BT-Drucksache 16/933

Besser regulieren, dynamisch konsolidieren - Leitlinien für die künftige EU-Finanzmarktintegration

Vom 15. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/933
16. Wahlperiode 15. 03. 2006

Antrag
der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Oswald, Leo
Dautzenberg, Georg Fahrenschon, Klaus-Peter Flosbach, Olav Gutting, Manfred
Kolbe, Hartmut Koschyk, Patricia Lips, Hans Michelbach, Dr. Norbert Röttgen,
Peter Rzepka, Norbert Schindler, Christian Freiherr von Stetten, Antje Tillmann,
Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und der Fraktion der CDU/CSU,
der Abgeordneten Nina Hauer, Ingrid Arndt-Brauer, Lothar Binding (Heidelberg),
Gabriele Frechen, Petra Hinz (Essen), Dr. Hans-Ulrich Krüger, Lothar Mark,
Joachim Poß, Florian Pronold, Ortwin Runde, Bernd Scheelen, Olaf Scholz,
Reinhard Schultz (Everswinkel), Jörg-Otto Spiller, Simone Violka, Lydia Westrich,
Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele,
Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP sowie
der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Christine Scheel,
Margareta Wolf (Frankfurt), Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Besser regulieren, dynamisch konsolidieren – Leitlinien für die künftige
EU-Finanzmarktintegration

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Finanzmärkte spielen für das Funktionieren der modernen Volkswirtschaf-
ten eine herausragende Rolle. Die Vollendung des europäischen Binnenmarkts
für Finanzdienstleistungen stellt eine wichtige Wegmarke im wirtschaftlichen
Reformprozess von Lissabon dar und ist für die globale Wettbewerbsfähigkeit
der Europäischen Union von grundlegender Bedeutung. Eine der wichtigsten
Voraussetzungen für Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum ist ein interna-
tional wettbewerbsfähiger „Finanzplatz Deutschland“. Er ist Grundlage für effi-
ziente Finanzdienstleistungen für den Verbraucher und eine gute sowie kosten-
günstige Kapitalversorgung der Wirtschaft. Der deutsche Finanzmarkt besitzt
ein großes Potential, das unter Beachtung der ständigen Fortentwicklung der
globalen Finanzmärkte in dieser Legislaturperiode weiter ausgebaut werden
soll.
Die Vorteile eines geeinten Europas müssen für die Bürgerinnen und Bürger
spürbarer werden. Das Ziel eines Binnenmarkts auch für Finanzdienstleistungen
ist hier ein unverzichtbarer Baustein: Er eröffnet Lösungswege für die Vermö-
gensbildung in der Gesellschaft, für eine tragfähige Altersvorsorge und für eine
effiziente Finanzierung von Wachstum und Beschäftigung.

Drucksache 16/933 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Kommissions-Weißbuch zur Finanzdienstleistungspolitik für die Jahre 2005 bis
2010

Mit ihrem Anfang Dezember 2005 vorgelegten Weißbuch zur Finanzdienstleis-
tungspolitik für die Jahre 2005 bis 2010 skizziert die Europäische Kommission
die Leitlinien ihrer Finanzpolitik für die kommenden fünf Jahre. Es kann als
„Roadmap“ für die weitere europäische Finanzmarktintegration angesehen wer-
den. Das Weißbuch knüpft an den Aktionsplan Finanzdienstleistungen von 1999
(Financial Services Action Plan – FSAP) an. Im Unterschied zu diesem Aktions-
plan enthält das Weißbuch allerdings keinen umfassenden neuen Vorhabenkata-
log, sondern setzt im Wesentlichen die politischen Rahmenbedingungen für den
weiteren Integrationsprozess.

Dynamische Konsolidierung

Der Deutsche Bundestag und insbesondere der Finanzausschuss unterstützen
und begleiten das Leitmotiv der „dynamischen Konsolidierung“ aus dem Weiß-
buch der Europäischen Kommission zur Finanzdienstleistungspolitik für die
Jahre 2005 bis 2010. Aus deutscher Sicht muss im weiteren Verfahren darauf ge-
achtet werden, dass dem Maßnahmenbündel des Aktionsplans Finanzdienst-
leistungen (FSAP), der insgesamt über 40 Maßnahmen erfasst, von denen mehr
als die Hälfte Richtlinien sind, unter anderem so umfangreiche Regelungsvorha-
ben wie die Eigenkapitalrichtlinie (Basel II) und die Prospektrichtlinie, kein
weiteres finanzpolitisches Gesetzgebungspaket im Sinne eines FSAP II folgt.
Für eine nachhaltige Integrationsentwicklung ist es essenziell, dass wir die An-
legerinnen und Anleger, Finanzdienstleister, Emittenten und sonstigen Markt-
teilnehmer nicht mit einer neuen Welle europäischer Finanzmarktgesetzgebung
überziehen. Es gilt vielmehr bis zum Ende des Jahrzehnts, die beschlossenen
Maßnahmen des Aktionsplans Finanzdienstleistungen von 1999 in allen Mit-
gliedstaaten der EU konsequent umzusetzen, zu konsolidieren und wirken zu
lassen. Nur dann werden wir von den unabweisbaren Impulsen der Finanz-
märkte für Wachstum und Beschäftigung in Europa profitieren. Der Deutsche
Bundestag begrüßt, dass Deutschland bei der fristgerechten Umsetzung der
Richtlinien in nationales Recht mit führend ist, und fordert die Europäische
Kommission auf, europaweit stets für eine gleiche und fristgerechte Richtlinie-
numsetzung zu sorgen.

Bessere Regulierung

Im Zusammenspiel mit dem Grundgedanken der „besseren Regulierung“ wird
aus dem Konzept der „dynamischen Konsolidierung“ das Erfolgsrezept für die
europäische Finanzmarktintegration der kommenden fünf Jahre. Der Deutsche
Bundestag setzt sich entschieden dafür ein, dass es nicht allein bei der Absicht
bleibt, „besser zu regulieren“. Er ist entschlossen, die Europäische Kommission
beim Wort zu nehmen. Dies gilt für den EU-Kontext ebenso wie für den natio-
nalen Rahmen der Mitgliedstaaten. In diesem Zusammenhang nimmt es der
Deutsche Bundestag mit Zustimmung zur Kenntnis, dass die Bundesregierung
den Bürokratieabbau und die Verwaltungsvereinfachung auch bei der Europäi-
schen Kommission einfordern wird. Die Absicht der Bundesregierung, das
Thema „bessere Regulierung“ zu einem Schwerpunkt der kommenden deut-
schen EU-Ratspräsidentschaft zu machen, wird vom Deutschen Bundestag aus-
drücklich unterstützt.

Neue Dossiers dürfen nur vorsichtig und allein auf der Basis eines soliden Fact
Finding angegangen werden. Das Stichwort „Better Regulation“ darf dabei nicht
nur als Feigenblatt dienen, sondern muss mit Leben erfüllt werden. Eingriffe in
funktionierende Marktstrukturen sind angemessen zu begründen und verhältnis-

mäßig zu gestalten. Der Deutsche Bundestag unterstützt daher den neuen Regu-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/933

lierungsansatz der Europäischen Kommission. Nach ihren Angaben befinden
sich unter den im Weißbuch Finanzdienstleistungen genannten 72 Vorhaben le-
diglich fünf Legislativmaßnahmen (Verbraucherkreditrichtlinie, Zahlungsver-
kehrsrichtlinie, Richtlinie zu Eigenkapitalanforderungen für Versicherungen –
Solvency II, sowie die Überprüfung von Artikel 16 der Bankenrichtlinie und
Artikel 15 der Versicherungsrichtlinie).

Bei jedem Projekt bedarf es umfassender veröffentlichter Folgenabschätzungen
und Kosten-/Nutzen-Analysen. Der Deutsche Bundestag teilt die Auffassung
der Europäischen Kommission, dass es sich bei der Ex-Post-Bewertung von Er-
folg oder Misserfolg europäischer Regelungsvorhaben um eine „Toppriorität“
handelt. Sollten sich bei der Evaluierung einzelner Richtlinien Fehleinschätzun-
gen zeigen, spricht sich auch der Deutsche Bundestag für die Änderung oder
Aufhebung der entsprechenden Vorschriften aus. Es muss für die Bürgerinnen
und Bürger in der Europäischen Union spürbar werden, dass volkswirtschaftlich
messbare Effizienzvorteile sich auch im persönlichen Alltag bezahlt machen.
Wenn die erhofften Wohlfahrtsgewinne ausbleiben, sind Korrekturen angezeigt.

Märkte für Privatkunden

Firmenkunden haben bislang am meisten von der europäischen Finanzmarkt-
integration profitiert. Geringere Fortschritte gab es bei der Schaffung offener
und sicherer Privatkundenmärkte. Die Europäische Kommission zeigt sich da-
her entschlossen, ihren Fokus auf eine verstärkte Integration der Retail- oder Pri-
vatkundenmärkte zu richten. Dies ist eine für Deutschland wichtige Richtungs-
entscheidung. Mit über 80 Millionen Privatkunden verfügt Deutschland über
den größten Retailmarkt für Finanzdienstleistungen in Europa. Deutschland hat
somit sowohl als Produktions- als auch als Vertriebsstandort für Finanzdienst-
leistungen in Europa enormes Leistungsvermögen.

Es gilt nun sorgfältig zu prüfen, wie die Harmonisierung im Bereich der Privat-
kundenmärkte vorangetrieben werden kann. In diesem Zusammenhang vertritt
der Deutsche Bundestag die Auffassung, dass Fortschritte bei der europäischen
Finanzmarktintegration nicht zwangsläufig eine „Maximalharmonisierung“ der
rechtlichen Grundlagen erfordern, sondern dass sie vielmehr in einer zeit- und
wirkungsgleichen Umsetzung zu finden sind. Durch die Koppelung von „Min-
deststandards“ und gegenseitiger Anerkennung in Einzelfragen – dem tragenden
Prinzip der EU-Finanzmarktintegration – konnten in der Vergangenheit bereits
erhebliche Erfolge erzielt werden. Solche Erfolge sollen nun auch den Privat-
kunden zugute kommen. Wir setzen uns aber dafür ein, dass nationale Besonder-
heiten auch in Zukunft berücksichtigt werden können, sofern sie nicht zu Nach-
teilen beim Marktzugang für Privatkunden führen.

Europäische Aufsichtskonvergenz bzw. Europäisches Rechtssetzungsverfahren

Einen deutlichen Schwerpunkt ihrer Arbeit sieht die Europäische Kommission
zudem in der Herausbildung europäischer Strukturen in der Finanzmarktaufsicht
und in der Entwicklung einer „europäischen Aufsichtskultur“. Die Vielzahl von
Finanzmarktaufsichtsbehörden in der Europäischen Union und die Tatsache
ihrer unzureichenden Vernetzung untereinander stellen nach ihrer Einschätzung
ein ernst zu nehmendes Integrationshindernis dar.

Der Deutsche Bundestag ist mit der Kommission der Ansicht, dass eine effi-
ziente Zusammenarbeit der nationalen Aufsichten mit dem Ziel einer einheit-
lichen Umsetzung der europäischen Finanzmarktregulierung von großer Bedeu-
tung ist. Mit den Komitologieausschüssen auf Level 3 sind hierzu bereits ent-
sprechende Gremien in den Bereichen Wertpapierwesen, Banken und Versiche-

rungen geschaffen worden.

Drucksache 16/933 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Langfristig erfordert ein integrierter Finanzmarkt ein durch nationale und euro-
päische Parlamente legitimiertes und demokratisch kontrolliertes Finanzauf-
sichtssystem. Bisher gibt es in den EU-Mitgliedstaaten etwa 70 Aufsichtsinsti-
tutionen mit unterschiedlichen Vorschriften und Verfahren. Künftig muss die
Reichweite der Aufsicht der Reichweite der Tätigkeit der Unternehmen entspre-
chen. Die Rechtsetzung soll auch weiterhin nach dem vierstufigen Lamfalussy-
Verfahren erfolgen. Dabei müssen aus Sicht des Deutschen Bundestages aber die
Rechenschaftspflicht und die Transparenz gegenüber den Parlamenten gestärkt
werden. Dies gilt vor allem gegenüber dem Europäischen Parlament. Bezogen
auf den Deutschen Bundestag ist auch der Finanzausschuss des Deutschen Bun-
destages regelmäßig über die Rechtsetzungstätigkeit zu unterrichten, sowohl
durch die Bundesregierung als auch, soweit die Aufsichtsbehörden im Rahmen
des Lamfalussy-Verfahrens tätig werden, durch die Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht. Wesentlich stärker als bisher muss die Beteiligung
Deutschlands an der europäischen Rechtsetzung parlamentarisch begleitet und
kontrolliert werden.

Angesichts heterogener Strukturen der Bankenlandschaften in den 25 EU-Mit-
gliedstaaten könnte die Entwicklung eines solchen europäischen Aufsichtssys-
tems vorsehen, dass die Aufsicht über nur national tätige Unternehmen bei den
nationalen Aufsichtsbehörden innerhalb des europäischen Aufsichtssystems
verbleibt. So könnten Institutsnähe und detaillierte Kenntnis der heimischen
Institute nach wie vor von nationaler Aufsichtsseite sachgerecht eingebracht
werden.

Die grenzüberschreitend tätigen Unternehmen mit systemischer Relevanz wür-
den hingegen dem europäischen Aufsichtssystem unterstellt; dies muss nicht in
Form einer einzigen zentralen Aufsichtsinstitution erfolgen. Entscheidend sind
vielmehr das Bestreben und die Gewähr, einheitliche Regeln auch einheitlich
auszulegen und anzuwenden, um so Aufsichtskonvergenz zu gewährleisten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

bei der Fortentwicklung der europäischen Finanzaufsicht weiterhin eine aktive
Rolle zu spielen.

Berlin, 14. März 2006

Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion
Dr. Peter Struck und Fraktion
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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