung als Haltungssystem stärker zu fördern und damit auch
einen Beitrag zur Bereicherung, zur Pflege und zum Erhalt der Kulturland-
schaft zu leisten;

11. sich für eine effizientere Förderung alter Haustierrassen zum Erhalt der ge-
netischen Vielfalt einzusetzen;

12. den ökologischen Landbau stärker zu fördern, ökologisch erzeugte Pro-
dukte preislich zu bevorzugen und konsequent auf ein ökologisches Wirt-
schaften der Betriebe hinzuwirken;

13. irreführende Produktwerbung, die artgerechte Tierhaltung vortäuscht, zu
verbieten, und damit eine wirksame Werbemöglichkeit für zertifiziert tier-
gerechte Haltungen zu schaffen;

14. sich auf der Ebene der Europäischen Union (EU) dafür einzusetzen, dass
diese Regelungen EU-weit umgesetzt werden und als Kriterien in die neue
EU-Agrarförderperiode ab 2014 Eingang finden;

15. wissenschaftlich untersuchen zu lassen, welche gesundheitlichen Gefahren
(sowohl physisch als auch psychisch) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in

intensiven landwirtschaftlichen Tierhaltungen ausgesetzt sind und wie wel-

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che Bedingungen für Anwohnerinnen und Anwohner durch Tierhaltungs-
anlagen beeinträchtigt werden;

16. Maßnahmen zu ergreifen, die gewährleisten, dass insbesondere in Betrieben
mit Tierhaltung eine ausreichende Anzahl qualifizierten Personals beschäf-
tigt ist, um eine tiergerechte Haltung zu gewährleisten. In diesem Zusam-
menhang sind die Arbeitsbedingungen und die Grund- und Weiterquali-
fizierung der Beschäftigten zu verbessern und damit „lebenslanges Lernen“
umzusetzen;

17. grundsätzlich eine Mindestqualifikation für die Arbeitskräfte in der Tierhal-
tung festzulegen;

18. auf eine rechtliche Verankerung eines bundesweiten Verbandsklagerechts
für Tierschutzverbände und -stiftungen hinzuwirken.

Berlin, den 13. September 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die für die Tierhaltung relevanten politischen Rahmenbedingungen der vergan-
genen Jahrzehnte haben nicht dazu beigetragen, eine tier- und umweltfreund-
liche Wirtschaftsweise hervorzubringen – im Gegenteil.

Unter momentanen Haltungsbedingungen würden sich die Tiere durch die Enge
in den konventionellen Haltungsanlagen und die fehlenden Beschäftigungsmög-
lichkeiten ohne Eingriffe wie z. B. das Kürzen der Schnäbel oder der Schwänze
gegenseitig gravierende Schäden und Schmerzen zufügen, die ihrerseits wieder
tierschutzrelevant wären. Deshalb ist eine Anpassung der Haltungsanlagen er-
forderlich.

Die Einheitshochleistungsrassen/-hybriden sind unter den momentanen Hal-
tungsbedingungen mit den erlaubten Eingriffen, unter Verwendung importierter
Eiweißfuttermittel und dem praktizierten Medikamenteneinsatz oft die wirt-
schaftlichsten, weshalb andere Tierrassen mehr und mehr vom Markt verdrängt
werden.

Dies wird nur durch die vom Gesetzgeber zugestandenen Ausnahmeregelungen
im Tierschutzgesetz ermöglicht. Wollte man diese aber abschaffen, was im
Sinne des Tierschutzes und des Verbraucherschutzes wünschenswert wäre, be-
deutete das eine tiefgreifende Umwälzung in der gesamten Tierhaltung.

Nicht nur aus tierschutzpolitischer, sondern auch aus gesundheits- und umwelt-
politischer Sicht ist ein minimaler Antibiotikaeinsatz wünschenswert. Dies ist
auch das Anliegen des Antrags „Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung
reduzieren“ (Bundestagsdrucksache 17/8348). Dafür müssen die Haltungs-
anlagen, das Bestandsmanagement, die Bestandsdichte und die Genetik derart
angepasst werden, dass die Tiere in der Regel im Stande sind, die Herausfor-
derungen der Haltungsumgebung aus eigener Kraft ohne Leiden bewältigen zu
können.

Zur Umsetzung dieser Veränderungen müsste vermehrt sowohl in Forschung,
den Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Praxis bzw. in die Fortbildung
der Landwirtinnen und Landwirte als auch in ein Prüfsystem investiert werden,

denn mit einer bloßen Zertifizierung von Haltungsanlagen ist es nicht getan.

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Die Haltungsanlagen sind nur ein Teilaspekt, der für tiergerechte Haltung not-
wendig ist. Auch ein als tiergerecht zertifiziertes Haltungssystem kann z. B.
durch Überbesatz oder unsachgemäßes Management in der Praxis zu tierschutz-
widrigen Zuständen führen, was eben die Notwendigkeit von vermehrtem Me-
dikamenteneinsatz und von prophylaktischen Amputationen zur Folge hat.

Zudem fehlen verlässliche Daten zum Platzbedarf von einzelnen Tierarten und
Rassen unter spezifischen Betriebsbedingungen, weil einerseits die eingestallten
Rassen von Größe und Temperament unterschiedliche Ansprüche an die Maße
und Ausprägungen stellen und andererseits durch ein gutes Management und/
oder niedrigen Besatz auch in eher ungünstigen Haltungssystemen eine tier-
gerechte Haltung ermöglicht werden könnte. Mit der Annahme, dass ein TÜV-
geprüftes Haltungssystem per se eine tiergerechte Haltung nach sich zieht, könn-
ten noch weniger Kontrollen der Haltungen gerechtfertigt werden, was definitiv
nicht zielführend ist. Dazu kommt, dass es für Landwirtinnen und Landwirte
schwieriger werden könnte, selbstgebaute, preisgünstige (aber deshalb nicht
unbedingt weniger tiergerechte) Haltungseinrichtungen zu verwenden.

Ein viel verlässlicherer Punkt bei der Bewertung der Tiergerechtheit sind tier-
bezogene Parameter (z. B. Ausführung des arteigenen Verhaltens, Verletzungs-,
Krankheits- und Mortalitätsraten), da sie direkte Auskunft über die Auswirkun-
gen von Haltungssystem und Management unter einer spezifischen betrieb-
lichen Situation geben.

Auch in ländlichen Räumen und in der Landwirtschaft sollen Menschen gute
Arbeit finden können. Geringe Löhne, Arbeitsverdichtung und unzureichender
Arbeitsschutz schaden direkt den in der Tierhaltung Beschäftigten, indirekt aber
auch den Tieren. Arbeitsplätze in der Tierhaltung sollten Arbeitsplätze für sozial
gesicherte, qualifizierte Fachkräfte sein.

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