BT-Drucksache 16/3698

Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile vorlegen (Nachteilsausgleichsgesetz - NAG)

Vom 30. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3698
16. Wahlperiode 30. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder,
Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Dr. Martina Bunge, Roland Claus, Diana
Golze, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, Dr. Barbara Höll, Katja Kipping, Katrin
Kunert, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Dorothee Menzner, Elke Reinke,
Volker Schneider (Saarbrücken), Frank Spieth, Dr. Kirsten Tackmann, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile vorlegen
(Nachteilsausgleichsgesetz – NAG)

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

I. im Jahr 2007 ein Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile
(NAG) vorzulegen, dass dem Ziel

a) der Vereinheitlichung des Behindertenrechts/der gesetzlichen Gleichstel-
lung aller behinderten Menschen untereinander und mit nicht behinderten
Menschen,

b) eines bedarfsdeckenden Ausgleichs behinderungsbedingter Nachteile und

c) der Stärkung der selbstbestimmten Teilhabe behinderter Menschen am Ge-
meinschaftsleben

gerecht wird.

II. Im Gesetz sind als wesentliche Inhalte festzuschreiben:

1. Das Gesetz (NAG) gleicht behinderungsbedingte Nachteile in allen gesell-
schaftlichen Bereichen für jede Behinderungsart ab einem Grad der Behinde-
rung (GdB) von 50 unter Zugrundelegung einheitlicher Maßstäbe aus.

2. Schwerpunkt der Nachteilsausgleichsleistungen wird personale Assistenz in
vielfältigen Erscheinungsformen sein. Dabei richtet sich der Umfang perso-
naler Assistenz am individuellen Bedarf des behinderten Menschen aus. Das
neue sog. Persönliche Budget soll durch einmalige und/oder regelmäßige
Leistungen erweitert werden können, wenn der behinderte Mensch im Ein-

zelfall plausible Mehrbedarfe hat; insbesondere bei Kindererziehung und
Elternassistenz, Kleiderkosten, Reisekosten (auch für Assistentinnen und
Assistenten), Reinigungskosten, Wohnraum, Wärme, Heil- und Hilfsmitteln,
behinderungsadäquater Größe und Ausstattung von Personenfahrzeugen etc.
Um dem Prinzip der Selbstbestimmung Rechnung zu tragen, verfügen die
Anspruchsberechtigten dem Leistungszweck entsprechend frei über die Ver-
wendung dieser NAG-Leistungen.

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3. Das Finalitätsprinzip ist konsequent umzusetzen, das heißt, es gilt aus-
schließlich das Prinzip „gleiche Leistungen bei vergleichbaren behinde-
rungsbedingten Erschwernissen“. Gleiche, vergleichbare und/oder ähnliche
Leistungen, die zurzeit nach verschiedenen Gesetzen und Verordnungen
erbracht werden, werden zusammengezogen und – wo erforderlich – den
gegenwärtigen Bedürfnissen und neuen technischen Möglichkeiten ange-
passt.

4. Die Leistungen können nur zweckgebunden verwendet werden. Bei der
Inanspruchnahme von Leistungen im Rahmen des neuen Persönlichen
Budgets sind diese an die Person der/des Anspruchsberechtigten gebunden.
Sie stehen ihr/ihm unabhängig von ihrer/seiner Wohnform, dem Familien-
stand und/oder der Arbeitsweise bzw. Ausbildungsform zu. Sollten Ver-
änderungen den Budgetbedarf (Assistenzbedarf in Stunden) verändern, ist
die Leistung zum Zeitpunkt des Beginns dieser Veränderung anzupassen.

5. Das Verhältnis zwischen den Anspruchsberechtigten und ihren Assisten-
tinnen und Assistenten bzw. Trägereinrichtungen bleibt vertraglichen Rege-
lungen vorbehalten. Assistentinnen und Assistenten können auch Ehe- oder
Lebenspartnerinnen bzw. -partner sein.

6. NAG-Leistungen sind als einkommens- und vermögensunabhängige An-
sprüche auszugestalten. NAG-Leistungen sind im Sinne des Steuerrechts
kein Einkommen der Anspruchsberechtigten.

7. Die Höhe der konkret zu gewährenden Leistungen soll grundsätzlich nach
bundeseinheitlich festgelegten Maßstäben erfolgen. Regionale Abweichun-
gen können nur Tarifunterschiede in der Bezahlung von Assistentinnen
bzw. Assistenten und/oder andere – regional übliche – Preisunterschiede
ausgleichen. Bei Umzügen innerhalb Deutschlands erfolgt keine Neufest-
stellung des Leistungsanspruchs. Der Leistungsanspruch soll auch bei Aus-
landsreisen in angemessenem Umfang bestehen.

8. Leistungen sind über einen Zeitraum von fünf Jahren zu bewilligen. Ein Ab-
weichen von diesen Regelungen ist nur zugunsten der Anspruchsberechtig-
ten zulässig. Sollten sich die Erfordernisse während der Laufzeit zugunsten
der/des Anspruchsberechtigten verbessern, so dass geringere Leistungen er-
forderlich sind, ist diese/dieser verpflichtet, dies unverzüglich anzuzeigen
und den neuen Bedarf geltend zu machen.

9. Die Ausführung des NAG wird den Versorgungsämtern übertragen. Ihnen
wird auch die mit dem Gesetz in Zusammenhang stehende Mittelverwal-
tung anvertraut.

10. Da der Übergang vom Kausalitäts- zum Finalitätsprinzip für verschiedene
Betroffenengruppen unterschiedliche Auswirkungen haben kann, sind Über-
gangs- und Bestandsschutzregelungen zu treffen, damit niemand wegen der
Einführung dieses Gesetzes schlechter gestellt wird.

11. Die Leistungen werden aus Zahlungsverpflichtungen (von Versicherungen,
Berufsgenossenschaften, Schadensverursachern usw.) sowie aus Steuerein-
nahmen des Bundes finanziert. Dazu werden die bereits jetzt über die ver-
schiedenen Leistungsgesetze und vertraglichen Regelungen vorhandenen
Mittel bei den Versorgungsämtern gebündelt.

Berlin, den 28. November 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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Begründung

Zentrales Anliegen des geforderten Gesetzes (NAG) soll die Ermöglichung und
Absicherung der gesellschaftlichen Teilhabe und Persönlichkeitsentfaltung für
Menschen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung sein. Es könnte
wesentlich dazu beitragen, die individuellen Fähigkeiten und Neigungen zu er-
kennen, sie zu entfalten und zur Geltung zu bringen. Teilhabe und Persönlich-
keitsentfaltung umfassen alle Lebensbereiche: von der Intimsphäre über Woh-
nen, Lernen, Arbeiten, Alltagsbewältigung, Kultur, Sport, Urlaub, Freizeit-
gestaltung bis zu bürgerschaftlichem Engagement, religiöser und/oder politi-
scher Betätigung usw.

Nach wie vor unterliegen die realen Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit
Behinderung und/oder chronischer und seelischer Erkrankung größeren Er-
schwernissen als bei anderen Menschen. Das betrifft sowohl die Alltags-
bewältigung und Arbeitsplatzsuche als auch die Nutzung von Kultur- und Frei-
zeitaktivitäten. Barrieren in baulicher wie kommunikativer Hinsicht sind trotz
des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) und der Verordnungen zur Bar-
rierefreiheit vielerorts anzutreffen. Dadurch ist auch die Persönlichkeitsentfal-
tung der Betroffenen beeinträchtigt. Dem muss im Sinne des Artikels 3 des
Grundgesetzes (GG) Rechnung getragen werden.

Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit können nur hergestellt werden,
wenn behinderungsbedingte Nachteile soweit wie nur irgend möglich ausge-
glichen werden. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen sind dafür unzu-
reichend. Sie setzen in vielen Bereichen auf das ehrenamtliche Engagement der
behinderten Menschen sowie ihrer Freunde und Angehörigen. Die dadurch ent-
stehenden finanziellen, körperlichen und seelischen Zusatzbelastungen dieser
Personen werden von der Gesellschaft bisher weitgehend ignoriert. Dies wie-
derum kann bei den Betroffenen Gefühle der Ausgrenzung hervorrufen und das
gesellschaftliche Miteinander erschweren oder sogar vollends hemmen.

Schwerpunkt der Nachteilsausgleichsleistungen soll personale Assistenz in
vielfältigen Erscheinungsformen sein. Das bereits jetzt in Modellversuchen
praktizierte Trägerübergreifende Persönliche Budget soll in überarbeiteter
Form und ohne Bedürftigkeitsprüfung – also einkommens- und vermögens-
unabhängig – zum wichtigsten Instrumentarium der Nachteilsausgleichsleis-
tungen werden. Dabei richtet sich der Umfang personaler Assistenz am indivi-
duellen Bedarf des behinderten Menschen aus. (Es handelt sich hierbei nicht
um die Einführung eines Grundeinkommens für Menschen mit Behinderungen.
Es dient ausschließlich dem Nachteilsausgleich.) Die Zeit, in der Hilfe- und
Unterstützung benötigt werden, ist Ausgangspunkt der Bedarfsermittlung. Das
neue Persönliche Budget soll durch einmalige und/oder regelmäßige Leis-
tungen erweitert werden können, wenn der behinderte Mensch im Einzelfall
plausible Mehrbedarfe hat; insbesondere bei Kindererziehung und Elternassis-
tenz, Kleiderkosten, Reisekosten (auch für Assistentinnen und Assistenten),
Reinigungskosten, Wohnraum, Wärme, Heil- und Hilfsmitteln, behinderungs-
adäquater Größe und Ausstattung von Personenfahrzeugen etc. Um dem Prin-
zip der Selbstbestimmung Rechnung zu tragen, verfügen die Anspruchsberech-
tigten dem Leistungszweck entsprechend frei über die Verwendung dieser
NAG-Leistungen.

Daneben soll das Gesetz umfassend und bundeseinheitlich die Gewährung von
Sachleistungen regeln, welche dem Ausgleich behinderungsbedingter Nach-
teile dienen.

Mit dem von der Bundesregierung zu erarbeitenden Gesetz soll das Finalitäts-
prinzip konsequent umgesetzt werden. Leistungen hängen dann unter keinerlei
Umständen mehr von der Ursache der Beeinträchtigung ab. Es gilt ausschließ-

lich das Prinzip „gleiche Leistungen bei vergleichbaren behinderungsbedingten

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Erschwernissen“. Damit regelt das NAG die Ansprüche bundesweit einheitlich.
Gleiche, vergleichbare und/oder ähnliche Leistungen, die zurzeit nach verschie-
denen Gesetzen und Verordnungen erbracht werden, sollen zusammengezogen
und – wo erforderlich – den gegenwärtigen Bedürfnissen und neuen techni-
schen Möglichkeiten angepasst werden.

Davon betroffen sind insbesondere:

● Leistungen der Eingliederungshilfe (Zwölftes und Achtes Buch Sozial-
gesetzbuch – SGB XII und VIII)

● Leistungen der beruflichen Rehabilitation (SGB IX)

● Leistungen der medizinischen Rehabilitation (SGB V)

● besondere Nachteilsausgleichsansprüche für seh- und hörbehinderte Men-
schen (SGB XII)

● Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG)

● Leistungen nach der Unfallversicherung (SGB VII)

● Leistungen der Beamtenversorgung (Beihilfe)

● Leistungen aus privaten Versicherungen

● Leistungen nach der Pflegeversicherung (SGB XI).

Die angestrebte Rechtsvereinheitlichung und Zentralisierung der Verwaltung
soll die Situation der Leistungsberechtigten insgesamt verbessern. Nach dem
besonderen Leistungsrecht des BVG und des SGB VII werden Ausgleichsleis-
tungen bereits seit Jahrzehnten einkommens- und vermögensunabhängig er-
bracht. Menschen mit Behinderung und/oder chronischer und seelischer Er-
krankung, die nicht oder nicht eindeutig unter diese Regelungen fallen, sind
bisher deutlich schlechter gestellt. Das ist mit dem in Artikel 3 Abs. 1 und Arti-
kel 20 Abs. 3 GG verankerten Gebot der Rechtsetzungsgleichheit unvereinbar.
Zudem ruft die bestehende Rechtszersplitterung (kosten-)aufwändige Rechts-
streitigkeiten über Zuständigkeiten hervor, weil jede/jeder Betroffene in den
Regelungsbereich des BVG oder des SGB VII kommen will.

Mehrere Verwaltungsorganisationen laufen bisher nebeneinander her oder kon-
kurrieren miteinander. Um ihre Rechte auf Nachteilsausgleich in Anspruch
nehmen zu können, müssen behinderte und kranke Menschen häufig mit ver-
schiedenen Verwaltungsbehörden verhandeln. Werden die Leistungen nur für
ein Jahr gewährt, beginnt im unglücklichsten Fall die Frage der Zuständigkeit
dann von neuem. Das ist nicht nur kostenintensiv, sondern für die Anspruchs-
berechtigten Zeit und Nerven raubend. Notwendige Hilfen setzen dadurch nicht
immer rechtzeitig ein und können ggf. zu erhöhtem Hilfebedarf führen. Daher
sieht das Gesetz eine reguläre Überprüfung der Leistungsgewährung bei gleich
bleibender Behinderung und/oder chronischer Erkrankung erst nach einem
Zeitraum von fünf Jahren vor. Der Reduzierung von Verwaltungskosten und
Schaffung von klaren Zuständigkeiten dient auch die Regelung, dass den Ver-
sorgungsämtern die Ausführung des Gesetzes einschließlich der Mittelverwal-
tung ausschließlich übertragen wird.

Gesetzestechnisch bieten sich zwei unterschiedliche Möglichkeiten an: Ent-
weder werden alle bisher über verschiedene Gesetze verstreuten behinderten-
spezifischen Regelungen außerhalb des SGB IX in das NAG überführt und dort
ggf. neu geregelt. Oder das NAG vereinigt sämtliche behindertenspezifischen
Regelungen, also auch die des SGB IX, in einem Gesetz. Würde es bei der Be-
zeichnung SGB IX bleiben, könnten dessen Strukturen beibehalten und durch
einen dritten Teil ergänzt werden. In ihm wären dann die geforderten Regelun-

gen zu verankern.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/3698

In beiden Fällen würde das NAG zu einem starken Gesetz für Menschen mit
Behinderung und/oder chronischer Erkrankung ausgebaut und gleichzeitig das
SGB IX gestärkt werden. Die Durchsetzung des Finalitätsprinzips erfordert,
dass beispielsweise Schadensersatzansprüche nicht als (regelmäßig zu erbrin-
gende) Nachteilsausgleiche im Sinne des Gesetzes geltend gemacht werden
können. Deshalb sollen Schadensersatzansprüche wie Schmerzensgeld auch
zukünftig gesondert gezahlt werden.

Behinderungsbedingte Nachteilsausgleichsleistungen sollen sich vollständig
am individuellen Bedarf ausrichten. Ehrenamtliches Engagement von Freunden
und Angehörigen wäre dann nicht mehr zwingend notwendig, gegenseitige
Hilfe würde nur auf freiwilliger Basis erbracht. So ist der bedarfsdeckende
Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile neben dem Verbot und der stren-
gen Ahndung von Diskriminierungen jeder Art ein entscheidender Schritt zu
einem neuen Grundansatz des Miteinanders von Menschen mit und ohne Be-
einträchtigungen.

Die Leistungen sollen nur zweckgebunden verwendet werden können. Das
heißt, sie dienen ausschließlich der Herstellung und dauerhaften Gewähr-
leistung freier Entfaltungs- und gleicher Teilhabemöglichkeiten der jeweiligen
anspruchsberechtigten Menschen mit Behinderung und/oder chronischer Er-
krankung.

Im Mittelpunkt des Konzepts der Selbstbestimmung soll das Persönliche Budget
stehen. Es ermöglicht Menschen mit Behinderung und/oder chronischer Erkran-
kung, sich die Leistungen einzukaufen, die er/sie für notwendig und sinnvoll er-
achtet. Hier ist ihnen – wie jedem anderen auch – gelegentlich auch ein Recht
auf Irrtum zuzugestehen. Wenn sich diese oder jene eingekaufte Leistung als
unsinnig oder wirkungslos herausstellt, kann das korrigiert werden. Neben tech-
nischen Hilfen stehen dabei vor allem personelle Hilfen in Gestalt der persön-
lichen Assistenz im Vordergrund. Hierunter ist die am individuellen Bedarf
orientierte Hilfe bei den täglichen Verrichtungen zu verstehen. Sie wird be-
stimmt durch die Lebensrealität der auf Assistenz angewiesenen Menschen. So
besuchen auch Menschen mit einer Behinderung und/oder chronischen Er-
krankung die Schule, qualifizieren sich für einen Beruf, ziehen in eine eigene
Wohnung, absolvieren eine Ausbildung oder ein Studium an einer Hochschule,
sind Arbeitnehmer, Angestellte, Beamte, Kunden, Geschäftspartner, Steuer-
zahler, Wähler, Eltern, Urlauber usw. Doch in all diesen Lebenssituationen kann
es immer wieder vorkommen, dass diese Menschen sehr verschiedenartige Ver-
richtungen aufgrund ihrer Beeinträchtigungen nicht selbst ausführen können.
Gerade deshalb ist eine kontinuierliche Arbeitstätigkeit von Assistenzpersonen
erforderlich, welche auf die situationsbedingten Bedürfnisse flexibel reagieren
können. Die Form des „Arbeitgebermodells“ kann daher eine geeignete Art der
Umsetzung sein. Die Aufsplittung in Einzelleistungen wäre in diesem Zusam-
menhang schon allein deshalb nicht sinnvoll, weil nicht planbare pflegerische
Leistungen im großen Umfang parallel zu anderen Leistungen anfallen. Die
Kontinuität der der Arbeitstätigkeit von Assistenzpersonen soll das Gesetz u. a.
durch die Regelung stärken, dass im Falle eines Umzugs des Anspruchsberech-
tigten bei Mitnahme von Assistenzpersonen auf Antrag bis zu zwölf Monate
lang die höhere Leistung des ehemaligen Wohnorts gezahlt werden kann.

Zudem wird die persönliche Assistenz ortsunabhängig und zeitlich ungebunden
gesichert. Sie kann überall in Anspruch genommen werden, also auch in Regio-
nen, in denen kein ambulanter Dienst oder eine Sozialstation existiert. Gerade um
diese Flexibilität der Inanspruchnahme von Assistenzleistungen sowohl in ört-
licher als auch in zeitlicher Hinsicht abzusichern, soll das Gesetz auf konkrete
Regelungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den Anspruchsberechtigten

und deren Assistenten verzichten. Gleiches gilt für Trägereinrichtungen, soweit
sich Anspruchsberechtigte für diese Unterstützungsform entscheiden.

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Der Vorrang persönlicher Assistenz wird auf längere Sicht in vielen Fällen auch
kostengünstiger sein, als wenn die Hilfe durch professionelle Dienste und Trä-
gerereinrichtungen durchgeführt würde. Denn die Organisation der pflegenden
Assistenz wird vollständig den Anspruchsberechtigten bzw. ihren Betreuern
übertragen. Eingespart werden daher Kosten der Verwaltungsorganisation –
insbesondere die bei einem ambulanten Dienst bzw. einer Trägereinrichtung an-
fallenden Kosten für Geschäftsmiete, Telefongebühren, Teambesprechungen,
Fahrzeiten, Arbeitszeitausgleich etc.

Persönliche Assistenz kann sich zu einem eigenständigen Berufsbild ent-
wickeln. Schon jetzt gibt es Schulungen, welche auf die Tätigkeit als Alltags-
assistentin bzw. Alltagsassistent vorbereiten. In ihnen werden neben pflege-
rischen Inhalten auch psychosoziale Komponenten (Nähe- und Distanzbezie-
hung) sowie praktische Tätigkeiten (Heben, Tragen, Rollstuhltraining etc.) ge-
lehrt. Dieser Ansatz sollte ausgebaut und konzeptionell weiterentwickelt
werden. Das Gesetz bietet die Chance, den Umbau zu einer – durchaus personal-
intensiv angelegten – Dienstleistungsgesellschaft voranzubringen. So ist auch in
diesem Zusammenhang der Begriff „Paradigmenwechsel“ zutreffend. Denn im
Hinblick auf die demographische Entwicklung wird der Einsatz qualifizierter
Assistentinnen und Assistenten stark an Bedeutung gewinnen. Wie der sog.
Fünfte Altenbericht der Bundesregierung bestätigt, müssen zur Bewältigung der
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zukunft die Potenziale älterer Men-
schen, zu denen zunehmend behinderte Menschen gehören, genutzt werden.
Das setzt voraus, dass deren autonome Lebensform (ggf. mit Hilfe von Assis-
tentinnen bzw. Assistenten) so lange wie möglich erhalten bleibt.

Die Europäische Kommission stellte in wissenschaftlichen Untersuchungen
längst fest, dass die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung einen wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Mehrwert hat und fordert, die aktive
Mitwirkung der Betroffenen als grundlegendes Prinzip in den Mitgliedstaaten
zu etablieren. Hierzu gibt es zahlreiche Erklärungen und Richtlinien wie etwa
die Standard Rules der Vereinten Nationen oder Artikel 13 des EG-Vertrags
(Amsterdamer Fassung). Noch 2006 ist mit einer UN-Menschenrechtskonven-
tion zugunsten von Menschen mit Behinderung zu rechnen. Der menschen-
rechtsorientierte Ansatz muss auch für Menschen mit Behinderung gelten und
ihnen die gleichen Grundrechte sowie den Zugang dazu einräumen wie ihren
Mitmenschen. Diese Prinzipien werden von der Europäischen Kommission im
Jahr 2007, dem Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle, erneut
thematisiert werden. Da die Bundesrepublik Deutschland im ersten Halbjahr
2007 die EU-Ratspräsidentschaft inne hat, stünde es ihr gut zu Gesicht, eine
diesbezügliche innerstaatliche Regelung einzuführen. Gleichzeitig würde sie
damit den Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates gerecht, das
am 7. April 2006 den „Aktionsplan zur Förderung der Rechte und der uneinge-
schränkten Teilnahme von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft:
Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen in Europa
2006–2015“ verabschiedete.

Auch Forschungsarbeiten an deutschen Universitäten sowie konzeptionelle
Vorarbeiten Betroffener und ihrer Selbsthilfeorganisationen belegen die Not-
wendigkeit, überkommene Fürsorgemaßnahmen zugunsten moderner Selbst-
verwirklichungsinstrumente weiterzuentwickeln. Dies entspricht dem heutigen
Stand des gesellschaftlichen Miteinanders, der gesamtgesellschaftlichen Pro-
duktivität sowie der ethischen Grundsätze der Aufklärung bzw. der religiös
begründeten Nächstenliebe. Die defizitorientierte Sichtweise ist von einem res-
sourcenorientierten Ansatz abzulösen. Dazu gehört außerdem eine konsequente
Ächtung und Ahndung von Diskriminierungen jeder Art. Der entscheidende
Schritt zu einem neuen Grundansatz des Miteinanders von Menschen mit und

ohne Beeinträchtigungen ist der bedarfsdeckende Ausgleich behinderungs-
bedingter Nachteile.

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