BT-Drucksache 16/5902

Zwangsverrentung stoppen - Beschäftigungsmöglichkeiten Älterer verbessern

Vom 4. Juli 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5902
16. Wahlperiode 04. 07. 2007

Antrag
der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky,
Dr. Martina Bunge, Werner Dreibus, Diana Golze, Dr. Barbara Höll, Katja Kipping,
Kornelia Möller, Elke Reinke, Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Dr. Axel Troost, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Zwangsverrentung stoppen – Beschäftigungsmöglichkeiten Älterer verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die frühere rot-grüne Bundesregierung aus SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN hat mit der Hartz-IV-Reform die ehemalige Arbeitslosenhilfe abge-
schafft, die nicht der Nachrangigkeitsregelung des Bundessozialhilfegesetzes
(BSHG) unterlag. Im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ist die Nach-
rangigkeit des ALG II insbesondere gegenüber anderen Transferleistungen fest-
geschrieben. Dadurch werden ALG-II-Bezieherinnen und -Bezieher gezwungen,
zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine Rente zu beantragen, auch wenn dies mit
Abschlägen von bis zu 18 Prozent verbunden ist. Die in 2005 bis 31. Dezember
2007 verlängerte sogenannte 58er-Regelung (erleichterter Bezug von ALG I
und II für Personen ab 58 Jahren) ließ den Mechanismus Zwangsverrentung
nicht wirksam werden.

Die Rente ab 67 verschärft zusätzlich das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit
im Alter und damit die Zwangsverrentung. Des Weiteren verlieren Personen,
die in Rente gezwungen werden, ihren Anspruch auf Wiedereingliederung
durch aktive Arbeitsmarktpolitik sowie die extra für diese Gruppe geschaffene
„Initiative 50plus“. Die Zwangsverrentung konterkariert zudem das vorgege-
bene Ziel der Hartz-IV-Reform, Langzeiterwerbslose verstärkt in den Arbeits-
markt zu integrieren, und insbesondere das der Rente ab 67, die auf einen hö-
heren Anteil Älterer im Arbeitsleben abzielen soll. Die Zwangsverrentung ver-
hindert diese Ziele und entlastet die Erwerbslosenstatistik.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Nachrangigkeitsregelung im SGB II dahingehend zu ändern, dass diese
nicht gilt, wenn sie abschlagsgeminderte Altersrenten zur Folge hat,

2. die Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit für die Altersteilzeit über
den 31. Dezember 2009 hinaus zu verlängern und flexible Ausstiegsmöglich-
keiten vor dem 65. Lebensjahr einzurichten bzw. zu erhalten,

3. die Beschäftigungssituation Älterer durch ein arbeitsmarkt- und wirtschafts-
politisches Gesamtkonzept zu verbessern und vermehrt berufliche Weiterbil-
dung für erwerbslose und beschäftigte Ältere zu ermöglichen sowie den Ein-

Drucksache 16/5902 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

fluss auf die betriebliche Personalpolitik durch Bonus-Malus-Systeme zu
regeln,

4. die sog. 58er-Regelung nach § 428 SGB III sowie § 65 Abs. 4 SGB II weiter
zu entwickeln und über den Zeitraum 31. Dezember 2007 hinaus zu verlän-
gern.

Berlin, den 3. Juli 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die rot-grüne Bundesregierung hat im Herbst 2003 mit der Zusammenlegung
der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeit-
suchende (Hartz IV) einen wesentlichen Paradigmenwechsel in der Sozialgesetz-
gebung beschlossen. Aus dem Gesetzestext auf Bundestagsdrucksache 15/1516
geht klar hervor, dass der Bezug von ALG II gegenüber anderen Sozialleistun-
gen nachrangig ist. Hierzu zählt grundsätzlich auch die gesetzliche Rentenver-
sicherung. Es wurde also bereits bei der Beschlussfassung zur Zusammenlegung
der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe darauf hingewiesen, dass die Nachrangig-
keit eines der Grundprinzipien des neu zu schaffenden Arbeitslosengeldes II ist.
Mehr noch, auch die Grundlage für die Zwangsverrentungsmaßnahmen wurde
deutlich aufgezeigt: Die Agentur für Arbeit hat die Möglichkeit erstens, anstelle
eines bzw. einer Hilfebedürftigen selbst einen Antrag auf Leistungen bei einem
anderen Träger zu stellen, und zweitens sollen so die Ansprüche gegen andere
Träger und der Nachrang der Leistungen der Grundsicherung für Arbeit-
suchende sichergestellt werden. Ältere ALG-II-Bezieherinnen und -Bezieher
werden somit gezwungen einen Rentenantrag zu stellen, sobald sie einen An-
spruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung haben.

Mit der schrittweisen Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre erreicht diese
Regelung zudem eine neue Qualität. So betrug der Rentenzugang aus Arbeits-
losigkeit im Jahr 2005 im Westen 21,8 Prozent bei den Männer und 22,6 Prozent
bei den Frauen. Im Osten lag die Quote sogar bei 50,4 Prozent bei den Männern
und 41,9 Prozent bei den Frauen. Es wird deutlich, wie prekär und unsicher die
letzten Jahre vor dem Übergang in den Ruhestand zunehmend sind. Auf abseh-
bare Zeit werden somit insbesondere Frauen aus den neuen Bundesländern, die
mit niedrigeren Renten und häufigerer Erwerbslosigkeit konfrontiert sind, durch
die Zwangsverrentung stärker betroffen sein.

Eine Verlängerung der Erwerbsphase um zwei Jahre ist unter diesen Umständen
nicht vertretbar. Hier werden die Widersprüche zwischen Zwangsverrentung
und Rente ab 67 überdeutlich: So lag im Juni 2006 die Quote der sozialversiche-
rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse der 60- bis 64-Jährigen bei nur
16 Prozent (Bundestagsdrucksache 16/5232). Aber gerade die Notwendigkeit
der Verlängerung der Lebensarbeitszeit war eines der zentralen Ziele bei der
Anhebung der Regelaltersgrenzen im RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz der
schwarz-roten Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD. So sei die Anhebung
der Altersgrenze und die gezielte Förderung älterer Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer auch aus ökonomischen Gründen unerlässlich. Somit konterkariert
die Bundesregierung ihre eigene Politik (Bundestagsdrucksache 16/4372).

Gleichzeitig verlieren Ältere, die aufgrund der Regelung des SGB II zwangs-
verrentet werden, auch ihren Anspruch auf Teilnahme an den Programmen der
„Initiative 50plus“, die jedoch explizit für ältere Erwerbslose geschaffen wur-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5902

den, um die schrittweise Anhebung der Altersgrenzen auf 67 zu flankieren.
Ältere Erwerbslose werden so weiter diskriminiert.

Es wird deutlich, dass die Rente ab 67 nicht auf eine längere Erwerbsphase ab-
zielt und die Hartz-Reformen nicht eine Integration in den Arbeitsmarkt anstre-
ben. Beide Reformen reihen sich ein in eine Serie von Leistungskürzungen, die
letztlich nur darauf abzielen, die Sozialkosten der Unternehmen und des Bundes
auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verlagern. Gerade auch die
Hartz-Reformen, die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und
die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe sollen die Kosten dämpfen und den
Lohndruck auf alle Beschäftigten deutlich erhöhen. Die Zwangsverrentung ist
nichts anderes als die „moderne“ Variante der arbeitsmarktpolitisch motivierten
Frühverrentung. Allerdings ist das Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt erzwun-
gen und die Kosten sind nun ausschließlich von den Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer durch die Rentenkürzung zu tragen. Daher ist es zwingend erforder-
lich, die Maßnahmen zur Zwangsverrentung aufzuheben und gleichzeitig die
Beschäftigungsquote Älterer zu erhöhen.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.