BT-Drucksache 16/4311

Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages sowie der Fraktion DIE LINKE. durch den Verfassungsschutz (zweite Nachfrage zu Bundestagsdrucksachen 16/1590 und 16/3694)

Vom 7. Februar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4311
16. Wahlperiode 07. 02. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Monika Knoche, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Dagmar
Enkelmann, Katja Kipping, Cornelia Hirsch, Heike Hänsel, Kersten Naumann, Elke
Reinke, Dorothee Menzner, Katrin Kunert, Kornelia Möller, Bodo Ramelow, Jörn
Wunderlich, Ulrich Maurer, Paul Schäfer (Köln), Frank Spieth, Dr. Diether Dehm,
Klaus Ernst, Roland Claus, Hüseyin-Kenan Aydin, Lutz Heilmann, Dr. Norman Paech,
Wolfgang Gehrcke, Jan Korte, Dr. Dietmar Bartsch und der Fraktion DIE LINKE.

Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages
sowie der Fraktion DIE LINKE. durch den Verfassungsschutz
(zweite Nachfrage zu Bundestagsdrucksachen 16/1590 und 16/3964)

Die Bundestagsfraktion DIE LINKE. wird vom Bundesamt für Verfassungs-
schutz beobachtet. Der Geheimdienst hält Angaben über die parlamentarische
Tätigkeit der Abgeordneten „sach- und personenbezogen in einer diesbezüg-
lichen Sachakte“ fest. Das hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. vom 21. Dezember 2006 eingeräumt
(Bundestagsdrucksache 16/3964). Der Fraktion wird unterstellt, es gebe „tat-
sächliche Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen“.

Die Bundesregierung gibt zwar an, „selbstverständlich“ setze das Bundesamt für
Verfassungsschutz bei der Überwachung gewählter Abgeordneter keine nach-
richtendienstlichen Mittel ein. Die Fragesteller halten allerdings im Zusammen-
hang mit Geheimdiensten schon lange nichts mehr für selbstverständlich. Dass
sich die Bundesregierung weigert, nähere Angaben zu den „Sachakten“ zu ma-
chen, muss daher Verdacht erwecken. Würden tatsächlich nur öffentlich zugäng-
liche Quellen ausgewertet, wäre die Sachakte nichts weiter als eine Zettelsamm-
lung, dann wäre nicht einzusehen, welche Geheimnisse der Verfassungsschutz
zu verlieren hätte, gewährte er der Fraktion uneingeschränkte Einsicht.

Dass sehr wohl nachrichtendienstliche Mittel gegen Angehörige der Fraktion
DIE LINKE. eingesetzt werden, ist bekannt und vom Bundesamt bzw. einzelnen
Landesämtern für Verfassungsschutz auch eingeräumt worden, wenngleich je-
weils ohne nähere Angaben zu machen. Es stellt sich damit die Frage, inwiefern
tatsächlich eine strikte Trennung zwischen der Überwachung von Abgeordneten
und der Überwachung der Fraktion eingehalten wird oder ob die „Sachakte“
nichts weiter ist als eine Anreicherung der bereits vorhandenen Akten in Bun-
desamt und Landesämtern für Verfassungsschutz.
Nach Ansicht der Fraktion DIE LINKE. ist die Aussage der Bundesregierung,
das Bundesverfassungsschutzgesetz kenne keine „privilegierende Sonder-
behandlung von Mitgliedern parlamentarischer Körperschaften“ so nicht halt-
bar. Einschränkungen bzw. Verbote der Überwachung von Abgeordneten erge-
ben sich zumindest aus den verfassungsrechtlich geschützten Statusrechten von
Abgeordneten, insbesondere der Gewährleistung der Immunität, der Indemnität
und dem Grundsatz des freien Mandats.

Drucksache 16/4311 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Vor allem aber muss in Frage gestellt werden, dass überhaupt eine ganze Frak-
tion des Deutschen Bundestages von einem Geheimdienst beobachtet wird. Dass
sich die Fraktion DIE LINKE. konsequent für soziale Rechte, für die Vertei-
digung demokratischer Grundrechte und gegen Bundeswehreinsätze im Aus-
land engagiert, mag geeignet sein, bei der Bundesregierung Ängste um ihren
Machterhalt auszulösen. Eine Rechtfertigung, den Verfassungsschutz mit der
Überwachung der Fraktion zu beauftragen und diese unter den Verdacht des
„Extremismus“ zu stellen, bietet die politische Haltung der Fraktion aber nicht.
Es ist immer noch die Aufgabe des Deutschen Bundestages, die Arbeit der
Regierung zu kontrollieren und zu überwachen, nicht umgekehrt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Haben die Verfassungsschutzbehörden von Bund oder Ländern auch über
andere Fraktionen des Deutschen Bundestages „Sachakten“ angelegt oder
haben sie dies in früheren Legislaturperioden getan, und wenn ja, welche
Fraktionen oder Gruppen waren hiervon betroffen?

2. Seit wann existiert die Sachakte zur Fraktion DIE LINKE.?

3. War die Tätigkeit der fraktionslosen Abgeordneten Gesine Lötzsch und Petra
Pau in der 15. Wahlperiode ebenfalls Gegenstand einer Sachakte?

4. Werden von der Sachakte auch Aktivitäten der Wahlkreisbüros der Abgeord-
neten erfasst, und wenn ja, sind demzufolge die Mitarbeiter der Wahlkreis-
büros ebenfalls Beobachtungsgegenstand?

5. Gibt es nach Ansicht der Bundesregierung verfassungsrechtliche Einschrän-
kungen hinsichtlich der Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bun-
destages, und unterscheidet sie hierbei zwischen der Anwendung nachrich-
tendienstlicher und anderer Methoden (bitte begründen und ggf. darlegen,
welche Einschränkungen bestehen)?

6. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass die Beeinträch-
tigung der Tätigkeit eines Abgeordneten immer auch eine Beeinträchtigung
der Funktionsfähigkeit des Parlaments ist und dies bei einer Verhältnismäßig-
keitsprüfung berücksichtigt werden muss (bitte begründen)?

7. Nimmt das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Abwägung vor zwischen
ihrem Interesse an der Beobachtung der Fraktion DIE LINKE. und den ver-
fassungsrechtlich garantierten Statusrechten der Abgeordneten, insbesondere
den Grundsätzen der Immunität, Indemnität und dem freien Mandat, und
wenn ja,

a) bezieht sich diese Verhältnismäßigkeitsprüfung nur auf die Fraktion als
Ganze oder auf alle Fraktionsangehörigen, und wie gestaltet sich die
Abwägung,

b) bezieht sich diese Abwägung auf die Verdachtsanforderungen, die der
Beobachtung zugrunde liegen (ggf. erläutern)?

8. Nimmt das Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Beobachtung der Frak-
tion DIE LINKE. sowie einzelnen Abgeordneten eine Abwägung mit dem
Grundsatz der kommunikativen Freiheit vor, und wenn ja, wie gestaltet sich
diese Abwägung und welchen Wert räumt die Bundesregierung der kommu-
nikativen Freiheit zu?

9. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass der Indemnitäts-
schutz aus Artikel 46 Abs. 1 des Grundgesetzes zumindest im innerparlamen-
tarischen Bereich jegliches Zur-Verantwortung-Ziehen durch staatliche Stellen
ausschließt und es daher unzulässig ist, das Abstimmungsverhalten, Äußerun-

gen im Plenum, in Fraktion und Arbeitskreisen sowie Drucksachen u. a. zum
Anlass für Maßnahmen der Geheimdienste zu nehmen (bitte begründen)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4311

10. Sind die Landesämter und das Bundesamt für Verfassungsschutz angewie-
sen, bei der Beobachtung außerparlamentarischer, aber im Zusammenhang
mit der Parlamentstätigkeit stehender Aktivitäten und Äußerungen von
Bundestagsabgeordneten eine sorgfältige, auf den Einzelfall abgestimmte
Abwägung zwischen dem Grundsatz der Indemnität und dem staatlichen
Motiv an der Überwachung vorzunehmen (bitte begründen und ggf. dar-
legen, wie sich die Abwägung gestaltet)?

11. Nimmt das Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Überwachung von
Bundestagsabgeordneten eine Unterscheidung in Parlaments- und Partei-
funktionen vor, und wenn ja, wie berücksichtigt die Bundesregierung dabei,
a) dass parlamentarische von parteipolitischen Funktionen nicht durchge-

hend und sinnvoll getrennt werden können, weil ohne die Einbindung in
Parteien kaum ein Bürger ein Bundestagsmandat erreichen kann,

b) dass das Grundgesetz in Artikel 21 Parteien einen besonderen Verfas-
sungsrang gewährt?

12. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass der Grundsatz
des freien Mandats, der Abgeordnete von jeglicher ungewollter Beein-
flussung schützen soll, sich auf die gesamte Tätigkeit der Abgeordneten
erstreckt und also auch außerparlamentarische, aber in Zusammenhang mit
der parlamentarischen Tätigkeit stehende Aktivitäten und Äußerungen
umfasst (bitte begründen)?

Wie bewertet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Feststel-
lung des Oberverwaltungsgerichts Münster, das von der „Freiheit parlamen-
tarischer Willensbildung von nachrichtendienstlichen Mitteln“ sprach?

13. Wie verträgt sich das Gebot, grundsätzlich eine Einzelfallentscheidung zu
treffen, mit der Anlage einer Sachakte, welche die Tätigkeiten aller oder
zumindest mehrerer Abgeordneter festhält?

14. Hat die Bundesregierung Überlegungen dahingehend angestellt, dass die
Kenntnis von der Überwachung durch Verfassungsschutzbehörden Ab-
geordnete zu einem Vermeidungsverhalten motivieren könnte, um die
weitere Anreicherung der Sach- und/oder Personalakte zu vermeiden, und
wie bewertet die Bundesregierung dies vor dem Hintergrund des verfas-
sungsrechtlich verbürgten Grundsatzes des freien Mandats?

15. Hat die Bundesregierung Überlegungen dahingehend angestellt, dass die
Kenntnis von der Existenz einer „Sachakte“ aufgrund des stigmatisierenden
Effekts dazu führen könnte, dass Abgeordnete auf andere Angehörige der
gleichen Fraktion Druck ausüben, um ein Vermeidungsverhalten wie in der
Vorfrage skizziert zu bewirken, und wie bewertet die Bundesregierung dies
vor dem Hintergrund des Grundsatzes des freien Mandats?

16. Berücksichtigt das Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Überwachung
der Fraktion Die LINKE., dass sich Abgeordnete und andere Bürgerinnen
und Bürger von Gesprächen und Zusammenkünften mit solchen Abgeord-
neten, die der Überwachung durch Verfassungsschutzbehörden unterliegen,
durch eben diese Überwachung abgeschreckt sehen könnten?

Wie beurteilt die Bundesregierung die hieraus möglicherweise resultierende
Einschränkung des freien Mandats?

17. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass die in der Vor-
frage skizzierten Einschränkungen der Tätigkeit von Angehörigen der Frak-
tion DIE LINKE. dieselbe gegenüber anderen Fraktionen benachteiligen
und sich diese Einschränkungen nachteilig in Wahlkämpfen auswirken
könnte (bitte begründen)?

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18. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, es mache bei der
Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Verfassungsschutz-
behörden keinen maßgeblichen Unterschied, ob daraus resultierende Beein-
trächtigungen der Abgeordnetentätigkeit intendiert sind oder nur „unbeab-
sichtigt“ daraus resultieren, und es mache weiterhin keinen maßgeblichen
Unterschied, ob sich die Auswirkungen auf den Status der Abgeordneten als
rechtliche Wirkung gestalten oder als politische Wirkung (faktische Aus-
höhlung des Status) (bitte begründen)?

19. Unterstellt, das Bundesamt für Verfassungsschutz wende bei Anlage und
Führung der Sachakte zur Fraktion DIE LINKE. keine nachrichtendienst-
lichen Mittel an, sondern werte lediglich öffentlich zugängliche Publikati-
onen aus, warum ist dann mit einer solchen Arbeit nicht eine andere Behör-
de, beispielsweise die Pressestelle im Bundesinnenministerium, beauftragt?

Wurden entsprechende Überlegungen angestellt, wenn ja, mit welchem Er-
gebnis?

20. Ist die Aussage, bei der Führung der Sachakte würden keine nachrichten-
dienstlichen Mittel eingesetzt, so zu verstehen, dass der Einsatz nachrich-
tendienstlicher Mittel gegen Fraktionen und/oder Angehörige des Bundes-
tages grundsätzlich ausgeschlossen ist, oder handelt es sich hier lediglich
um die Beschreibung eines aktuellen Zustands und können die Verfassungs-
schutzbehörden jederzeit zur Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel
übergehen?

21. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass das Bundesamt für Verfas-
sungsschutz die Sachakte dazu verwendet, andere Akten oder Dateien des
Bundesamtes oder der Landesämter über einzelne Abgeordnete oder die Frak-
tion als Ganzes anzureichern, die Sachakte also lediglich als Ergänzung zu an-
deren Überwachungsformen dient (bitte ggf. die Mechanismen erläutern)?

22. Gibt es nach Ansicht der Bundesregierung auch hinsichtlich einer „Sachak-
te“ einen Rechtsanspruch auf Berichtigung, Sperrung oder Löschung gemäß
den §§ 12,1, 12,2 sowie 13 des Bundesverfassungsschutzgesetzes, und
wenn nein, warum nicht?

23. Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass die Auswertung öffentlich zu-
gänglicher Quellen kein tendenziöses, sondern ein zutreffendes Bild von der
parlamentarischen Tätigkeit der Fraktion DIE LINKE. ergibt, und welche
Quellen werden hierfür ausgewertet?

24. Wie begründet die Bundesregierung ihre Furcht, weitere Angaben zur Ar-
beitsmethode des Bundesamtes könnten Rückschlüsse auf dessen Arbeits-
weise zulassen, wenn es sich ohnehin nur um die Auswertung öffentlicher
Publikationen handelt?

25. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, eine Überwachung
von Bundestagsabgeordneten habe per se bundesweite Bedeutung, so dass
das Bundesamt für Verfassungsschutz in jedem Fall von entsprechenden
Tätigkeiten der Landesämter Kenntnis haben müsste (bitte begründen)?

26. Hat die Bundesregierung Überlegungen angestellt, die Landesämter anzu-
weisen, die Überwachung von Bundestagsabgeordneten sowie der Fraktion
DIE LINKE. einzustellen?

Berlin, den 6. Februar 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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