BT-Drucksache 16/5809

Soziale Sicherung verbessern - Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung verhindern

Vom 22. Juni 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5809
16. Wahlperiode 22. 06. 2007

Antrag
der Abgeordneten Kornelia Möller, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Klaus Ernst,
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Ulla Lötzer, Elke Reinke, Volker Schneider
(Saarbrücken), Dr. Herbert Schui, Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Dr. Axel Troost,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Soziale Sicherung verbessern – Verdrängung sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung verhindern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Regelungen zur geringfügigen Beschäftigung (Minijobs) und zur Beschäf-
tigung in der Gleitzone (Midijobs) stellen eine Subventionierung von Einkom-
men bis 400 bzw. 800 Euro dar. Die Subventionierung erfolgt in diesen Fällen in
Form verminderter Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge.

Ein großer Teil der Minijobber/-jobberinnen muss zu Löhnen unterhalb der
Niedriglohnschwelle arbeiten – zumeist unabhängig von der Qualifikation. Das
ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die formal arbeitnehmer/arbeitnehmerin-
nenorientierte Lohnsubvention durch Lohnzugeständnisse an die Arbeitgeber
weitergegeben wird. Die Tatsache, dass im Falle der Minijobs keine Arbeitneh-
mer/Arbeitnehmerinnenbeiträge zu den Sozialversicherungen gezahlt werden
müssen, wird als Legitimation genutzt, bei den Löhnen Abschläge vorzuneh-
men. Die etwas höheren Arbeitgeberbeiträge werden auf diesem Wege für die
Unternehmen mehr als ausgeglichen. Die Subventionierung geringfügiger Be-
schäftigung ist daher ein probates Mittel für Arbeitgeber, die Arbeitskosten
durch niedrigere Löhne zu senken. Das erklärt auch die vermeintliche Erfolgs-
geschichte der Minijobs.

Mini- und Midijobs ermöglichen keine eigene Existenzsicherung und keine ei-
genständige soziale Absicherung im Alter und bei Erwerbslosigkeit. Dies ist be-
sonders dramatisch, da ca. zwei Drittel der geringfügig Beschäftigten Frauen
sind, die somit auf die traditionelle Rolle der Zuverdienerin verwiesen werden.
Mini- und Midijobs verschärfen die geschlechtsspezifische Segregation des Ar-
beitsmarktes. Die betroffenen Frauen sind weiterhin ökonomisch vom Lebens-
partner abhängig und völlig unzureichend vor den Risiken Alter und Erwerbslo-
sigkeit abgesichert.
Die Regelungen zur geringfügigen Beschäftigung und zur Beschäftigung in der
Gleitzone verschärfen die Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Sie tragen zur
weiteren Senkung des Lohnniveaus bei und setzen Anreize zur Verdrängung re-
gulärer Beschäftigung. Da diese Form der Beschäftigung für die Arbeitgeber
kostengünstiger ist, nutzen sie die Möglichkeit und spalten reguläre, sozialver-
sicherungspflichtige Vollzeitarbeitsverhältnisse in mehrere „billigere“, weil sub-
ventionierte Beschäftigungsverhältnisse auf. Der Anstieg der Minijobs nach den

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Hartz-Reformen ist zum großen Teil nicht auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze
zurückzuführen, was durch das nahezu gleichbleibende Arbeitsvolumen und
den gleichzeitigen Rückgang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ver-
deutlicht wird. Die Subventionierung von Niedriglohnarbeit generiert keine Ar-
beitsplätze, sondern erhöht den Druck auf die Löhne und schwächt die Verhand-
lungsposition der Gewerkschaften. Hinzu kommt, dass eine geringfügige
Beschäftigung im Nebenjob auf dem Arbeitsmarkt wie eine Arbeitszeitverlän-
gerung wirkt, was beschäftigungspolitisch kontraproduktiv ist.

Betriebsfallstudien zeigen zudem, dass Minijobber/-jobberinnen nur sehr be-
dingt in den Genuss arbeitsrechtlicher Regelungen kommen. Sowohl die Ent-
geltfortzahlung im Krankheitsfall als auch Urlaub oder Kündigungsschutz sind
eher die Ausnahme, obwohl dies einen Diskriminierungstatbestand nach dem
Teilzeit- und Befristungsgesetz erfüllt. Es handelt sich faktisch um Beschäftigte
zweiter Klasse.

Dem Bericht der Bundesregierung zur Wirksamkeit moderner Dienstleistungen
am Arbeitsmarkt zufolge bieten Minijobs für Erwerbslose keine Perspektive.
Ihre Chancen, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem ersten
Arbeitsmarkt zu finden, steigen durch eine geringfügige Beschäftigung nicht.
Die Minijobs stellen keine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt dar.

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Mini- und Midijobs aufgrund
der geringen Löhne und der fehlenden sozialen Absicherung ein bedeutendes
Segment prekärer Beschäftigung darstellen, von dem vor allem Frauen betroffen
sind. Sie bieten keine Perspektiven und stellen keine Brücken in den ersten Ar-
beitsmarkt dar. Die Teilnahme an beruflicher Weiterbildung fällt äußerst dürftig
aus, weswegen kontinuierliche Dequalifikationsprozesse bewirkt werden. Hinzu
kommen die erheblichen Einnahmeausfälle für die sozialen Sicherungssysteme,
was negative Folgen für deren Finanzierbarkeit im Gesamten hat.

Wenn hingegen jede Stunde Arbeit in einem abhängigen Beschäftigungsverhält-
nis – auch wenn nur wenige Stunden pro Woche gearbeitet wird – voll sozial-
versicherungspflichtig ist, hat dies positive sozial- und arbeitsmarktpolitische
Effekte. Erstens sind geringfügig Beschäftigte eigenständig sozial abgesichert,
was ihren Schutz vor den sozialen Risiken Erwerbslosigkeit, Krankheit und
Alter verbessert. Insbesondere für Frauen wird die Gefahr der Altersarmut ver-
mindert. Zweitens ist die einzelne Arbeitsstunde ohne Subventionierung für die
Unternehmen nicht mehr kostengünstiger, wodurch der Druck auf die Löhne
reduziert wird und gleichzeitig Substitutionseffekte eingedämmt werden.
Drittens können die sozialen Sicherungssysteme ihre Einnahmen erhöhen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

Maßnahmen zu ergreifen, die gewährleisten, dass jede Stunde Arbeit in einem
abhängigen Beschäftigungsverhältnis voll sozialversicherungspflichtig ist:

● Die Subventionierungen von geringfügiger Beschäftigung sowie von Be-
schäftigung in der Gleitzone werden eingestellt und entsprechende Änderun-
gen im Vierten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV, §§ 8, 8a, 20 Abs. 2) vorge-
nommen.

● Die Entlohnung muss nach den geltenden tariflichen Bedingungen, min-
destens aber entsprechend einem gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro pro
Stunde erfolgen.

Berlin, den 22. Juni 2007
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5809

Begründung

Bei den Minijobs ist in den letzten Jahren eine durchaus expansive Entwicklung
zu beobachten. Während im März 2003 bereits insgesamt ungefähr 4 838 000
Menschen geringfügig beschäftigt waren (4 135 900 ausschließlich geringfügig
Beschäftigte und 701 700 im Nebenjob geringfügig Beschäftigte), waren dies
im Juni 2006 dann schon rund 6 741 000 Menschen (4 854 000 ausschließlich
geringfügig Beschäftigte und 1 897 000 im Nebenjob geringfügig Beschäftigte).
Der Aufbau von Beschäftigung in diesem Segment des Arbeitsmarktes ist aller-
dings keinesfalls positiv zu bewerten.

Der „Boom“ der Minijobs ist zumindest zu einem beträchtlichen Teil auf den
gleichzeitigen Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zurückzu-
führen, was ein deutlicher Hinweis auf die erheblichen Mitnahme- und Verdrän-
gungseffekte der Subventionierung geringfügiger Beschäftigung ist. Die Sub-
ventionen werden abgegriffen, aber es entsteht keine neue Beschäftigung. Allein
zwischen Dezember 2003 und Dezember 2004 haben die sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um eine Million abgenommen. Denn
trotz einer ansteigenden Zahl von Minijobs ist das Arbeitsvolumen leicht zu-
rückgegangen: im Jahr 2002 haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ins-
gesamt noch 47 916 Millionen Arbeitsstunden geleistet, im Jahr 2004 dagegen
nur noch 47 249 Millionen und im Jahr 2006 dann lediglich noch 47 021 Milli-
onen. Da die Minijobs weder eine eigenständige Existenzsicherung noch eine
ausreichende soziale Absicherung ermöglichen, wird es bei tendenziell sinken-
dem Arbeitsvolumen für diejenigen schwieriger einen angemessenen Arbeits-
platz zu finden, die mit ihrer Erwerbstätigkeit eigenständig ihr Leben unterhal-
ten wollen bzw. müssen.

Die These, dass Minijobs zur Verdrängung von sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnissen führen, wird auch durch verschiedene wissen-
schaftliche Untersuchungen gestützt. So wurde bei einer Auswertung der
Betriebsstättendatei der Rentenversicherung festgestellt, dass die Zahl der
geringfügigen Beschäftigten zu einem deutlich höheren Anteil in Betrieben
zugenommen hat, die die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung reduziert
haben (vgl. Kaldybajewa et al. 2006: Minijobs – Instrument für Beschäftigungs-
aufbau oder Verdrängung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung?,
RV aktuell 4).

Besonders die hohe Zahl von mittlerweile fast zwei Millionen im Nebenjob ge-
ringfügig Beschäftigten muss bedenklich stimmen. Selbst wenn Minijobs eine
Brücke zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung darstellen würden,
wäre eine solche Brückenfunktion, die auch noch subventioniert wird, für solche
Minijobber/-jobberinnen gar nicht notwendig. Die Subventionierung von ge-
ringfügiger Beschäftigung im Nebenerwerb ist vielmehr eine „außerordentlich
günstige Hinzuverdienstmöglichkeit“ (vgl. Brandt 2005: Mini- und Midijobs im
Kontext aktivierender Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, WSI-Diskussionspa-
pier), die de facto eine individuelle Arbeitszeitverlängerung darstellt und somit
beschäftigungspolitisch kontraproduktiv ist. Die Subventionen werden „mitge-
nommen“, aber keine neuen Arbeitplätze geschaffen. Speziell Selbständige und
Beamte im Nebenerwerb sind für die Unternehmen attraktiv, da sie bereits privat
versichert sind und daher für die Arbeitgeber auch noch die Krankenversiche-
rungspauschale entfällt.

Auch die These, dass die arbeitnehmer/arbeitnehmerinnenorientierte Subven-
tionierung in Form geringerer Löhne an die Arbeitgeber weitergegeben wird,
lässt sich belegen. Im Bereich der Minjobs sind die Löhne ausgesprochen nied-
rig: Rund 86 Prozent der geringfügig Beschäftigten arbeiten zu Stundenlöhnen
unterhalb der Niedriglohnschwelle (vgl. Kalina/Weinkopf 2006: Mindestens

sechs Millionen Niedriglohnbeschäftigte in Deutschland: Welche Rolle spielen
Teilzeitbeschäftigung und Minijobs?, IAT-Report 2006-03).

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