BT-Drucksache 16/13791

Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz)

Vom 14. Juli 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/13791
16. Wahlperiode 14. 07. 2009

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Wolfgang Neskovic, Heidrun Bluhm, Dr. Martina Bunge,
Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Klaus Ernst, Diana Golze, Cornelia Hirsch,
Dr. Barbara Höll, Dr. Lukrezia Joachimsen, Katja Kipping, Jan Korte, Ulrich Maurer,
Kersten Naumann, Dr. Norman Paech, Petra Pau, Bodo Ramelow, Elke Reinke,
Paul Schäfer (Köln), Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Axel Troost, Alexander Ulrich, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz)

A. Problem

Soziale Grundrechte sind eine unabdingbare Voraussetzung für ein würdiges Le-
ben in einer sozial gerechten Gesellschaft. Der Schutz der Menschenwürde in
Artikel 1 des Grundgesetzes (GG) und das elementare, unabänderliche Sozial-
staatsprinzip (Artikel 20 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 3 GG)
legen die Sozialpflichtigkeit des Staates fest. Er ist verpflichtet, sich für soziale
Sicherheit und soziale Gerechtigkeit zu engagieren.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes verzichteten 1948/1949 auf die kon-
krete Regelung einzelner sozialer Grundrechte. Das Grundgesetz sollte als Pro-
visorium lediglich für eine Übergangszeit gelten. In den Artikeln 20 und 28 des
Grundgesetzes wurde die Bundesrepublik Deutschland jedoch grundsätzlich
darauf festgelegt, „sozialer Bundesstaat“ bzw. „sozialer Rechtsstaat“ zu sein.

Die bislang nicht erfolgte verfassungsrechtliche Konkretisierung des Sozial-
staatsgebots hat zu Unsicherheiten geführt. So ist unklar, welche sozialen
Grundrechte Anerkennung finden, wie weit sie als Leistungsrechte auszugestal-
ten sind und wie sie durchgesetzt werden sollen. Die unzureichende Inhalts-
bestimmung des Sozialstaatsgebots mindert seine verfassungsrechtliche Durch-
setzungskraft. Sozialabbau und die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums
zu Ungunsten sozial Schwacher konnte das Sozialstaatsgebot nicht verhindern.

Zahlreiche völkerrechtliche und supranationale Verpflichtungen der Bundes-
republik Deutschland, nach denen ein bestimmter Mindeststandard an sozialen
Menschenrechten gewährleistet ist, gebieten die Aufnahme sozialer Grundrech-
te in das Grundgesetz. So bemängelt beispielsweise der 4. Periodische Bericht
über die Durchführung des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte der Vereinten Nationen in der Bundesrepublik Deutschland vom
31. August 2001, dass „die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im
Vertragsstaat weniger Beachtung finden und geringer gesichert sind als die
zivilen und politischen Rechte.“

Drucksache 16/13791 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Auch die soziale Lage in der Bundesrepublik Deutschland erfordert eine Kon-
kretisierung des Sozialstaatsgebots. Die Massenarbeitslosigkeit stellt eine an-
dauernde Verletzung der Menschenrechte dar. Zunehmende Armut und die
wachsenden Defizite vor allem in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Gesundheits-
versorgung und Bildung müssen beseitigt werden. Die Ausrichtung der Gesell-
schaft auf schrankenlosen wirtschaftlichen Egoismus muss verhindert werden.
Im Mittelpunkt des Arbeits- und Wirtschaftslebens muss das Wohl aller Men-
schen stehen.

Die Änderung des einfachen Rechts ist für eine umfassende Sicherung der so-
zialen Bedürfnisse der Menschen zwar notwendig, jedoch allein unzureichend,
um Sozialabbau zukunftsfest wirksam zu verhindern. Auch eine Anhäufung von
Programmsätzen und politischen Absichtserklärungen im Grundgesetz ist nicht
wirksam genug.

B. Lösung

Soziale Grundrechte als Ausdruck eines neuen Entwicklungsniveaus im Staat-/
Bürgerverhältnis werden in den Normenbestand des Grundgesetzes aufgenom-
men.

Der hohe Rang, den die sozialen Grundrechte im internationalen Recht, im Län-
derverfassungsrecht sowie schließlich im Bewusstsein der Bürgerinnen und
Bürger genießen, rechtfertigt ihren Platz im Grundgesetz. Denn es ist keines-
wegs von zweitrangiger Bedeutung, ob die sozialen Rechte in der Verfassung
oder dem einfachen Gesetzesrecht aufgenommen werden.

Für das Leben jedes einzelnen Menschen unverzichtbare Inhalte des Sozial-
staatsprinzips werden in Gestalt sozialer Grundrechte zu verbindlichen, grund-
rechtlich abgesicherten Mindeststandards.

Das Sozialstaatsprinzip enthält einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber,
soziale Sicherheit zu gewährleisten und soziale Gerechtigkeit herzustellen. Da
das Prinzip „infolge seiner Weite und Unbestimmtheit regelmäßig keine un-
mittelbaren Handlungsanweisungen (enthält), die durch die Gerichte ohne
gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten“ (vgl.
BVerfGE 65, 182 (193); 82,60 (80)), ist seine Umsetzung in (Verfas-
sungs-)Rechtsnormen „in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers“ (BVerfGE 1,
97 (105); 65, 182 (193); 69, 272 (314); 70, 278 (288); 71, 66 (80); 75, 348
(359 f.); 82, 60 (80); 100, 271 (284).

Das Sozialstaatsprinzip ist – wie jedes andere Rechtsprinzip – in seiner norma-
tiven Kraft beschränkt. Einer Ableitung konkreter Rechtsfolgen sind Grenzen
gesetzt. Jedes einzelne Grundrecht ist deshalb einem Prinzip nicht nur an Klar-
heit überlegen, sondern erzwingt zugleich durch seinen konkret- spezifischen
Normtext die vom Gesetzgeber gewollte Auslegung, Anwendung, Verwirk-
lichung und Durchsetzung der Norm. Die Konkretisierung des Sozialstaatsprin-
zips verringert zugleich die Gefahr seiner unbegrenzten Auslegung. Soziale
Sicherheit wird mit der Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz ver-
fassungsrechtlich klar, rechtlich durchsetzbar und zukunftsorientiert gewährleis-
tet.

Der Gehalt der in das Grundgesetz eingefügten sozialen Grundrechte erstreckt
sich auf die wichtigsten Grundvoraussetzungen eines sozial gerechten Lebens
aller Menschen in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit, Gesundheit und so-
ziale Sicherheit. In Artikel 9 Absatz 4 GG werden Grundsätze des Streikrechts
verankert.

Darüber hinaus werden auch die Rechte der Kinder und ein der Genfer Flücht-
lingskonvention entsprechender Standard im Asylgrundrecht verankert. Dies er-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/13791

möglicht eine umfassende Partizipation aller Menschen – auch der Schwächsten
in der Gesellschaft.

Ergänzt wird die Aufnahme sozialer Grundrechte durch die in Artikel 3
Absatz 3 GG formulierten speziellen Diskriminierungsverbote im Hinblick auf
die „sexuelle Identität“, die „genetische Disposition“ und das „Alter“.

C. Alternativen

Keine

D. Kosten

Eine genaue Bestimmung der Kosten ist nicht möglich. Der Sozialstaat kostet
nicht nur Geld, sondern wirkt sich auch positiv auf die wirtschaftliche Leis-
tungsfähigkeit des Staates aus und stabilisiert die demokratische Gesellschaft
nachhaltig.

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Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz)

Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das
folgende Gesetz beschlossen; Artikel 79 Absatz 2 des
Grundgesetzes ist eingehalten:

Artikel 1

Änderung des Grundgesetzes

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in
der im Bundesgesetzblatt 1949 Teil III, Gliederungsnummer
100-1 veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert
durch …, wird wie folgt geändert:

1. Artikel 3 Absatz 3 wird wie folgt gefasst:

„(3) Niemand darf wegen des Geschlechts, der Ab-
stammung, der Sprache, der sexuellen Identität, der gene-
tischen Disposition, des Alters, der Herkunft, der sozia-
len Stellung, des Glaubens oder der religiösen oder
politischen Anschauungen oder aus rassistischen Grün-
den benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf
aufgrund einer Behinderung benachteiligt werden.“

2. Nach Artikel 3 werden folgende Artikel 3a bis 3e einge-
fügt:

„Artikel 3a

(1) Im Mittelpunkt des Arbeits- und Wirtschaftslebens
steht das Wohl der Menschen.

(2) Jeder Mensch hat das Recht auf frei gewählte oder
angenommene Arbeit.

(3) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat
das Recht auf gleichen Lohn für gleiche und gleichwerti-
ge Arbeit und das Recht auf angemessenen Lohn. Dieser
muss mindestens einen angemessenen Lebensunterhalt
sichern.

(4) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat
das Recht auf gesunde, sichere und menschenwürdige
Arbeitsbedingungen und auf Freizeit und Erholung. Der
Staat ist zur Gestaltung einer familienfreundlichen Ar-
beitswelt verpflichtet.

Artikel 3b

(1) Jeder Mensch hat das Recht auf eine bedarfsorien-
tierte soziale Sicherung. Das Recht umfasst den An-
spruch auf gegenleistungs- und diskriminierungsfreie
Sicherung des Lebensunterhalts, der mindestens die Vor-
aussetzung für ein menschenwürdiges Dasein und die
Teilhabe am Leben der Gemeinschaft gewährleistet.

(2) Der Staat ist verpflichtet, kollektive Sicherungssys-
teme für die Wechselfälle des Lebens zu schaffen. Diese
sind solidarisch zu finanzieren.

Artikel 3c

(1) Jeder Mensch hat das Recht auf eine menschenwür-
dige Wohnung und das Recht auf Versorgung mit Wasser
und Energie.

(2) Der Staat sorgt für Mieterschutz, wirkt auf ange-
messene Mieten hin und gleicht Miet- und Wohnbelas-
tungen einkommensgerecht aus. Er sichert den Zugang
zu Wasser und Energie.

(3) Die Räumung von Wohnraum ist unzulässig, wenn
kein zumutbarer Ersatzwohnraum zur Verfügung gestellt
wird.

Artikel 3d

(1) Jeder Mensch hat das Recht auf Achtung und
Schutz seiner Gesundheit und auf Inanspruchnahme der
Leistungen der gesundheitlichen Infrastruktur.

(2) Das Recht ist insbesondere durch einen sozial ge-
rechten, solidarisch finanzierten und diskriminierungs-
freien Zugang zu den Leistungen der gesundheitlichen
Vorsorge, Versorgung und Nachsorge und zu Pflegeleis-
tungen zu gewährleisten.

(3) Der Staat ist zur Gestaltung gesundheitsförderli-
cher Lebens-, Arbeits-, Wohn- und Umweltbedingungen
verpflichtet.

Artikel 3e

(1) Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. Das Recht
umfasst die integrative vorschulische Bildung, Schul-
ausbildung, berufliche Aus- und Weiterbildung, Hoch-
schulbildung und die allgemeine kulturelle und politische
Bildung und Weiterbildung. Der Zugang zu allen öffent-
lichen Bildungseinrichtungen und die Lernmittel sind un-
entgeltlich. Jeder Mensch hat das Recht, sich ein Leben
lang den eigenen Interessen folgend zu bilden.

(2) Die Bildung ist auf die volle Entwicklung der
menschlichen Persönlichkeit gerichtet. Offene Bildungs-
wege, die pädagogische Freiheit der Lehrkräfte, das
Recht der Bildungseinrichtungen auf Selbstverwaltung
im Rahmen der Gesetze und das Recht auf Mitbestim-
mung der Lernenden sind gewährleistet.“

3. Artikel 6 wird wie folgt geändert:

a) Folgender Absatz 2 wird neu eingefügt:

„(2) Jedes Kind und jeder Jugendliche hat das
Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persön-
lichkeit, auf altersangemessene Beteiligung an Ent-
scheidungen, auf gewaltfreie Erziehung und auf den
besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und
Ausbeutung. Die staatliche Gemeinschaft achtet,
schützt und fördert die Rechte der Kinder und Jugend-
lichen und trägt Sorge für kind- und jugendgerechte
Lebensbedingungen. Das Kindeswohl ist bei allen
Entscheidungen besonders zu berücksichtigen.“

b) Die bisherigen Absätze 2 bis 5 werden die Absätze 3
bis 6.

4. In Artikel 9 wird folgender Absatz 4 angefügt:

„(4) Das Streikrecht ist ohne Einschränkungen ge-
währleistet. Es umfasst auch das Recht zum politischen
Streik. Die Aussperrung ist rechtswidrig.“

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/13791

5. Artikel 16a wird wie folgt gefasst:

„Artikel 16a

(1) Jeder Mensch, der aus begründeter Furcht vor Ver-
folgung aus rassistischen Gründen oder wegen seiner po-
litischen Überzeugung, seiner Religion, der Nationalität,
seines Geschlechts, seiner sexuellen Identität, einer Be-
hinderung oder wegen seiner Zugehörigkeit zu einer be-
stimmten sozialen Gruppe flieht, erhält Asyl.

(2) Jeder Mensch, der wegen einer erheblichen Gefähr-
dung seiner körperlichen Unversehrtheit, seiner Gesund-
heit oder seines Lebens nicht in sein Herkunftsland zu-
rückkehren kann, hat Anspruch auf Schutz.“

Artikel 2

Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft.

Berlin, den 14. Juli 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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Begründung

A. Allgemeines

I. Zu den sozialen Defiziten
in der Bundesrepublik Deutschland

In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein besorgniser-
regend hoher Stand der Arbeitslosigkeit. Insbesondere Frau-
en erfahren eine gesellschaftliche Benachteiligung im Hin-
blick auf Beschäftigung und gleiche Entlohnung. Darüber
hinaus wird an Bildung und Qualifizierung gespart. Die so-
ziale Chancengleichheit im Bildungssystem und seine Qua-
lität haben sich verringert. Mehrere Studien, die in der Öf-
fentlichkeit einhellige Bestürzung bis in Regierungskreise
hervorriefen (beispielweise PISA-Test) haben ein sozial un-
gerechtes, unzureichendes Bildungsniveau nachgewiesen.
Soziale Sicherung schützt Kranke, Arbeitslose und andere
darauf Angewiesene immer weniger. Notlagen wie Ausgren-
zung, Armut und Obdachlosigkeit sind ein anhaltendes Pro-
blem. Die Sozialhilfeleistungen nach dem SGB II, SGB XII
und insbesondere nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
reichen für einen angemessenen Lebensstandard eines jeden
Menschen nicht aus. Die reformierten Systeme der sozialen
Sicherheit, Rente und Gesundheitsversorgung sind weit da-
von entfernt, die Bedürfnisse der Betroffenen in einem sozial
gerechten Maß zu berücksichtigen.

Der Dritte Armutsbericht der Bundesregierung enthält unter
anderem folgende, die Notwendigkeit sozialer Grundrechte
verdeutlichende Aussagen:

● „Ergänzende Analysen zur Einkommensverteilung auf
Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigen,
dass das Risiko der Einkommensarmut im Zeitraum von
1998 bis 2005 kontinuierlich angestiegen ist (Kernindi-
kator A.1.). Auch im Berichtszeitraum zwischen 2002 bis
2005 hat der Anteil der von einem Armutsrisiko Betrof-
fenen vor dem Hintergrund der ungünstigen konjunk-
turellen Entwicklung weiter zugenommen. Die Armuts-
risikoquote für die Gesamtbevölkerung stieg dieser
Datenbasis zufolge um 2 Prozentpunkte. Auch die Ar-
mutsrisikoquote der Erwerbstätigen verzeichnet für den
Zeitraum 2002 bis 2005 einen deutlichen Zuwachs um
3 Prozentpunkte, allerdings auf niedrigerem Niveau.
Steigende Werte zeigen auch die Daten zum Risiko der
Einkommensarmut von Kindern, Jugendlichen und jun-
gen Erwachsenen. Die steigende Armutsrisikoquote kor-
respondiert mit einer Zunahme der Abwärtsmobilität aus
mittleren Einkommensschichten“ (vgl. Bundestags-
drucksache 16/9915, S. 41).

Diese Aussagen geben Anlass zu großer Besorgnis, wenn
man beispielsweise folgende Feststellungen der Bundes-
regierung berücksichtigt:

● Einkommen und Vermögen entscheiden wesentlich über
die Handlungsoptionen des Einzelnen in der Gesellschaft
(Bundestagsdrucksache 16/9915, S. 32).

● Auch im hoch entwickelten Sozialstaat der Bundesrepu-
blik Deutschland lässt sich eine Wechselwirkung zwi-
schen der sozialen und der gesundheitlichen Lage fest-

stellen. Einerseits wird ein Teil der Gesundheitschancen
und Krankheitsrisiken durch die Bildung, das Wohn- und
Arbeitsumfeld und die erzielte Einkommensposition be-
einflusst. Andererseits können sich Gesundheitsstörun-
gen und Krankheiten, insbesondere wenn sie länger an-
dauern, nachteilig auf die Bildungs-, Erwerbs- und
Einkommenschancen auswirken und die gesellschaft-
liche Teilhabe beeinträchtigen (Bundestagsdrucksache
16/9915, S. 24).

II. Soziale Grundrechte und Menschenwürdegarantie

Soziale Grundrechte sind eine elementare Voraussetzung für
ein menschenwürdiges Leben in einer gerechten Gesell-
schaft. Unter den Bedingungen einer modernen Hochtechno-
logie-, Industrie- und Wissensgesellschaft wächst die Ge-
fahr, dass die Einzelnen die materiellen und ideellen
Bedingungen des Lebens aus eigener Kraft nicht sichern
können.

Die Gewährleistung sozialer Sicherheit für Menschen kann
nicht allein auf nationalstaatlicher Ebene realisiert werden.
Dennoch bietet gerade der nationalstaatliche neben dem eu-
ropäischen und internationalen Rechtsrahmen die Möglich-
keit, soziale Rechte zu kodifizieren und so zu sozialem Fort-
schritt beizutragen. Erforderlich sind staatlicher Schutz und
Leistungsangebote, die durch einen Grundrechtsanspruch
auf soziale (Mindest-)Standards begründet sind. Eine grund-
rechtlich abgesicherte Sozialstaatlichkeit ist die notwendige
Voraussetzung und Folge für fortschreitenden wirtschaftli-
chen, sozialen und kulturellen Wandel.

Durch soziale Grundrechte wird die Lebenslage von allen
Menschen rechtlich gesichert und tatsächlich verbessert. Da-
bei geht es vor allem um

● Existenz sichernde und zukunftsfähige Arbeit,

● soziale Sicherheit durch gegenleistungs- und sanktions-
freie Mindestsicherung und entsprechende kollektive Si-
cherungssysteme,

● gleiche und gute Bildung sowie das Recht eines jeden
Menschen auf einen Ausbildungsplatz,

● menschenwürdige Wohnungen und Zugang zu Wasser
und Energie,

● sozial gerechte und umfassende gesundheitliche Versor-
gung und Pflege im Alter,

● umfassendes, den politischen Streik beinhaltendes
Streikrecht,

● das Asylrecht.

Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes sichert – ins-
besondere im Zusammenspiel mit dem Sozialstaatsgebot –
allen Menschen gerechte Lebensgrundlagen und die Ge-
währleistung von (Mindest-)Voraussetzungen für ein men-
schenwürdiges Dasein zu. Das dafür erforderliche System
der sozialen Sicherung darf allerdings nicht erst bei existenz-
bedrohenden Notlagen und Bedürftigkeit greifen, sondern
muss Einkommens-, Versorgungs- und Lebenslagen schon
vorbeugend angemessen sichern.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/13791

III. Die Sozialstaatsverpflichtung des Grundgesetzes

Die soziale Verpflichtung des Staates schreibt das Grund-
gesetz ausdrücklich vor: „Die Bundesrepublik Deutschland
ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Artikel 20
Absatz 1 GG). Gemäß Artikel 28 Absatz 1 GG muss die
verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern „den Grundsät-
zen des … sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgeset-
zes entsprechen“. Durch die sog. Ewigkeitsklausel des
Artikels 79 Absatz 3 GG ist das Sozialstaatsprinzip gegen
eine Grundgesetzänderung, die diesen Grundsatz berührt,
gesichert. Das Grundgesetz bestimmt zudem in Artikel 14
Absatz 2 GG, dass das Eigentum „zugleich dem Wohle der
Allgemeinheit“ dienen soll.

Während das Rechtsstaatsprinzip in der Vergangenheit aus-
gestaltet wurde, unterblieb eine Konkretisierung des Sozial-
staatsprinzips mit dem Hinweis auf den provisorischen
Charakter des Grundgesetzes als Verfassung für eine Über-
gangszeit bis zur Verabschiedung einer gesamtdeutschen
Verfassung. Das im Grundgesetz formulierte Sozialstaats-
gebot ist nicht zuletzt deshalb inhaltlich weitgehend unbe-
stimmt geblieben.

Das Bundesverfassungsgericht hat das Sozialstaatsprinzip
zwar mehrfach als Verpflichtung des Staates interpretiert, für
einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und für eine ge-
rechte Sozialordnung zu sorgen sowie die Existenzgrund-
lagen der Menschen zu sichern und zu fördern. Die man-
gelnde Konkretisierung verursacht aber dennoch eine
weitgehende Interpretationsoffenheit und Sanktionslosigkeit
dieses Staatsprinzips. Dies mindert sowohl seinen Gehalt als
auch seine rechtliche Durchsetzungskraft. Entgegen dem der
unantastbaren Menschenwürde verpflichteten Anspruch des
Grundgesetzes entstand so eine Verfassungslücke. Nach fast
60 Jahren Geltung des Grundgesetzes und 20 Jahre nach dem
Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist es
dringender denn je geboten, diese Lücke zu schließen.

Das verfassungsrechtlich verankerte Sozialstaatsprinzip ver-
pflichtet den Staat grundsätzlich zur Gewährung sozialer Si-
cherheit, zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit, zum Aus-
gleich sozialer Ungleichheit zwischen den Menschen, zu
Vorsorge und Hilfe überall dort, wo Einzelne die Vorausset-
zungen für ein menschenwürdiges Leben nicht selbst sicher-
stellen können.

IV. Soziale Grundrechte in der deutschen
Verfassungsgeschichte

Dass soziale Grundrechte eine Voraussetzung und Ergän-
zung liberaler Grundrechte sind, zeigt sich nicht zuletzt auch
an der Debatte über soziale Verfassungsrechte. Diese ist so
alt wie die über die politischen Freiheitsrechte. Sie wurde be-
reits im Pariser Verfassungsausschuss von 1789 geführt, in
dem keine Illusionen darüber bestanden, welche Gefahren
die Freiheitsurkunde der Gesellschaft für die Wohlfahrt und
Existenzsicherung der Individuen in einer Gesellschaft ohne
soziale Rechte in sich birgt.

Die von Louis Blanc in der französischen Februarrevolution
(1848) geprägte Formel vom demokratischen und sozialen
Rechtsstaat wurde in Deutschland durch den Zweiten De-
mokratenkongress in Berlin (Oktober 1848) aufgegriffen:
„Die wichtigsten Menschenrechte sind die, für die Erhaltung
seiner Existenz und Freiheit zu sorgen“, heißt es in Artikel 2

der vom Kongress angenommenen Menschenrechtserklä-
rung.

Die Novemberrevolution 1918 ermöglichte es, in der
Weimarer Reichsverfassung den Durchbruch zur Verfas-
sungsordnung der sozialen Demokratie mit ersten sozialen
Staatszielen und Rechten zu erreichen. Dazu gehörten insbe-
sondere der Schutz der Arbeitskraft (Artikel 157), die Erhal-
tung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit als auch die Vor-
sorge gegen wirtschaftliche Folgen von Alter, Schwäche und
Wechselfällen des Lebens (Artikel 161) sowie die Voll-
beschäftigung und Sorge für den notwendigen Unterhalt
(Artikel 163). In der Weimarer Republik sprach Gustav Rad-
bruch von einem „Sozialen Rechtzeitalter“, das die Iso-
lierung des Einzelnen aufhöbe und die soziale Frage „als die
allbestimmende Grundlage des Gemeinlebens“ hervortreten
lasse (G. Radbruch, Der Mensch im Recht, 1927, S. 13 f.).
Es waren neben Unzulänglichkeiten in der verfassungsrecht-
lichen Ausgestaltung dieser Ziele und Rechte auch politische
Faktoren- nicht zuletzt die Schwäche der Arbeiter- und
Gewerkschaftsbewegung – die bald dazu führten, dass die
sozialen Grundrechte nur noch auf geduldigem Papier stan-
den und von der verfassungsrechtlichen Wissenschaft und
den Gerichten als bedeutungslose und unverbindliche Pro-
grammatik hinweggedeutet wurden.

Die nach 1945 erlassenen Länderverfassungen – in der Tra-
dition der Weimarer Reichsverfassung stehend – und vor
allem die 1992/1993 nach dem Beitritt der DDR zur Bundes-
republik Deutschland verabschiedeten Verfassungen der
neuen Bundesländer enthalten ganz überwiegend ausführ-
liche Bestimmungen über die sozialen Rechte. Letztere ver-
fügen über einen Katalog detaillierter sozialer Grundrechte
bzw. enthalten soziale Staatsziele. Damit schließen sie an die
Verfassungsentwicklung der alten Bundesländer an und
übertreffen sie quantitativ wie qualitativ. Die meisten Län-
derverfassungen in der Bundesrepublik Deutschland enthal-
ten somit Grundrechte, die über die Gewährleistungen des
Grundgesetzes hinausgehen.

Es war ein verfassungsrechtlicher Rückschritt, ein Zurück-
weichen vor den politischen Schwierigkeiten bei der Ver-
wirklichung sozialer Grundrechte, als 1948/1949 im Grund-
gesetz lediglich das Sozialstaatsprinzip, nicht aber konkrete
soziale Grundrechte an die Seite der liberalen Grundrechte
gestellt wurden. Begründet wurde dies von Carlo Schmid
(SPD), Vorsitzender des Hauptausschusses des Parlamenta-
rischen Rates, mit dem Argument, es würde „sich bei einem
Provisorium empfehlen, keine endgültige Gestaltung der Le-
bensordnungen zu versuchen und sich stattdessen zu begnü-
gen, einen recht klaren und wirksamen Katalog von Indivi-
dualrechten aufzustellen“ (zweite Sitzung des Plenums des
Parlamentarischen Rates vom 9. August 1948, zitiert nach
Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,
Band III, erster Halbband, S. 160).

Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes genießt eine hohe
Wertschätzung in der Bevölkerung. Das trifft insbesondere
auf die Menschen der neuen Bundesländer zu, die in der
DDR soziale Grundrechte in Verfassung und Verfassungs-
wirklichkeit kennen gelernt haben. Die Verfassungen der
Deutschen Demokratischen Republik maßen den sozialen
Grundrechten – im Gegensatz zu den Freiheitsrechten-
durchgängig einen außerordentlich hohen Stellenwert zu.
Die wesentlichen sozialen Menschenrechte waren in ihnen

Drucksache 16/13791 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

verankert. Angesichts dieser Erfahrungen spielte im Beitritt-
sprozess die Forderung nach sozialen Grundrechten, nach ei-
ner Weiterentwicklung des Sozialstaates der alten Bundesre-
publik in der Verfassungsdiskussion vor allem seitens der
ostdeutschen Bevölkerung eine besonders große Rolle.

Der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches vom
April 1990 sah – entsprechend der starken Stellung der so-
zialen Grundrechte im Verfassungsrecht der DDR – Grund-
rechte auf soziale Sicherung (Artikel 23), auf gleichen, un-
entgeltlichen Zugang zu den öffentlichen Bildungs- und
Ausbildungseinrichtungen (Artikel 24), auf angemessenen
Wohnraum (Artikel 25), auf Arbeit und Arbeitsförderung
(Artikel 27) sowie eine Reihe von sozialen Staatszielen wie
die Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes
(Artikel 20) und den Schutz der natürlichen Umwelt
(Artikel 33) vor.

Das Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund
deutscher Länder – eine unabhängige, überparteiliche Bür-
gerinitiative aus „Ost und West“ – stellte zu den sozialen
Rechten fest: „Die großartigsten Rechte helfen nichts, wenn
den Betroffenen die Voraussetzungen fehlen, diese Rechte zu
realisieren. Deshalb sind die Grundrechte auch Ausgangs-
punkt für die Verpflichtung des Staates, die sozialen Voraus-
setzungen für deren Verwirklichung zu schaffen. Im Grund-
gesetz sind die sozialen Rechte nicht weit entwickelt.“ Der
Verfassungsentwurf des Kuratoriums vom 29. Juni 1991
schlug deshalb die Aufnahme einiger sozialer Rechte und
Staatsziele in den Artikeln 7 (Recht auf Bildung), 12a (Recht
auf Arbeit, auf Arbeitsförderung, Weiterbildung oder Um-
schulung und auf „angemessene Lohnersatzleistungen“),
12b (Recht auf soziale Sicherung) und 13a (Recht auf
Wohnung) vor (Kuratorium in Zusammenarbeit mit der
Heinrich-Böll-Stiftung e. V. [Hrsg.], Vom Grundgesetz zur
deutschen Verfassung. Denkschrift und Verfassungsentwurf,
Berlin/Köln/Leipzig 1991, S. 32 f. sowie 81 ff.).

Gleichgerichtete Vorschläge zur „Weiterentwicklung des
Sozialstaates“ mittels sozialer Grundrechte unterbreitete der
Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes in sei-
nen Leitlinien vom April 1992 (Alle Staatsgewalt geht vom
Volke aus, Herausgeber: Deutscher Gewerkschaftsbund,
Bundesvorstand, Düsseldorf o. J.).

Auch eine Mehrheit in der Gemeinsamen Verfassungskom-
mission (GVK) von Bundestag und Bundesrat hat hinsicht-
lich der sozialen Grundrechte bzw. der sozialen Staatsziele
Regelungsbedarf anerkannt. Entsprechende Anträge der
Fraktion der SPD zur „Schaffung und Erhaltung von
Arbeitsplätzen“, zur „Schaffung und Erhaltung von ange-
messenem Wohnraum“ und zum „System der sozialen Si-
cherheit“ fanden am 11. Februar 1993 zwar die Zustimmung
eindeutiger Mehrheiten der anwesenden Mitglieder der
GVK; sie verfehlten aber die erforderliche Zweidrittelmehr-
heit der Kommissionsmitglieder (vgl. Bundestagsdruck-
sache 12/6000). Die SPD-Anträge entsprachen im Übrigen
einem auf dem SPD-Bundesparteitag im Mai 1991 in Bre-
men verabschiedeten Antrag „Deutschland in neuer Verfas-
sung“, der u. a. folgende Zielstellung enthielt: „Wir wollen
die ökologische und soziale Verpflichtung des geeinten
Deutschlands stärken. (…) Die bestehende Sozialstaatsver-
pflichtung werden wir durch ein Recht auf Arbeit, auf Bil-
dung und auf menschenwürdiges Wohnen präzisieren und
konkretisieren. Das Gleichgewicht zwischen den Tarifpartei-

en verlangt die Sicherung des Streikrechts und das Verbot
der Aussperrung.“

Die PDS/LL hat im Jahr 1994 einen Verfassungsentwurf im
Bundestag vorgelegt (Bundestagsdrucksache12/6570), der
sich an der Tradition des „Runden Tisches“ der DDR und des
Kuratoriumsentwurfs orientierte. Darin war u. a. eine Unter-
setzung des Sozialstaatsgebotes des Grundgesetzes durch
konkrete, individuell einklagbare soziale Grundrechte und
Staatsziele enthalten. Im Einzelnen gehörten dazu ein Recht
auf Arbeit und Arbeitsförderung, auf angemessenen Wohn-
raum, auf gesundheitliche Fürsorge sowie auf Freizeit und
Erholung. Auch auf internationaler insbesondere europäi-
scher Ebene trat die PDS für einen Bedeutungszuwachs der
sozialen Grundrechte ein. So schlug die Fraktion der PDS im
Juni 2000 einen Beschluss vor, in dem Maßgaben für die
weitere Arbeit an der Menschenrechtscharta formuliert
wurden. Darin heißt es: „Die Bundesrepublik Deutschland
tritt dafür ein, dass das Sozialstaatsprinzip in der Charta
verankert wird und politische und soziale Grundrechte glei-
chermaßen verankert werden. Bei den sozialen Grundrech-
ten bedürfen das Recht auf Arbeit, Gesundheit, Bildung,
Kultur, Wohnen und auf eine existenzsichernde Grundsiche-
rung besonderer Aufmerksamkeit“ (Bundestagsdrucksache
14/3513).

V. Die Einheit von sozialen Grundrechten
und Freiheitsrechten

Die Forderung nach Herstellung der Einheit von bürger-
lichen und sozialen Freiheitsrechten durchzieht die Ge-
schichte der Menschenrechtsentwicklung. Eine demokra-
tische Gesellschaft bedarf dieser Einheit. Erst ein
funktionierender Sozialstaat gewährleistet, dass die Inan-
spruchnahme von Freiheitsrechten und von Rechtsschutz
nicht zu einem Privileg für Einkommensstarke und Vermö-
gende wird. Nur in dem Maße, in dem die Menschen über
einklagbare soziale Grundrechte verfügen, werden auch
Freiheitsrechte für sie umfassend wirksam. Ohne ein Min-
destmaß an sozialer Gleichheit gibt es keine wirkliche Frei-
heit und umgekehrt. Insofern bedingen soziale Grundrechte
und Freiheitsrechte einander.

Bereits die Resolution 421 E (V) vom 4. Dezember 1950 be-
tont die Unteilbarkeit der Menschenrechte. In ihr wird darauf
hingewiesen, dass die Allgemeine Erklärung der Menschen-
rechte die Personen betrachtet, denen sowohl politische und
bürgerliche Freiheiten als auch soziale, wirtschaftliche und
kulturelle Rechte zugehören. Der Genuss der bürgerlichen
und politischen Freiheiten und der sozialen, wirtschaftlichen
und kulturellen Rechte sei untrennbar miteinander verbun-
den. Ein seiner wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen
Rechte beraubter Mensch sei nicht eine Person, die die De-
klaration als Ideal eines freien Menschen betrachte.

In der Resolution der Vereinten Nationen A/32/130 „Alter-
native Möglichkeiten, Mittel und Wege innerhalb des Sys-
tems der Vereinten Nationen zur besseren Sicherung einer
effektiven Ausübung der Menschenrechte und Grundfrei-
heiten“ vom 16. Dezember 1977 wird der „tiefen Überzeu-
gung“ Ausdruck gegeben, „dass alle Menschenrechte und
Grundfreiheiten eine untrennbare Einheit bilden“ und die
Vollversammlung deshalb beschließt, „dass folgende Er-
kenntnisse berücksichtigt werden sollten: a) Alle Menschen-
rechte und Grundfreiheiten sind unteilbar und wechselseitig

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/13791

voneinander abhängig; der Verwirklichung, der Förderung
und dem Schutz sowohl der politischen und Bürgerrechte als
auch der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ist
gleiche Aufmerksamkeit und dringliche Beachtung zu
schenken.“

Dem Grundgesetz liegt ein Zusammenspiel, nicht ein Ge-
gensatz der Freiheitsrechte mit den sozialen Rechten zugrun-
de. Einzig die subjektive Durchsetzbarkeit der sozialen Ge-
rechtigkeit und des sozialen Ausgleichs gegenüber dem
Staat, nicht die Rechtfertigung dieses Ausgleichs oder des-
sen Rechtsverbindlichkeit selbst, ist mit dem Grundgesetz
bisher nicht voll verwirklicht worden. Diese verfassungs-
rechtliche Entscheidung drückt sich im Sozialstaatsgebot
aus. Nicht ohne Grund ist der Rechtsstaat als Ausdruck der
Freiheitsverbürgung mit dem Sozialstaat durch die Formel
„sozialer Rechtsstaat“ verbunden worden. Wer soziale
Grundrechte nicht im Grundgesetz verbürgen will, macht da-
her sein Bekenntnis zum Sozialstaatsgebot und daher zu den
Grundprinzipien des Grundgesetzes fragwürdig.

Die sozialen Grundrechte sind Vermittler gleicher Freiheit.
Sie verändern das Übergewicht unbeschränkter wirtschaftli-
cher Freiheit zugunsten des individuellen, durchsetzbaren
Rechts eines jeden Menschen auf ein Leben in menschlicher
Würde. Dies ist zugleich oberstes Prinzip und Inhalt des
Grundgesetzes sowie aller internationalen und europäischen
Verpflichtungen.

VI. Zur Justitiabilität sozialer Grundrechte

Die neu eingefügten sozialen Grundrechte auf Arbeit, auf so-
ziale Sicherung, auf eine menschenwürdige Wohnung und
auf Zugang zu Wasser und Energie, auf Zugang zu den Leis-
tungen der gesundheitlichen Infrastruktur sowie auf Bildung
und Ausbildung sind einklagbare, subjektive Rechte. Es han-
delt sich bei diesen Grundrechten um sog. Jedermann-
Grundrechte. Grundrechtsberechtigt sind nicht nur Deutsche
i. S. des Artikels 116 GG. Diese sozialen Grundrechte sind
vielmehr unteilbare Menschenrechte.

Abzugrenzen sind die einklagbaren sozialen Grundrechte,
wie sie vorliegend in einzelnen Absätzen der Artikel 3a bis
3e im Grundgesetz verankert werden, insbesondere von
Staatszielbestimmungen. Die in den Landesverfassungen
festgeschriebenen „sozialen Grundrechte“ werden als
Staatszielbestimmungen verstanden, denen ein subjektiv-
rechtlicher Charakter nicht zukomme.

Staatszielbestimmungen sind Verfassungsnormen mit recht-
lich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fort-
dauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben
– sachlich umschriebener Ziele – vorschreiben. Sie umrei-
ßen ein bestimmtes Programm der Staatstätigkeit und sind
eine Richtlinie für das staatliche Handeln, auch für die Aus-
legung von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften.
Eine Staatszielbestimmung überlässt es der politischen Ge-
staltungsfreiheit des Gesetzgebers, in welcher Weise und zu
welchem Zeitpunkt er die ihm eingeschärfte Staatsaufgabe
durch Gesetz erfüllt und dabei etwa auch Ansprüche einzel-
ner auf öffentliche Leistungen oder gegen Dritte entstehen
lässt (vgl. Bundestagsdrucksache 12/6000, S. 77).

Soziale Grundrechte binden die staatliche Gewalt sowohl in
ihrer Schutz- und Abwehrfunktion als auch in ihrer konkre-
ten Leistungsfunktion. Eine verhältnismäßige Begrenzung

des staatlichen Unterlassens kann effektiv nur durch indivi-
duell einklagbare, gegen den Staat auch durchsetzbare
Grundrechtspositionen im Grundgesetz verwirklicht wer-
den. Dies stärkt Menschenwürde, Rechtsstaat und Demo-
kratie.

Der Mensch wird erst durch die (sozialen) Grundrechte vom
Objekt des Sozialstaats wirklich zu einem Subjekt im So-
zialstaat. Dies ist sowohl die Intention eines jeden Men-
schen- und Grundrechts als auch ein Kerngehalt der
Menschenwürde (vgl. Artikel 1 GG). So hat das Bundesver-
fassungsgericht das Recht auf Sicherung des Existenzmini-
mums aus der Verbindung von Menschenwürde und Sozial-
staat hergeleitet.

Bei den neu eingefügten sozialen Grundrechten in den
Artikeln 3a bis 3e GG handelt es sich dagegen um einklag-
bare, subjektive und damit durchsetzbare Grundrechte. Dies
zeigen ihre Verortung im Grundrechtskatalog und die daraus
folgende Bindung aller staatlichen Gewalt (vgl. Artikel 1
Absatz 3 GG) sowie die Rechtsschutzgarantien in Artikel 19
Absatz 4 GG und Artikel 93 Absatz 1 Nr. 4a GG.

Inwieweit die sich aus dem jeweiligen sozialen Grundrecht
ergebenden Inhalte im Einzelnen rechtlich durchsetzbar
sind, richtet sich dabei nach der den anerkannten Ausle-
gungsregeln folgenden Interpretation. Der Staat hat die ver-
fassungsimmanenten Schranken in einem durch das Grund-
gesetz gesteuerten Abwägungsprozess zu ermitteln. Die die
Gesetzgebung und vollziehende Gewalt kontrollierende
dritte Gewalt ist zur Prüfung jener Grenzen berechtigt und
verpflichtet.

VII. Soziale Grundrechte und internationale
Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland

Die Notwendigkeit der Gewährung eines Mindeststandards
sozialer Rechte ist zahlreichen völkerrechtlichen und supra-
nationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland
zu entnehmen. Schon in der von der UNO am 10. Dezember
1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte – der Grundlage aller späteren Menschenrechts-
vereinbarungen – heißt es in Artikel 22: „Jeder Mensch hat
als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicher-
heit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maß-
nahmen … in den Genuss der für seine Würde und die freie
Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirt-
schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.“
Die Menschenrechtserklärung legt in Artikel 23 als erstes
und wichtigstes Recht fest, dass jedermann das Recht auf Ar-
beit sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit hat. Die am 4. No-
vember 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konven-
tion zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK) enthält im Wesentlichen die sog. klassischen Frei-
heitsrechte. Die Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober
1961 (BGBl. 1964 II, S. 1261 ff.), die auch die Bundesrepu-
blik Deutschland ratifiziert hat, ist das soziale Gegenstück
zur Menschenrechtskonvention; sie ergänzt sie im sozialen
Bereich. Durch sie bekunden die Vertragsparteien ihren Wil-
len, eine Politik zu verfolgen, „die darauf abzielt, geeignete
Voraussetzungen zu schaffen, damit die tatsächliche Aus-
übung der folgenden Rechte und Grundsätze gewährleistet
ist“. An erster Stelle steht: „Jedermann muss die Möglichkeit
haben, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene

Drucksache 16/13791 – 10 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Tätigkeit zu verdienen.“ Im Einzelnen enthält die Europäi-
sche Sozialcharta folgende Rechte:

● Recht auf Arbeit (Artikel 1),

● Recht auf gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedin-
gungen (Artikel 2 und 3),

● Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt (Artikel 4),

● Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz
(Artikel 7),

● Recht der Arbeitnehmerinnen auf Schutz (Artikel 8),

● Recht auf berufliche Ausbildung (Artikel 10),

● Recht auf Schutz der Gesundheit (Artikel 11),

● Recht auf soziale Sicherheit (Artikel 12),

● Recht auf Fürsorge (Artikel 13),

● Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste (Artikel 14),

● Recht der körperlich, geistig oder seelisch Behinderten
auf berufliche Ausbildung sowie auf berufliche und
soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung (Ar-
tikel 15),

● Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirt-
schaftlichen Schutz (Artikel 16),

● Recht der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirt-
schaftlichen Schutz (Artikel 17).

Im Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta von 1988
wird zudem in Artikel 4 das Recht älterer Menschen auf
sozialen Schutz ausführlich behandelt. Im Jahre 1996 wurde
die revidierte Europäische Sozialcharta verabschiedet, die
neuere arbeitsrechtliche und sozialpolitische Entwicklungen
berücksichtigt und in die das Zusatzprotokoll integriert wur-
de. Die Bundesregierung hat die revidierte Europäische So-
zialcharta (erst) am 29. Juni 2007 unterzeichnet. Die Ratifi-
zierung erfolgte bisher nicht.

Mit der Ratifizierung des Paktes über wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl. 1973
II, S. 1569 ff.) – der zeitgleich mit dem Pakt über Bürger-
rechte und politische Rechte zu Stande kam – hat sich der
Staat Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 2 Absatz 1
verpflichtet, „unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkei-
ten, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle
Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu er-
reichen.“ Durch seine Ratifizierung ist der Sozialpakt Be-
standteil der deutschen Gesetzgebung und steht im Rang
eines Bundesgesetzes. Damit handelt es sich bei den in ihm
enthaltenen Rechten nicht lediglich um Zielvorgaben des
Staates, sondern um dem Einzelnen zustehende Rechte. Die
Justitiabilität der in dem Pakt enthaltenen einzelnen Rechte
wird jedoch unterschiedlich bewertet. Nicht zuletzt deshalb
hat die Bundesregierung die Erarbeitung des Fakultativ-
protokolls über die Individualbeschwerde zu dem Pakt un-
terstützt. Der Ausschuss fordert, die Berücksichtigung der
sozialen Rechte auf allen staatlichen Ebenen zu gewährleis-
ten (vgl. Schlussfolgerungen zum 4. Periodischen Staaten-
bericht der Bundesrepublik Deutschland, 2001, S. 3). Die
Kodifizierung von einklagbaren Grundrechten im Grund-
gesetz setzt diese Forderung am wirksamsten um. Damit
werden alle Menschen in der Bundesrepublik Deutschland in
die Lage versetzt, ihre sozialen Rechte durchzusetzen.

Soziale Grundrechte finden sich schließlich in einer „Erklä-
rung der Grundrechte und Grundfreiheiten“ des Europäi-
schen Parlaments vom 12. April 1989. In die Allgemeinen

Bestimmungen dieser Erklärung sind u. a. „Kollektive so-
ziale Rechte“ (Artikel 14), „Sozialer Schutz“ (Artikel 15)
und „Recht auf Bildung“ (Artikel 16) aufgenommen. Die
Erklärung des Europäischen Parlaments von 1989 ist zwar
nicht rechtsverbindlich. Sie bringt jedoch die Forderung zum
Ausdruck, einen verbindlichen Grundrechtskatalog auf euro-
päischer Ebene zu verankern.

Die Bundesrepublik Deutschland ist – wie alle Mitgliedstaa-
ten – unbestritten für die Gewährleistung jener sozialen
Grundrechte zuständig, die im Rahmen des europäischen
Gemeinschaftsrechts fixiert wurden. Das betrifft auch die
Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeit-
nehmer, die vom Europäischen Rat am 9. Dezember 1989
angenommen wurde und seit dem 1. Juli 1999 in revidierter
Fassung völkerrechtlich in Kraft getreten ist. Die Gemein-
schaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer
stellt ein politisches Signal an die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Europa dar, durch das der Weg zu konkre-
ten, rechtlich verbindlichen und sozialen Mindeststandards
in der Europäischen Gemeinschaft geebnet werden soll. Die-
se Charta enthält u. a. soziale Grundrechte „jedes Arbeitneh-
mers“ auf ein „gerechtes Arbeitsentgelt“, „auf einen ange-
messenen sozialen Schutz“, auf „Zugang zur beruflichen
Bildung“ sowie auf Förderung der „beruflichen und sozialen
Eingliederung“ für alle „Behinderten“.

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die am
7. Dezember 2000 in Nizza von Rat, Europäischem Parla-
ment und Kommission unterzeichnet wurde, hat nicht nur
soziale Rechte für die Unionsbürgerinnen und -bürger fest-
geschrieben, sondern auch die Unteilbarkeit von bürger-
lichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten
bestätigt. Diese Charta enthält eine Vielzahl von sozialen
Rechten, Freiheitsrechten mit sozialem Inhalt sowie sozialen
Prinzipien. Allerdings fehlen in der Charta wichtige soziale
Grundrechte, wie z. B. das Recht auf Arbeit. So gehen die
Grundfreiheiten des Kapitals den sozialen Grundrechten vor.
Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist in der Charta
der Grundrechte der Europäischen Union nicht so absolut
wie nach dem Grundgesetz geschützt. Die Menschenwürde
wird nach der Systematik der Charta und entsprechend der
Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof als mit wirt-
schaftlichen Freiheiten abwägbar angesehen. Der Charta
kommt bislang keine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit zu
und sie ist für die Grundrechtsträger nicht einklagbar. Trotz
der erwähnten Gründe für eine umfassende Verbesserung der
Regelungsinhalte der Charta ist sie zumindest als eine weite-
re Auslegungshilfe bei der Ermittlung von Grundrechts-
garantien als Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze
des Gemeinschaftsrechts zu verstehen.

VIII. Soziale Grundrechte als Menschenrechte und ihre
Einordnung in das Grundgesetz

Artikel 1 des Grundgesetzes unterscheidet zwischen den im
Grundgesetz genannten Grundrechten und den Menschen-
rechten. „Von den Menschenrechten“ wird gesagt, dass sich
zu ihnen das deutsche Volk bekenne; von den Grundrechten
hingegen heißt es, dass sie als unmittelbar geltendes Recht
die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Recht-
sprechung binden. „In der hier sichtbaren Unterscheidung
zwischen Menschenrechten einerseits und Grundrechten an-
dererseits mit jeweils unterschiedlichen Folgen liegt das fun-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 11 – Drucksache 16/13791

damentale Defizit der Rechtsordnung der Bundesrepublik
Deutschland im Verhältnis zu den Menschenrechten offen zu
Tage“ (H. Klenner, Zur Gegenwartsproblematik der Men-
schenrechte, in: Marxistische Erneuerung, Heft 15, Berlin
1996, S. 80).

Der Gesetzentwurf fasst die vorgeschlagenen sozialen
Grundrechte als sog. Jedermann-Grundrecht. Es wird inso-
weit keine personelle Eingrenzung der individuellen Berech-
tigung zur Geltung und Inanspruchnahme von sozialen
Grundrechten vorgesehen. Einer solchen Ausgestaltung der
sozialen Grundrechte liegt die Auffassung zu Grunde, dass
es keine Ungleichbehandlung von deutschen Staatsangehöri-
gen und Nichtstaatsangehörigen hinsichtlich der sozialen
Sicherung bzw. der Gewährleistung eines Mindeststandards
von sozialen Rechten geben darf. Soziale Grundrechte sind
Menschenrechte. Sie sind Grundbedingungen für ein Leben
in menschlicher Würde für einen jeden Menschen.

IX. Zu Argumenten gegen soziale Grundrechte

● Dr. Frank-Walter Steinmeier stellt zu den in der Rechts-
wissenschaft vorgetragenen Argumenten gegen soziale
Grundrechte Folgendes fest:

„Die Gegnerschaft zu sozialen Grundrechtspositionen lässt
sich weder mit historisch unvereinbaren Grundrechtstradi-
tionen noch mit aktuell entgegenstehendem Verfassungs-
recht plausibel begründen. Noch weitaus auffälligere Be-
gründungsdefizite tun sich allerdings auf, soweit – wie
ausgeführt – ihre Ausgestaltungsbedürftigkeit durch Gesetz-
geber und Verwaltung zum tragenden Grund ihrer Ableh-
nung wird; auffällig deshalb, weil dasselbe Argument eben-
so gegen die soeben zitierten Schutzpositionen aus den
Artikeln 6 Abs. 4, 5 und 33 Absatz 5 GG erhoben werden
könnte. Zurecht – aber eben nicht ohne Widerspruch – wird
für die genannten Artikel darin kein Hindernis für ihre nor-
mative Geltungskraft gesehen. Vollends widersprüchlich
wird der delegitimierende Verweis auf die Ausgestaltungs-
bedürftigkeit der sozialen Grundrechte aber dort, wo die in-
terpretative Erweiterung der klassischen Freiheitsrechte um
objektive gleichartige Geltungsdimensionen und grund-
rechtliche Schutzpflichten nicht nur ohne die gleiche kriti-
sche Würdigung bleibt, sondern als Ausdruck eines moder-
nen Verfassungskonzepts zum Schutz individueller Freiheit
akzeptiert wird. … Es genügt die Erinnerung etwa an die in
einer Reihe von verfassungsrechtlichen Entscheidungen
konkretisierte Rundfunkfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 GG.
Eine danach neben dem subjektiven Abwehrrecht des Bür-
gers stehende staatliche Gewährleistungsaufgabe umfasst
die Einrichtung einer Kommunikationsverfassung, die durch
materielle, organisatorische und Verfahrensregeln sicher-
stellt, dass die Vielfalt der für den Bürger wichtigen Informa-
tionen sich in möglichster Breite und Vollständigkeit im Me-
dium findet (BVerfGE 57, 320). Obwohl Freiheit nach
diesem Grundrechtskonzept ohne intensive gesetzgeberische
Gestaltungsarbeit nicht organisierbar ist, sind der Rundfunk-
freiheit Zweifel an ihrer verfassungsnormativen Geltungs-
kraft ebensowenig begegnet wie der klassischen Freiheitsga-
rantie des Artikels 14 GG, die schon ihrem Wortlaut nach
(Absatz 1 Satz 2) den Gegenstand ihres Schutzes einer weit-
reichenden legislativen und exekutiven Gestaltungskompe-
tenz überantwortet.“ (Frank-Walter Steinmeier, Bürger ohne
Obdach – zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf
Wohnraum, Tradition und Perspektiven staatlicher Interven-

tion zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit,
Bielefeld 1992, S. 388 f.). Der Autor (und derzeit amtierende
Bundesminister des Äußeren, Dr. Frank-Walter Steinmeier)
unterbreitet folgerichtig einen Vorschlag zur verfassungs-
rechtlichen Absicherung des Wohnbedürfnisses (vgl. Stein-
meier, ebenda, S. 394 f.).

● Die mit der Einführung sozialer Grundrechte verbundene
„Befürchtung“, der Staat greife in die grundrechtlich ge-
schützte tatsächliche Freiheit von einigen oder allen
Menschen zur Durchsetzung von Bedürfnissen eines je-
den Menschen nach Sicherung der gleichen und freiheit-
lichen Grundvoraussetzungen eines menschenwürdigen,
selbstbestimmten Daseins ein, ist berechtigt. Diese „Be-
fürchtung“ ist nach dem Willen des Grundgesetzes je-
doch oberstes Staatsstrukturprinzip und Staatsziel (vgl.
Sozialstaatsprinzip in Artikel 20 Absatz 1, Artikel 79 Ab-
satz 3 GG). Die sozialen Pflichten sind bereits jetzt
Gehalt des Grundgesetzes – nur eben mit weniger be-
stimmten, Staatsgewalt begrenzenden Kontrollmaß-
stäben. Es bedarf sozialer Grundrechte, damit die Besorg-
nis des übermäßigen Freiheitseingriffs gegenstandslos
wird: Je mehr das relativ weite soziale Staatsziel in
Artikel 20 Absatz 1 GG in bestimmten Bereichen kon-
kretisiert wird, umso geringer ist der Anlass zu derartigen
Befürchtungen. Konkrete Rechte tragen zur größeren
Kontrolle der staatlichen Gewalt bei.

● Den sozialen Grundrechten wird eine mangelnde gericht-
liche Durchsetzbarkeit unterstellt. Zum einen seien sozia-
le Grundrechte nicht hinreichend bestimmt. Zum anderen
ergäben sich erhebliche Schranken für die Rechtspre-
chung, eine Grundrechtsverletzung durch Unterlassen
festzustellen. Denn eine konkrete Handlungspflicht sei
schließlich nicht festgeschrieben.

Dass die Einzelheiten der staatlichen Handlungsver-
pflichtung (möglicherweise) im konkreten Fall nicht bis
ins letzte Detail bestimmt werden können, ist unschäd-
lich. Ein Unterlassen wird dann als Grundrechtsver-
letzung gelten müssen, wenn die Mindestverpflichtungen
aus dem Grundrecht nicht erfüllt sind. Der Gesetzgeber
hat bei einem Leistungsgrundrecht solche (gesetzgeberi-
schen) Maßnahmen zu treffen, die im Hinblick auf das
Recht angemessen und wirksam sind und die in der kon-
kreten Ausgestaltung im Einzelnen bestimmten Min-
destanforderungen zu genügen haben. Dieser Mindest-
schutz des Rechtsgutes ist als Kernverpflichtung im
Zusammenhang mit dem Untermaßverbot durchsetzbar.
Es kann insoweit an die Rechtsprechung zum gesetzge-
berischen Unterlassen, die hinsichtlich bestehender Leis-
tungsgrundrechte bzw. Schutzpflichten und Gleichbe-
handlungsverstößen entwickelt wurde, angeknüpft
werden. Solche Entscheidungen können auch haushalts-
rechtliche Konsequenzen haben (vgl. Bundesverfas-
sungsgericht zum Schwangerschaftsabbruch; BVerfGE
88, 203, 254 f.).

Daneben dient das soziale Grundrecht in vielfältiger Wei-
se der Optimierung seines Schutzinhalts beispielsweise
in der Auslegung und Anwendung anderer Vorschriften.

● Im Gegensatz zu den meisten bestehenden Grundrechten
sind die sozialen Grundrechte wegen ihrer Zukunftsoffen-
heit notwendig unkonkret. Dieser Unterschied besteht
jedoch auch zu den Leistungsgrundrechten wie z. B. Arti-

Drucksache 16/13791 – 12 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

kel 6 Absatz 4, 5 und Artikel 33 Absatz 5 GG. Dies hin-
derte den Parlamentarischen Rat nicht an deren Aufnahme
in den Grundrechtskatalog. Diese Rechte provozieren
auch nicht derart verbreiteten politischen und rechtswis-
senschaftlichen Widerstand wie die sozialen Grundrechte
auf Erfüllung elementarer Grundbedürfnisse.

● Die Verankerung des sozialen Grundrechts in der höchs-
ten innerstaatlichen Norm, dem Grundgesetz, erhöht die
Durchsetzbarkeit der rechtlich geschützten Interessen. Es
ist ein Wesensmerkmal des Rechtsstaats, die Inhaber ge-
sellschaftlich anerkannter Interessen auch über durch-
setzbare Rechte abzusichern. Im Kern zielen Grundrech-
te auf eine Kontrolle und Steuerung staatlichen Handelns.
Daher kann einer zukunftsoffen formulierten grundrecht-
lichen Verbürgung des Schutzes sozialer Interessen nicht
entgegengehalten werden, sie sei zu unbestimmt. Dies
liefe darauf hinaus, den ohnehin weiten Gestaltungsspiel-
raum des Gesetzgebers grenzenlos zu machen.

● Auch der Einwand, soziale (Grund-)Rechte seien nur in
einer Planwirtschaft und einer totalen Lenkung der Ar-
beits- und Wirtschaftswelt möglich, greift nicht. Hierzu
äußert sich u. a. der Ausschuss für Wirtschaftliche, So-
ziale und Kulturelle Rechte in seinen Allgemeinen Be-
merkungen zur Rechtsnatur der Verpflichtungen der Ver-
tragsstaaten aus dem IPWSK:

„Der Ausschuss weist darauf hin, dass die Zusicherung,
„Maßnahmen … mit allen geeigneten Mitteln zu treffen,
vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen“ keine be-
sondere Form der Regierung oder des wirtschaftlichen
Systems für die Umsetzung der betreffenden Maßnah-
men voraussetzt; es ist nur notwendig, dass das System
demokratisch ist und die Menschenrechte geachtet wer-
den. Im Hinblick auf politische und wirtschaftliche Sys-
teme ist der Pakt neutral …“

Das wird weiterhin durch die Tatsache belegt, dass auch
unter der Herrschaft des Grundgesetzes, das wirtschafts-
politisch neutral ausgerichtet ist (vgl. BVerfGE 4, 7 (17)
– Investitionshilfegesetz), soziale Rechte einfachgesetz-
lich verwirklicht wurden und werden.

● Gegen soziale Grundrechte lässt sich auch nicht erfolg-
reich einwenden, ihre Gewährung hinge nur von der
Leistungsfähigkeit des Staates und damit letztlich von
der Wirtschaft ab. Der Sozialstaat ist keine Wachstums-
bremse oder gar ein Kostgänger der privaten Wirtschaft.
Während sich die Kosten des Sozialstaates berechnen
lassen, kann sein finanzieller Nutzen nicht exakt beziffert
bzw. zugerechnet werden. Die positive Rückkopplung
bleibt also weitgehend im Dunkeln. Eine Studie der
Hans-Böckler-Stiftung zu „Sozialpolitik und soziale La-
ge“ weist jedoch überzeugend nach, dass der Sozialstaat
nicht nur Geld kostet, sondern sich auch positiv auf die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auswirke. Ihr Fazit:
Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland sei
in den neunziger Jahren „die Jobmaschine“ gewesen
(G. Bäcker/R. Bispinck/K. Hofemann/G. Naegele, Sozial-
politik und soziale Lage in Deutschland, Band 1: Ökono-
mische Grundlagen, Einkommen, Arbeit und Arbeits-
markt, Arbeit und Gesundheitsschutz, Wiesbaden 2008).

● Darüber hinaus wird bemängelt, die sozialen Grundrech-
te widersprächen dem Gewaltenteilungsgrundsatz, weil

das Bundesverfassungsgericht anstelle des Parlamentes
politische Entscheidungen treffen könne.

Dieser Einwand verkennt die Aufgabe des Bundesverfas-
sungsgerichts. Die Kontrolle der Gesetzgebung durch das
Bundesverfassungsgericht ist eine Kontrolle der Gesetz-
gebung durch das Grundgesetz selbst. Dem Bundesver-
fassungsgericht obliegt zwar die Interpretationshoheit
über das Grundgesetz; dies ist jedoch vom Grundgesetz
genau so gewollt.

● Schließlich ist selbstverständlich auch der verfassungs-
gebende Gesetzgeber nicht von der Verantwortung frei,
Grundrechte zu optimieren und zugunsten der unantast-
baren Menschenwürde und Freiheit im gesellschaftlich
breiten Konsens unter Wahrung des Artikels 79 Absatz 3
GG zu erweitern. Allein die Möglichkeit, dass die
Gesetzgebung ein Leistungsgrundrecht möglicherweise
nicht effizient genug umsetzen könnte, kann keinen
Grund gegen dessen Kodifizierung darstellen.

X. Soziale Grundrechte als Voraussetzung für ein
stabiles demokratisches Gemeinwesen

Nicht die vermeintlich unerfüllbaren Erwartungen, die die
Aufnahme von konkreten sozialen Grundrechten in die Ver-
fassung angeblich bedeuten, würden das Grundgesetz be-
schädigen und den Staat gefährden. Ein Verzicht auf sie kann
vielmehr eine Situation begünstigen oder gar schaffen, in der
das Fehlen von sozialen Grundrechten zu einer massenhaf-
ten Ausgrenzung sozial Schwacher führt. Dies hat schwer-
wiegende Folgen für die Demokratie.

Die Aufnahme durchsetzbarer sozialer Grundrechte in das
Grundgesetz schützt so die sozial Schwachen, befördert die
Demokratie und stärkt den sozialen Frieden in der Gesell-
schaft.

Ein starker Sozialstaat ist nur in stabilen demokratischen
Verfassungsstaaten möglich. Aber auch umgekehrt ist die
Demokratie nur dort ausreichend gesichert, wo der Sozial-
staat durch konkrete Rechte soziale Sicherheit für die Men-
schen vermittelt.

Grundsätzlich ist es bedenklich, wenn die Konkretisierung
des Sozialstaatsgebotes fast ausschließlich durch das Bun-
desverfassungsgericht erfolgt. Es ist nicht zuletzt eine Frage
der Rechtssicherheit, ob Bereiche des sozialen Schutzes im
Grundgesetz ausdrücklich vorgegeben sind oder von Fall zu
Fall durch das Verfassungsgericht konkretisiert werden. Eine
Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips z. B. durch soziale
Grundrechte gibt schließlich der verfassungsgerichtlichen
Rechtssprechung konkretere Maßstäbe an die Hand. Zudem
wird die soziale Verpflichtung des Staates dadurch ausdrück-
lich zu einem sozialen Recht der Menschen.

B. Einzelbegründung

Zu Artikel 1 (Änderung des Grundgesetzes)

Zu Nummer 1 (Artikel 3 Absatz 3 GG)

Die Verfassungsnorm des Artikels 3 Absatz 3 GG stellt pri-
mär ein Abwehrrecht der Grundrechtsträger gegenüber dem
Staat dar, entfaltet aber auch – vor allem über die General-
klauseln und andere auslegungsbedürftige Begriffe der ein-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 13 – Drucksache 16/13791

zelnen Rechtsgebiete – eine mittelbare Drittwirkung für den
Privatrechtsverkehr.

Alle neu eingefügten Benachteiligungsverbote sollen dazu
beitragen, den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen
umfassend zu entsprechen. Dabei werden die Antidiskrimi-
nierungsrichtlinien auf europäischer Ebene zum Ausgangs-
punkt genommen.

Die Erweiterung der speziellen Benachteiligungsverbote in
Artikel 3 Absatz 3 um die des „Alters“, der „sexuellen Iden-
tität“ und der „genetischen Disposition“ trägt wichtigen ge-
sellschaftlichen Entwicklungen und daraus folgenden Erfor-
dernissen unserer Zeit Rechnung. Die Benachteiligung
aufgrund der „Herkunft“ wird in Artikel 3 Absatz 3 GG auf-
genommen. Der Begriff der „Rasse“ wird aus Artikel 3
Absatz 3 GG gestrichen und durch die treffendere Beschrei-
bung „aus rassistischen Gründen“ ersetzt. Als weiteres
Merkmal wird die „soziale Stellung“ eingefügt.

● An das „Alter“ dürfen sich keine Beschränkungen und
damit Nachteile im gesellschaftlichen Leben knüpfen.
Nicht zuletzt deshalb sind auch die rechtlichen Vorraus-
setzungen dafür zu schaffen, dass eine verstärkte Selbst-
und Mitbestimmung von Menschen aller Altersgruppen
möglich und jedwede Benachteiligung allein auf Grund
eines bestimmten Alters unmöglich werden. Der Begriff
„Alter“ meint das konkrete Lebensalter, schützt also ge-
gen ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen, die an die-
ses Merkmal anknüpfen. Nicht nur der Schutz älterer
Menschen vor Benachteiligung wird erfasst.

● Die „Sexuelle Identität“ eines Menschen darf keine Aus-
wirkungen auf den Rechtsstatus haben. Mit einer demo-
kratischen Gesellschaft ist es nicht vereinbar, wenn ei-
nem Teil der Bevölkerung auf Grund der sexuellen
Identität oder Orientierung Rechte vorenthalten oder be-
schnitten werden. Der wirksame Persönlichkeitsschutz
für Homosexuelle und Transsexuelle ist ein Gebot an den
Gesetzgeber, rechtliche Benachteiligungen aufzuheben
und außerrechtlichen Diskriminierungen entschieden
entgegenzuwirken. Eine ausdrückliche Verankerung ei-
nes solchen Benachteiligungsverbots hat insofern mehr
als nur symbolhafte Bedeutung.

Erfasst werden homosexuelle Männer und Frauen ebenso
wie bisexuelle, transsexuelle oder zwischengeschlecht-
liche Menschen.

● Menschen dürfen nicht wegen ihrer „genetischen Dispo-
sition“ diskriminiert werden. Die informationelle Selbst-
bestimmung der Menschen muss in jeder Beziehung ge-
währleistet werden. Unter dem Begriff Disposition wird
allgemein eine psychische, genetische oder erworbene
Anfälligkeit für die Ausbildung von Krankheiten verstan-
den. Nicht nur die moderne Medizin birgt jedoch Risiken
im Hinblick auf die dort gewonnenen genetischen Daten.
Eine Erfassung genetischer Merkmale trägt in sehr ver-
schiedenen Zusammenhängen dazu bei, dass diese poten-
tiell zum Ausgangspunkt von Diskriminierung werden.

● Das eingefügte Merkmal der „sozialen Stellung“ soll eine
vorhandene Lücke schließen. Nicht nur die Herkunft,
sondern auch die „in den eigenen Lebensumständen be-
gründete Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Schicht“ bildet einen Anknüpfungspunkt für diskriminie-
rendes Verhalten. Die soziale Stellung ist zugleich eine

gesellschaftliche Zuschreibung und eine Lebensrealität,
die Diskriminierung in Form von Benachteiligung nach
sich zieht. Die Zuordnung zu einer bestimmten Schicht
resultiert aus verschiedenen Faktoren wie beispielsweise
dem Beruf, der beruflichen Stellung, der Verankerung in
Institutionen oder Vereinigungen, dem Vermögen oder
der Bildung. Die familiäre Herkunft (soziale Herkunft)
kann ebenfalls als ein Faktor die soziale Stellung mitbe-
stimmen. Die soziale Stellung wird nicht allein von den
Einkommensverhältnissen beeinflusst. Diese stellen je-
doch einen wesentlichen Faktor dar. Die soziale Stellung
kann je nach den Umständen auch eine unzulässige Be-
vorzugung nach sich ziehen. Daher werden beide Alter-
nativen erfasst.

Es kann für die Beurteilung der Verwerflichkeit einer Be-
nachteilung – im Sinne einer diskriminierenden Wirkung –
keinen Unterschied machen, ob sie auf der sozialen Herkunft
und damit auf der sozialen Stellung der Vorfahren oder auf
der eigenen sozialen Stellung des Betroffenen beruht. Meist
geht die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft
einher mit derjenigen aufgrund der sozialen Stellung; es gibt
aber viele Bereiche, in denen die Herkunft keine Rolle spielt.

Das Merkmal der „sozialen Stellung“ hat auch in die Landes-
verfassung Bremens als spezielles Diskriminierungsverbot
Eingang gefunden (Artikel 2 der Landesverfassung der Frei-
en Hansestadt Bremen). Der Begriff ist darüber hinaus in
zahlreichen Bundesgesetzen (z. B. in § 36 des Gerichtsver-
fassungsgesetzes, §§ 18, 31 des Bundesentschädigungs-
gesetzes) in dem jeweiligen spezifischen Zusammenhang
verwendet worden. Darüber hinaus verwendet das Bundes-
verfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen den Be-
griff (vgl. nur BVerfG NJW 1977, 241 ff.; BVerfG NJW
1973, 1739 (1741)).

● Im internationalen, insbesondere englischen Sprachge-
brauch, wird der Begriff „Race“ vorrangig als politische
und soziologische Kategorie verwendet und bezeichnet
all diejenigen, die Zielgruppe von Rassismus sind. Im
deutschsprachigen Raum wird „Rasse“ jedoch aus-
schließlich als biologischgenetische Kategorie ge-
braucht. Dies war historisch stets mit Wertzuschreibun-
gen über Menschengruppen versehen und diente damit
als pseudowissenschaftliches Erklärungsmodell im poli-
tischen Kontext. So dienten Rassengesetze im National-
sozialismus der Diskriminierung, Ausgrenzung und Ver-
nichtung verschiedener Gruppen, denen bestimmte
ethnische oder rassische Merkmale zugesprochen wur-
den. Darüber hinaus ist der Begriff „Rasse“ auch in der
Humangenetik seit langer Zeit Gegenstand der Kritik.
Die Verwendung des Begriffs im Grundgesetz ist unange-
messen.

Zu Nummer 2

a) Zu Artikel 3a GG

Artikel 3a GG kodifiziert das subjektive, einklagbare Grund-
recht auf Arbeit. Dem Recht auf Arbeit kommt im Rahmen
der sozialen Grundrechte eine zentrale Position zu. Denn die
Möglichkeit zur menschenwürdigen, Existenz sichernden
Arbeit ist eine Grundvoraussetzung für selbstbestimmtes
Leben und damit ein wesentliches Menschenrecht.

Drucksache 16/13791 – 14 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die gesellschaftlichen Bedingungen in der Marktwirtschaft
führen zum Phänomen der strukturellen Arbeitslosigkeit.
Wenngleich die Statistik der Arbeitslosenzahlen erhebliche
Schwankungen aufweist, ist die Zahl derjenigen, die trotz in-
tensiver Suche keine Arbeit finden können, gleichbleibend
unerträglich hoch. Arbeitslosigkeit dieses Ausmaßes (derzeit
circa 3,6 Millionen Arbeitslose, also circa 8,6 Prozent der
Bevölkerung; nach der amtlichen Statistik der Bundesagen-
tur für Arbeit für April 2009 in: Bundesagentur für Arbeit:
Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland – Mo-
natsbericht April 2009, Nürnberg 2009) ist kein unabwend-
bares Naturereignis. Sie ist Ausdruck des kapitalistischen
Wirtschaftens mit dem Ziel des Strebens nach Profit wie
auch unzureichender sozialer Gestaltungskraft zur Durch-
setzung gesellschaftlicher Interessen durch die staatliche
Politik. Der Gesellschaft fehlt es nicht an Arbeit, sondern an
der an die Kapitalverwertung gebundenen Erwerbsarbeit.
Das Ziel der staatlichen Politik muss daher darauf gerichtet
sein, die Weiterentwicklung der im Zusammenhang mit dem
Bedürfnis nach sinnvoller, frei angenommener und gewähl-
ter Arbeit auftretenden Probleme und Fragen voranzubrin-
gen und Konzepte zu entwickeln. Hierbei kommt dem sub-
jektiven Grundrecht auf Arbeit eine zentrale Rolle zu.

Die Bundesrepublik Deutschland hat das Recht auf Arbeit
vielfach anerkannt:

Bereits nach der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
vom 10. Dezember 1948 besitzt jeder Mensch das Recht auf
Arbeit, freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Ar-
beitsbedingungen und auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Diese
Erklärung führte sinngemäß zur Europäischen Sozialcharta
von 1961, die in Teil 2 Artikel I ebenfalls das Recht auf Ar-
beit enthält und dazu folgendes vermerkt: „Um die wirksame
Ausübung des Rechtes auf Arbeit zu gewährleisten, ver-
pflichten sich die Vertragsparteien, 1. zwecks Verwirk-
lichung der Vollbeschäftigung die Erreichung und Auf-
rechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen
Beschäftigungsstandes zu einer ihrer wichtigsten Zielstel-
lungen und Aufgaben zu machen; 2. das Recht des Arbeit-
nehmers wirksam zu schützen, seinen Lebensunterhalt durch
eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen; 3. unentgelt-
liche Arbeitsvermittlungsdienste für alle Arbeitnehmer
einzurichten oder aufrecht zu erhalten; 4. eine geeignete
Berufsberatung, Berufsausbildung und berufliche Wieder-
eingliederung sicherzustellen oder zu fördern.“ Diese Be-
stimmung ist nach der Ratifizierung der Europäischen So-
zialcharta durch die Bundesrepublik Deutschland am
26. Februar 1965 als Bundesgesetz in Kraft getreten. Auch
der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kul-
turelle Rechte vom 19. Dezember 1966 normiert in Teil III,
Artikel 6 ein Recht auf Arbeit: ,,Die Vertragsstaaten erken-
nen das Recht auf Arbeit an, welches das Recht des einzel-
nen auf die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch frei
gewählte oder angenommene Arbeit zu verdienen, umfasst
und unternehmen geeignete Schritte zum Schutz dieses
Rechts.“ Dieser UNO-Pakt gilt in der Bundesrepublik
Deutschland mit Gesetzeskraft seit dem 3. Januar 1976.

Ebenso schreibt das IAO-Übereinkommen Nr. 122 der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation vom 17. Juni 1964 die Besei-
tigung der Arbeitslosigkeit als ein Ziel der Wirtschaftspolitik
vor (BGBl. 1971 II, S. 57). Dieses Übereinkommen gilt in
der Bundesrepublik Deutschland mit Gesetzeskraft seit dem

17. Juni 1972. Konkrete Ansprüche hinsichtlich sozialer
Grundrechte finden sich schließlich in einer Erklärung über
Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parla-
ments vom 12. April 1989. Die Gemeinschaftscharta der EG
zu den sozialen Grundrechten der Arbeitnehmer vom
9. Dezember 1989 hat an die vorangegangenen internatio-
nalen Verpflichtungen anknüpft. Darin werden ausführlich
die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer bezüglich Frei-
zügigkeit, Beschäftigung und Arbeitsentgelt, Verbesserung
der Arbeits- und Lebensbedingungen, zum sozialen Schutz,
zur Koalitionsfreiheit in Tarifverhandlungen, zur Berufsaus-
bildung etc. festgeschrieben.

aa) Zu Artikel 3a Absatz 1 GG

Im Mittelpunkt des Arbeits- und Wirtschaftslebens steht das
Wohl der Menschen. Der Schutz der unantastbaren Men-
schenwürde (Artikel 1 Absatz 1 GG) und das Sozialstaats-
prinzip (Artikel 20 Absatz 1 GG) werden damit im Hinblick
auf das Arbeits- und Wirtschaftsleben konkretisiert.

Die Festlegung in Artikel 14 Absatz 2 GG: „Eigentum ver-
pflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der All-
gemeinheit dienen.“ wird mit Artikel 3a Absatz 1 GG ver-
stärkt. Das Wirtschaftsleben dient nicht der Anhäufung von
Profit in den Händen Einzelner. Im Mittelpunkt der gesell-
schaftlichen Arbeit steht das Wohl der Menschen. Diese
Aussage wird auch auf das Wirtschaftsleben bezogen.

Die Aussage konkretisiert die ohnehin bindende Verpflich-
tung, alle staatlichen Entscheidungen am Wohl des Men-
schen auszurichten.

bb) Zu Artikel 3a Absatz 2 GG

In Artikel 3a Absatz 2 GG wird das Menschenrecht auf
Arbeit als subjektives Grundrecht eines jeden Menschen im
Grundgesetz verankert. Es ist als besonderer Ausdruck
der Verfasstheit der freiheitlich-demokratischen, sozialen
Grundordnung des Grundgesetzes an den Anfang der neu
eingefügten Grundrechte gestellt, um die besondere Bedeu-
tung dieses Grundrechts für die Einzelnen in der Gesell-
schaft herauszustellen. Der gesellschaftliche Reichtum fin-
det seinen Ursprung in der Arbeit der Menschen, die die
Lebensbedingungen stetig weiterentwickelt.

Bei dem Grundrecht auf Arbeit, das nicht als bloßer Pro-
grammsatz oder Staatszielbestimmung interpretiert werden
kann, handelt es sich um ein subjektiv-öffentliches Recht.
Arbeit ist anerkanntermaßen ein wesentliches Menschen-
recht zur Sicherung des Lebensunterhalts, jedoch darüber
hinaus auch zur Selbstverwirklichung.

Die grundrechtliche Verbürgung des Rechts auf Arbeit
schafft keinen Anspruch auf einen bestimmten Arbeitsplatz.
Sie schafft aber einen Anspruch auf Achtung, Schutz und
Gewährleistung des Rechts, durch frei gewählte oder ange-
nommene Arbeit einen angemessenen Lebensunterhalt für
sich und andere (beispielsweise Unterhaltsberechtigte) zu
erarbeiten. Die Mittel zur Gewährleistung dieses subjek-
tiv-rechtlichen Anspruchs auf Arbeit sind durch den Staat
auf allen Ebenen und durch unterschiedliche, hier nicht ab-
schließend zu erwähnende Maßnahmen zu verwirklichen.

Künftig ist das existenznotwendige Recht auf Arbeit der Ein-
zelnen in einem durch verhältnismäßige Abwägung der
widerstreitenden Grundrechtspositionen festzustellenden

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 15 – Drucksache 16/13791

Umfang durchsetzbar zu gewährleisten. Die Maßnahmen zur
Gewährleistung des Grundrechts auf Arbeit obliegen der Ge-
setzgebung und damit dem demokratischen Prozess.

Das Argument, dass insbesondere das Grundrecht auf Arbeit
mangels Verfügungsbefugnis des Staates nicht zu gewähr-
leisten sei, ist irreführend. Denn der Staat vermag ebenso wie
bei der Verwirklichung anderer Grundrechte und seiner
Sozialstaatsverpflichtung fremdes Eigentum durch Inhalts-
und Schrankenbestimmungen zu begrenzen (vgl. Artikel 14
Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 GG). Darüber hinaus kann der
Staat in dem erforderlichen Umfang Arbeitsplätze auch
selbst zur Verfügung stellen. Zudem kann er durch andere
Maßnahmen, beispielsweise Arbeitszeitverkürzung, auf die
Schaffung neuer Arbeitsplätze hinwirken.

cc) Zu Artikel 3a Absatz 3 GG

Das Aushandeln des Arbeitslohns als Bestandteil der Ar-
beitsbedingungen bleibt grundsätzlich Inhalt der Tarifauto-
nomie nach Artikel 9 Absatz 3 GG.

Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat jedoch das
einklagbare Recht auf gleichen Lohn für gleiche und gleich-
wertige Arbeit und das Recht auf einen angemessenen Lohn.
Dieser Lohn muss mindestens den angemessenen Lebensun-
terhalt sichern.

● Das Recht auf gleichen Lohn für gleiche und gleichwer-
tige Arbeit wird seit 1951 vom IAO-Übereinkommen
Nummer 100 anerkannt. In Artikel 141 EG-Vertrag ist
das Recht ebenfalls anerkannt.

Der Grundsatz der Entgeltgleichheit ist in Deutschland bis-
her aber auch ein „Prinzip ohne Gerichtspraxis“ (vgl. Eva
Kocher, Antidiskriminierungsrecht vor den Arbeitsgerich-
ten, in: Streit 2003, S. 139 (142)). Die deutsche Rechtspre-
chung hat die insbesondere in der Rechtsprechung des EuGH
herausgestellten Vorgaben nur selten, uneinheitlich und oft
nicht effektiv angewendet.

Unter gleicher Arbeit ist im Wesentlichen gleichartige Arbeit
zu verstehen. Unter gleichwertiger Arbeit ist solche zu ver-
stehen, die als gleich anerkannt wird. Dabei ist auf den Ge-
genstand der Arbeitsleistung abzustellen.

Die rechtliche Durchsetzung der Entgeltgleichheit ist in
Deutschland den einzelnen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern überantwortet. Arbeitnehmerinnen oder Arbeit-
nehmer, die durch ein Entgeltsystem diskriminiert werden,
müssen individuell gegen ihre Arbeitgeber Rechte geltend
machen. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn sie im Zu-
sammenhang mit Tarifverträgen als Mitglied einer ganzen
Gruppe benachteiligt werden. Die Durchsetzung des Rechts
auf Entgeltgleichheit wird durch eine Verankerung im
Grundgesetz verstärkt.

Das in Artikel 3a Absatz 3 GG ausdrücklich kodifizierte
Recht auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit verdeut-
licht insbesondere den Gerichten, aber auch den Betroffenen
die hohe Bedeutung des Grundsatzes der Entgeltgleichheit –
insbesondere in Bezug auf die Diskriminierung wegen des
Geschlechts. Die Durchsetzung der Gleichbehandlung, die
in Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 GG ihren besonderen Ausdruck
gefunden hat, wird so bereichsspezifisch in einem wichtigen
Punkt justitiabel konkretisiert. Auch die in Artikel 3
Absatz 3 GG aufgeführten Diskriminierungsverbote sind zu
beachten. Danach wäre beispielsweise die sachwidrige

Unterscheidung zwischen Ost und West bei der Entlohnung
als grundrechtswidrig zu beurteilen.

● Jeder Mensch hat das Recht auf einen angemessenen
Lohn. Dieser muss mindestens den angemessenen Le-
bensunterhalt sichern. Dieses Grundrecht auf angemesse-
nen Lohn beinhaltet zum einen die Maßgabe des Min-
destlohns. Er schützt die abhängig Beschäftigten vor
einer Ausbeutung ihrer Arbeitskraft.

Zum anderen enthält Artikel 3a Absatz 3 GG aber auch das
Recht auf einen „angemessenen Lohn“, der zumindest die
Grenze des Mindestlohns erreicht, aber darüber hinaus rei-
chen kann. Ein angemessener Lebensunterhalt ist ein sol-
cher, der ein menschenwürdiges Leben, die Teilhabe an dem
Leben der Gemeinschaft sichert und die umfassende Repro-
duktion der Arbeitskraft ermöglicht. Angemessen ist der
Lohn dann, wenn von der in der Arbeitszeit erzielten Leis-
tung ein angemessener Teil bei der Arbeitnehmerin bzw.
dem Arbeitnehmer verbleibt. Angemessener Lohn drückt
sich zum einen darin aus, dass die Arbeitsleistung entspre-
chend den Grundsätzen der Entgeltgleichheit entlohnt wird.
Der Lohn ist darüber hinaus auch nur dann angemessen,
wenn er nicht diskriminierend wirkt.

In dem zukunftsoffen formulierten Grundrecht ist berück-
sichtigt, dass veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingun-
gen die Bewertung des angemessenen Lohns beeinflussen.
Lediglich das unterste Mindestmaß ist durch das Recht um-
schrieben, einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.

In Teil II Artikel 4 Nummer 1 der von Deutschland ratifizier-
ten Europäischen Sozialcharta heißt es, dass die Vertrags-
staaten, um das Recht auf gerechtes Arbeitsentgelt zu ge-
währleisten, das Recht der Arbeitnehmenden auf ein
Arbeitsentgelt anerkennen, „welches ausreicht, um ihnen
und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu
sichern“.

Die Europäische Sozialcharta enthält darüber hinaus in Teil I
Nummer 4 die Maßgabe, dass alle Arbeitnehmer das Recht
„auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, das ihnen und ihren Fami-
lien einen angemessenen Lebensstandard sichert“, haben.

dd) Zu Artikel 3a Absatz 4 GG

Zu den Rechten in der Arbeit gehört, dass jede Arbeitnehme-
rin und jeder Arbeitnehmer das einklagbare Recht auf gesun-
de, sichere und menschenwürdige Arbeitsbedingungen hat.
Die technische Entwicklung beeinflusst in hohem Maße die
Beurteilung der Arbeitsbedingungen. Das Grundrecht richtet
sich zwar zunächst an den Staat. Die Grundrechte strahlen
jedoch auf das Privatrecht aus. Der Staat hat mit den geeig-
neten Mitteln gesunde, sichere und menschenwürdige Ar-
beitsbedingungen zu gewährleisten. Die menschenwürdige
Arbeit verdeutlicht zugleich die Aussage in Artikel 3a
Absatz 1 GG. Mittelpunkt des Arbeitslebens ist der Mensch.

Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen sind solche, die
beispielsweise ein zu großes Pensum verlangen, die Arbeit-
nehmenden zu reinen Objekten des Profitstrebens degradie-
ren oder die den Menschen nicht den Freiraum zur Entfal-
tung ihrer Persönlichkeit lassen. Zur Klarstellung wird
ausdrücklich das Recht auf Freizeit und Erholung als Recht
in der Arbeit kodifiziert. Im Zusammenhang mit Absatz 1 er-
gibt sich hieraus die stetige Pflicht, die Persönlichkeitsent-
faltung der Menschen durch Arbeitszeitverkürzung und Ur-

Drucksache 16/13791 – 16 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

laub ebenso wie die Förderung von Bildungsmaßnahmen zu
fördern. Darüber hinaus sind menschenunwürdige Arbeits-
bedingungen solche, die diskriminierendes Verhalten för-
dern oder beinhalten.

Gesunde und sichere Arbeitsbedingungen tragen dazu bei,
das Grundrecht aus Artikel 3d GG auf Achtung und Schutz
der Gesundheit zu gewährleisten. Insbesondere im Zusam-
menhang mit der Lohnarbeit ist auf verfassungsrechtlicher
Ebene sicherzustellen, dass Arbeitgeber die abhängige Stel-
lung der Arbeitnehmer nicht missbrauchen dürfen, um die-
sen ungesunde und unsichere Arbeitsbedingungen aufzu-
zwingen.

Der Staat ist ferner zur Gestaltung einer familienfreundli-
chen Arbeitswelt verpflichtet. Er hat dafür zu sorgen, dass
Arbeitnehmende Arbeitsbedingungen vorfinden, die dem
Bedürfnis der Einzelnen nach größtmöglicher Entfaltung
ihrer Persönlichkeit und dem verfassungsrechtlich gebote-
nen Schutz der Familie entsprechen. Der zukunftsoffene Be-
griff der Arbeitswelt macht deutlich, dass die Familien-
freundlichkeit nicht nur in der Arbeit, sondern auch beim
Zugang zur Arbeit und deren Ausgestaltung bestehen muss.
Die Attraktivität der Arbeitswelt zu fördern, dient zugleich
der Beseitigung bestehender sozialer Nachteile.

b) Zu Artikel 3b GG

Das Grundrecht auf soziale Sicherung schreibt weitestge-
hend die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
zur Sicherung des Existenzminimums fest. Ein hinreichend
deutlicher und unmissverständlicher Verfassungstext hat in
diesem Zusammenhang einen Eigenwert. Er ermöglicht es
jedem Menschen, aus dem Grundgesetz das einklagbare in-
dividuelle Grundrecht auf soziale Sicherung zu ersehen.

Während in Artikel 3b Absatz 1 GG das Recht festgelegt
wird und die nähere Qualifizierung der Sicherung erfolgt,
werden in Absatz 2 konkrete Anforderungen an die Finan-
zierung des Anspruchs und zum System sozialer Sicherung
niedergelegt.

Jeder Mensch ist in einer hochentwickelten, arbeitsteiligen
Gesellschaft für ein Leben in Würde grundsätzlich auf ein
Mindestmaß an Solidarität angewiesen. Jeder Mensch, der
die Grundbedürfnisse zum Leben und die Teilhabe in der Ge-
meinschaft nicht selbst sichern kann, benötigt Hilfe. Hierzu
ist nach dem Grundgesetz der Staat berufen. Er ist nach
Artikel 1 GG umfassend zur Achtung und zum Schutz der
Menschenwürde verpflichtet. Er verfügt über die Mittel, eine
gerechtere Verteilung des gesellschaftlich Vorhandenen
durchzusetzen und ist hierzu verpflichtet (vgl. Artikel 20
GG). In dem Maße, wie die Einzelnen nicht befähigt sind,
die genannten Voraussetzungen aus eigener Kraft zu sichern,
muss daher der Staat Gewähr bieten. Um den Menschen
nicht zum reinen Objekt staatlicher „Fürsorge“ zu machen,
bedarf es eines im Grundgesetz selbst verankerten Rechtsan-
spruchs zur Sicherung der Voraussetzungen eines menschen-
würdigen Daseins und der damit verbundenen Teilhabemög-
lichkeit.

aa) Zu Artikel 3b Absatz 1 GG

Die Rechtsprechung hat bereits nach geltender Rechtslage
dem Grundgesetz eine Verpflichtung des Staates zur Gewäh-
rung eines Anspruchs auf staatliche Hilfe zu einer Sicherung
des Existenzminimums anerkannt.

So hat das Bundesverfassungsgericht in mittlerweile gefes-
tigter Rechtsprechung aus Artikel 1 GG in Verbindung mit
dem Sozialstaatsprinzip den Anspruch auf das individuelle
Existenzminimum anerkannt. Hierzu führt es aus: „Es liefe
außerdem dem Sozialstaatsgebot des Artikels 20 Absatz 1
GG in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG zuwider, das
fordert, Menschen einen Anspruch auf staatliche Hilfe zu-
kommen zu lassen, um so ihr Existenzminimum zu sichern.“
(vgl. BVerfG NJW 2005, 1927 (1930)).

In einer Entscheidung aus dem Jahre 1951 hatte das Bundes-
verfassungsgericht festgestellt, dass der Gedanke des An-
spruchs auf positive Fürsorge in die Grundrechte nur in be-
schränktem Maße Eingang gefunden habe und aus dem
Schutzgedanken der Menschenwürde nicht Schutz vor mate-
rieller Not, sondern gegen Angriffe auf die Menschenwürde
durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfol-
gung, Ächtung usw. gemeint sei (vgl. BVerfG, NJW 1975,
1691 ff.).

Erst in der Entscheidung aus dem Jahre 1975 führte es da-
gegen aus: „Gewiß gehört die Fürsorge für Hilfsbedürftige
zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates
(BVerfGE 5, 85, 198 = NJW 1956, 1393; BVerfGE 35, 202,
236 = NJW 1973, 1226). Dies schließt notwendig die soziale
Hilfe für die Mitbürger ein, die wegen körperlicher oder
geistiger Gebrechen an ihrer persönlichen und sozialen Ent-
faltung gehindert und außerstande sind, sich selbst zu unter-
halten. Die staatliche Gemeinschaft muß ihnen jedenfalls die
Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein
sichern und sich darüber hinaus bemühen, sie soweit mög-
lich in die Gesellschaft einzugliedern, ihre angemessene Be-
treuung in der Familie oder durch Dritte zu fördern sowie die
notwendigen Pflegeeinrichtungen zu schaffen. Diese allge-
meine Schutzpflicht kann natürlicherweise nicht an einer be-
stimmten Altersgrenze enden; sie muß vielmehr dem jeweils
vorhandenen Bedarf an sozialer Hilfe entsprechen“ (BVerfG
NJW 1975, 1691 ff.).

In einer Entscheidung aus dem Jahre 1987 ließ das Gericht
die Frage offen, ob Artikel 1 Absatz 1 GG insoweit ein
subjektives Recht vermittelt (vgl. BVerfG, NJW 1988, 757,
758).

Im Jahre 1990 stellte das Bundesverfassungsgericht dann
fest: „Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Beurtei-
lung ist der Grundsatz, dass der Staat dem Steuerpflichtigen
sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es
zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein men-
schenwürdiges Dasein benötigt wird. Dieses verfassungs-
rechtliche Gebot folgt aus Artikel 1 I GG i. V. mit dem So-
zialstaatsgrundsatz des Artikels 20 I GG. Ebenso wie der
Staat nach diesen Verfassungsnormen verpflichtet ist, dem
mittellosen Bürger diese Mindestvoraussetzungen erforder-
lichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern (vgl. BVerfGE
40, 121 (133) = NJW 1975, 1691), darf er dem Bürger das
selbst erzielte Einkommen bis zu diesem Betrag – der im fol-
genden als Existenzminimum bezeichnet wird – nicht entzie-
hen“ (vgl. BVerfG NJW 1990, 2869, 2871).

Die Kodifizierung des Grundrechts auf Sicherung der Vor-
aussetzung für ein menschenwürdiges Dasein orientiert sich
an den bisher ergangenen Entscheidungen des Bundesver-
fassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts. Zu
den (Mindest-)Voraussetzungen eines menschenwürdigen
Daseins, also eines Lebens, welches der menschlichen Wür-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 17 – Drucksache 16/13791

de entspricht, gehört danach nicht nur die Deckung der
materiellen Mindestbedürfnisse zum Überleben. Sämtliche
Erfordernisse des sozialen Wesens Mensch, also auch seine
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, sind zu gewährleis-
ten. Artikel 3b Absatz 1 Satz 1 GG sichert den Anspruch
eines jeden Menschen auf bedarfsorientierte soziale Siche-
rung. Mit dem Begriff der Bedarfsorientierung ist
sichergestellt, dass die soziale Sicherung, wie in Satz 2 wei-
ter ausgeführt, einen Anspruch auf gegenleistungs- und dis-
kriminierungsfreie Sicherung des Lebensunterhalts, der min-
destens die Voraussetzung für ein menschenwürdigen
Dasein und die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft ge-
währleistet, umfasst.

Gegenleistungsfrei bedeutet in diesem Zusammenhang, dass
die Gewährleistung der sozialen Sicherung von keinerlei Ge-
genleistungen abhängig gemacht werden darf. Dies bedeutet
insbesondere, dass dem Anspruch keine Arbeitspflicht kor-
respondiert. Sanktionen sind unzulässig. Alles andere wäre
ein Verstoß gegen die unantastbare Menschenwürde.

Die soziale Sicherung muss diskriminierungsfrei erfolgen.
Das heißt, dass soziale Nachteile auszugleichen und beson-
dere Belastungen zu berücksichtigen sind. Darüber hinaus ist
insbesondere die Differenzierung nach dem Aufenthaltssta-
tus oder der Staatsangehörigkeit grundsätzlich unzulässig.

Die soziale Sicherung muss mindestens Ausgrenzung und
Armut verhindern. Die Höhe dieser Sicherung und damit
eine Quantifizierung derjenigen Voraussetzungen, die ein
menschenwürdiges Dasein sichern, kann auf Verfassungse-
bene nicht vorgenommen werden.

bb) Zu Artikel 3b Absatz 2 GG

Der Staat ist verpflichtet, kollektive Sicherungssysteme für
die Wechselfälle des Lebens zu schaffen. Diese sind solida-
risch zu finanzieren.

Absatz 2 verpflichtet den Staat, die Gewährleistung und
Finanzierung nicht nur den potentiell Anspruchsberechtigten
zu überlassen. Die kollektiven Sicherungssysteme zeichnen
sich insbesondere dadurch aus, dass sich die Einzelnen nicht
individuell gegen derartige Risiken absichern, sondern hier-
für gemeinschaftliche Systeme geschaffen werden, die die
Last auf viele Schultern verteilen.

Die Wechselfälle des Lebens, wie Arbeitslosigkeit oder -un-
fall, Invalidität, Krankheit, Alter, Pflege und Tod sind durch
solche Sicherungssysteme abzudecken. Diese Systeme sind
darüber hinaus solidarisch zu finanzieren. Die Einzelheiten
liegen in der Gestaltungsprärogative der Gesetzgebung.

c) Zu Artikel 3c GG

Die Wohnung ist der Existenzmittelpunkt eines jeden Men-
schen. Sie dient zur Befriedigung elementarer Lebens-
bedürfnisse und zur Entfaltung der Persönlichkeit. Obdach-
losigkeit verletzt die Würde des Menschen. Ein Mensch
ohne Wohnung, ohne Rückzugsmöglichkeit und einen Ort
der freien Entfaltung wird in seiner Persönlichkeitsentwick-
lung derart behindert, dass auch der Wesensgehalt von
Artikel 2 Absatz 1 GG und Artikel 1 Absatz 1 GG für ihn
nicht mehr gewährleistet ist.

Wie dringlich die Einführung eines Grundrechtes auf Wohn-
raum ist, kommt nicht zuletzt in den Schlussfolgerungen des
Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte der Vereinten Nationen zum 4. Periodischen Bericht

Deutschlands (2001) zum Ausdruck. Der Ausschuss erneu-
erte darin seine Besorgnis über die steigende Anzahl und die
Not obdachloser Menschen in Deutschland (vgl. 4. Bericht
des Ausschusses 2001, S. 5). Darüber hinaus lässt sich die
Notwendigkeit des Grundrechts auf Wohnen nicht nur für
Obdachlose, sondern auch für sozial ausgegrenzte und be-
nachteiligte Personen feststellen.

Mieterverdrängende Wohnungsleerstände, die Wohnraum-
vernichtung, der Verkauf öffentlichen Eigentums an Woh-
nungen, die Umwandlung in Eigentumswohnungen und die
Ausweitung des Eigenbedarfsrechts über die unmittelbaren
Wohnbedürfnisse des Eigentümers/der Eigentümerin hinaus
sind gesellschaftliche Praktiken, die dem Menschenwürde-
gehalt des Rechts auf Wohnen zuwiderlaufen können.

In Deutschland ist das Recht auf Wohnung in einigen Lan-
desverfassungen verankert. Bereits nach geltender Rechts-
lage schließt das Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Ab-
satz 1 GG die Verpflichtung des Staates mit ein, für an-
gemessene wohnliche Versorgung der Bevölkerung die Vo-
raussetzungen zu schaffen (vgl. 5. Periodischer Staaten-
bericht der Bundesrepublik Deutschland nach den Arti-
keln 16 und 17 des Internationalen Paktes über wirtschaft-
liche, soziale und kulturelle Rechte, 2008). Die Landesver-
fassungen werden größtenteils durch das Bundesrecht über-
lagert. Zudem schaffen sie keine subjektivrechtlichen,
einklagbaren Grundrechte. So fordern verschiedene Vereine
wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
e. V. ebenso wie der Deutsche Mieterbund e. V. die Veranke-
rung eines Grundrechts auf Wohnen im Grundgesetz.

Angesichts geschätzter Zahlen von etwa einer viertel bis hal-
ben Million Obdachloser in einem reichen Land wie der
Bundesrepublik Deutschland muss zwingend ein einklag-
bares Grundrecht auf Wohnen kodifiziert werden. Es ist
tatsächlich und rechtlich möglich, jedem Menschen in der
Bundesrepublik Deutschland einen subjektivrechtlichen,
einklagbaren Anspruch auf eine angemessene Wohnung zu
schaffen.

Der sozialstaatlichen Verpflichtung nach Artikel 20 Absatz 1
GG wird im Hinblick auf das Recht auf Wohnen bisher nicht
ausreichend Geltung verschafft. Das bisher von der Recht-
sprechung anerkannte Besitzrecht des Mieters an der Woh-
nung nach Artikel 14 GG genügt für den erzielten umfassen-
den Schutz des Menschenrechts auf Wohnen nicht.

aa) Zu Artikel 3c Absatz 1 GG

Das Grundrecht auf eine menschenwürdige Wohnung zielt
auf die Teilhabe in allen sozialen Zusammenhängen und
Bereichen der Lebensgestaltung. Es dient der politischen,
demokratischen Teilhabe und dem Freiheitsbereich zur so-
zialen Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit.

Es reicht nicht aus, eine Geldleistung zur Verfügung zu stel-
len und auf die Rechte aus Artikel 3b GG zu verweisen. Viel-
mehr gestaltet Artikel 3c GG das besondere Bedürfnis auf
eine menschenwürdige Wohnung mit den dazugehörenden
Umwelt- und Lebensbedingungen weiter aus. Es sichert jen-
seits marktkonformer Mechanismen, die in großen Städten
oft zu einer Segregation führen, das Menschenrecht auf
Wohnen.

Das Grundrecht umfasst deshalb nicht nur den Schutz vor
Naturgewalten und das Recht auf Unterbringung in ange-
messenem Wohnraum, sondern auch die durch die Wohnung

Drucksache 16/13791 – 18 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

vermittelte Möglichkeit umfassender sozialer Kommunika-
tion und Entfaltung der Persönlichkeit.

Privates Gewinnstreben muss mit diesem Grundrecht in ei-
nen verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden. Die Si-
cherung dieses Grundrechts ist Teil der öffentlichen Daseins-
vorsorge.

Der barrierefreie Zugang ist Bestandteil des Rechts auf eine
menschenwürdige Wohnung. Unabhängig von Aufenthalts-
status und Staatsangehörigkeit und sozialer Stellung oder
Herkunft besteht ein diskriminierungsfreies Grundrecht auf
eine menschenwürdige Wohnung.

Der Bezug zur Menschenwürde ergibt sich aus der sozialen
und zugleich individuellen Bedeutung der Wohnung. Die
Frage, welche Wohnung menschenwürdig ist, richtet sich
nach den individuellen Bedürfnissen der Einzelnen in der
Gesellschaft. Dieser Charakter der Wohnung lässt sich nicht
rein quantitativ ermessen. Ob eine Wohnung menschen-
würdig ist, kann hier daher nicht abschließend definiert wer-
den. Die menschliche Würde ist zwar feststehend. Was ihr
entspricht, hängt jedoch von den gesellschaftlichen Vorstel-
lungen ab.

Das Recht auf Versorgung mit Wasser und Energie dient der
Verwirklichung der Mindestanforderungen eines menschen-
würdigen Daseins. Jeder Mensch hat das Recht auf den
Zugang und die Versorgung mit Wasser und Energie als Min-
destanforderung an menschenwürdige Lebensbedingungen.
Dieses Recht ist diskriminierungsfrei zu gewährleisten. Vor-
handene soziale Nachteile bei der Versorgung mit Wasser
und Energie sind zu beseitigen (vgl. Artikel 3 Absatz 3 GG).

bb) Zu Artikel 3c Absatz 2 GG

Der Staat ist nach Artikel 3c Absatz 2 GG verpflichtet, für
Mieterschutz zu sorgen, auf angemessene Mieten hinzuwir-
ken und Miet- und Wohnbelastungen einkommensgerecht
auszugleichen. Er sichert den Zugang zu Wasser und Ener-
gie. Die hier aufgeführten Verpflichtungen folgen bereits aus
dem Sozialstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 1 GG), aus Arti-
kel 1 GG und aus Artikel 14 GG. Die Ausgestaltung des
Mieterschutzes, der Ausgleich von Miet- und Wohnbelastun-
gen und die Gewährleistung angemessener Mieten sichern
den sozial diskriminierungsfreien Zugang.

cc) Zu Artikel 3c Absatz 3 GG

Um das Recht auf eine menschenwürdige Wohnung unein-
geschränkt zu gewährleisten, sieht Absatz 3 vor, dass im Fal-
le einer Räumung zumutbarer Ersatzwohnraum zur Verfü-
gung gestellt werden muss. Die Zumutbarkeit orientiert sich
an den Vorgaben in Absatz 1.

Dass die Räumung von Wohnraum nur zulässig ist, wenn zu-
mutbarer Ersatzwohnraum zur Verfügung gestellt wird, er-
gibt sich zwar auch aus Absatz 1. In Artikel 3c Absatz 3 GG
wird wegen der besonderen Bedeutung der Verhinderung
von Obdachlosigkeit jedoch ausdrücklich klargestellt, dass
das Recht auf Wohnraum das Grundrecht umfasst, eine Woh-
nung nur dann verlassen zu müssen, wenn dies nicht in eine
Obdachlosigkeit mündet.

d) Zu Artikel 3d GG

Gesundheit ist ein Grundrecht, das für die Ausübung anderer
Grundrechte unerlässlich ist. Um ein Leben in Würde zu füh-
ren, ist es deswegen unabdingbar, dass ein jeder Mensch das
subjektivrechtliche, einklagbare Grundrecht auf Achtung
und Schutz der Gesundheit hat. In einem Sozialstaat muss
jede Differenzierung der medizinischen Versorgung nach
den finanziellen Mitteln vermieden werden, die die Gesell-
schaft spaltet und einen Teil der Menschen ausgrenzt.

aa) Zu Artikel 3d Absatz 1 GG

Nach Artikel 3d Absatz 1 GG hat jeder Mensch das Recht
auf Achtung und Schutz der Gesundheit und auf Inanspruch-
nahme der Leistungen der gesundheitlichen Infrastruktur.
Das Recht auf Achtung und Schutz der Gesundheit ist nicht
als Recht darauf, gesund zu sein, zu (miss-)verstehen.

Das Recht auf Gesundheit wird in seiner abwehrrechtlichen
Dimension auch von Artikel 2 Absatz 2 GG geschützt. Da-
mit wird das Recht, über die eigene Gesundheit und den
eigenen Körper zu bestimmen gewährleistet. Um den Zu-
sammenhang zwischen dem Abwehr- und Leistungscha-
rakter in Bezug auf Gesundheit besonders herauszustellen,
werden beide Rechte in Artikel 3d Absatz 1 GG zusammen-
geführt.

Das Recht auf Schutz der Gesundheit beinhaltet auch den
Zugang zu sauberem Wasser, adäquaten Sanitäranlagen und
die angemessene Versorgung mit unbedenklicher Nahrung
und Unterkunft sowie den Zugang zu gesundheitsbezogener
Bildung und Information. Artikel 3d Absatz 1 GG fordert
ein Gesundheitssystem, welches in allen Situationen körper-
licher oder geistiger Krankheit eine diskriminierungsfreie
Erreichung des jeweiligen Höchstmaßes an Gesundheit für
den einzelnen Menschen gewährleistet.

bb) Zu Artikel 3d Absatz 2 GG

Das Recht ist nach Artikel 3d Absatz 2 GG durch einen so-
zial gerechten, solidarisch finanzierten und diskriminie-
rungsfreien Zugang zu den Leistungen der gesundheitlichen
Infrastruktur zu gewährleisten. Hierauf besteht ein durch-
setzbarer Anspruch eines jeden Menschen. Das Recht auf
Zugang zu den Leistungen der gesundheitlichen Vorsorge,
Versorgung, Nachsorge und Pflege umfasst sowohl die bio-
logischen als auch die sozialen und wirtschaftlichen Voraus-
setzungen gesunden Lebens durch medizinische Einrich-
tungen und ärztliche, qualifizierte Betreuung. Die
medizinischen Einrichtungen sind materiell und personell
angemessen auszustatten.

Der Zugang zu den medizinischen Leistungen muss diskri-
minierungsfrei sein. Er muss insbesondere im Einklang mit
den Diskriminierungsverboten nach Artikel 3 Absatz 3 GG
stehen und sozial gerecht sein. Er muss daher bezahlbar sein.
Die Finanzierung der Leistungen erfolgt zwingend solida-
risch. Die Einzelheiten der Ausgestaltung obliegen dem Ge-
setzgeber.

Der Zugang muss barrierefrei erfolgen. Dies gilt sowohl hin-
sichtlich körperlicher als auch durch Sprache oder ähnliche
Kriterien gebildete Barrieren. Einrichtungen der gesundheit-
lichen Infrastruktur müssen insbesondere im ländlichen
Raum erreichbar und jedem Menschen – unabhängig von
Aufenthaltsstatus und Staatsangehörigkeit – zugänglich sein.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 19 – Drucksache 16/13791

cc) Zu Artikel 3d Absatz 3 GG

Nach Artikel 3d Absatz 3 GG ist der Staat zur Gestaltung ge-
sundheitsförderlicher Lebens-, Arbeits-, Wohn- und Um-
weltbedingungen verpflichtet. Damit wird das Recht auf
Achtung und Schutz der Gesundheit auch außerhalb der Ein-
richtungen der gesundheitlichen Infrastruktur – vor allem
unter dem Gesichtspunkt der Prävention – befördert.

e) Zu Artikel 3e GG

Bildung ist sowohl ein eigenständiges Menschenrecht als
auch ein unverzichtbares Mittel zur Verwirklichung anderer
Menschenrechte. Als ein Recht, das auf die Befähigung zur
Selbstbestimmung und -entfaltung abzielt, ist Bildung auch
das Hauptinstrument um sozial ausgegrenzten Menschen die
Teilhabe am Gemeinwesen zu ermöglichen. Das Grundrecht
auf Bildung hat eine überragende Bedeutung bei der Be-
kämpfung von Armut. Es dient dem Erwerb der Vorausset-
zungen für eine umfassende eigenständigen Informationsge-
winnung und Meinungsbildung. Dies ist eine notwendige
Voraussetzung, um am demokratischen Entscheidungspro-
zess teilhaben zu können. In Artikel 3e GG wird das Grund-
recht auf Bildung ausdrücklich als subjektives, einklagbares
Recht festgeschrieben. Absatz 1 erfasst die Ausformungen
des Rechts auf Bildung, während Absatz 2 wesentliche Ziele
und Grundanforderungen an die Ausgestaltung von Bil-
dungsangeboten festlegt.

Trotz der durch die Föderalismusreform verfestigten Zustän-
digkeit der Länder auf dem Gebiet der Bildung ist eine Ko-
difizierung des Grundrechts auf Bildung im Grundgesetz
sinnvoll, weil die Grundrechte des Grundgesetzes die ge-
meinsamen Grundlagen des föderalen Staates bilden und
nach Artikel 1 Absatz 3 und Artikel 20 Absatz 3 GG alle
staatliche Gewalt binden. Das Recht auf Bildung wird nach
vereinzelter Auffassung aus einer sozialstaatlichen Inter-
pretation des Artikels 12 Absatz 1, des Artikels 7 Absatz 1
und des Artikels 5 Absatz 3 GG hergeleitet (vgl. hierzu
Heymann/Stein, AöR 97 (1972), 185 ff.). Das Recht auf Bil-
dung ist in zahlreichen Landesverfassungen verankert. Es
wird jedoch nach herrschender Meinung lediglich als Pro-
grammsatz interpretiert. Der Artikel 3e GG überlagert und
ergänzt diese landesverfassungsrechtlichen Regelungen. So-
weit das einklagbare Grundrecht auf Bildung aus Artikel 3e
GG reicht, sind die entsprechenden Landesverfassungsrege-
lungen, soweit sie lediglich als Programmsätze formuliert
sind oder interpretiert werden, verdrängt.

Artikel 3e GG regelt umfassend das subjektive, einklagbare
Grundrecht auf Bildung in seiner Funktion zur Entwicklung
der menschlichen Persönlichkeit. Zudem wird das lebenslan-
ge Lernen erfasst.

Der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte äußerte in seinen Schlussfolgerungen zum 4. Periodi-
schen Bericht Deutschlands (2001) insbesondere seine Be-
sorgnis darüber, dass mehrere Bundesländer sich vom
Grundsatz der kostenlosen weiterführenden Bildung durch
das Erheben von Gebühren entfernt hätten. Er empfahl eine
Senkung der Studiengebühren mit dem Ziel deren Abschaf-
fung. In Artikel 3e GG wird die Unentgeltlichkeit des Zu-
gangs zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen und die
Unentgeltlichkeit der Lernmittel besonders verankert. Dabei
bleibt es der Ausgestaltung des Gesetzgebers überlassen, wie
er den unentgeltlichen Zugang im Einzelnen gewährleistet.

aa) Zu Artikel 3e Absatz 1 GG

Das Grundrecht auf Bildung bestimmt in Artikel 3e Absatz 1
Satz 2 GG einzelne Ausformungen der Bildung. Es wird von
einem Begriff der Bildung, die nachfolgend aufgeführten
Mindestanforderungen genügt, ausgegangen. Bildung ist
nicht als bloßes Anhängsel der Arbeit zu begreifen.

Die Bildung muss allgemein und frei zugänglich sein.

Bildung muss diskriminierungsfrei verfügbar sein. Der dis-
kriminierungsfreie Zugang zu Bildung kann auch durch aus-
geprägte Unterschiede in der Ausgaben- und Haushaltspoli-
tik beeinträchtigt sein, wenn dies zu wohnortbedingten
Qualitätsunterschieden in der Bildung führt. Die Bildungs-
angebote müssen im Rahmen der Grundrechte annehmbar
für alle sein. Bildung muss flexibel und den von vielfältigen
sozialen und kulturellen Gegebenheiten geprägten Bedürf-
nissen der Lernenden angemessen sein. Die Bildung ist auf
das Wohl der Lernenden auszurichten.

Der Zugang zur Bildung darf weder persönlich noch struktu-
rell diskriminierend sein. Dabei ist insbesondere auf die in
Artikel 3 Absatz 3 GG genannten Merkmale abzustellen.
Soziale und andere Nachteile dürfen kein Hindernis beim
freien Zugang zu Bildung sein. Der freie Zugang insbeson-
dere von Personen verschiedener sozialer Stellung und
Herkunft und aller in dem Staatsgebiete befindlicher Perso-
nen – unabhängig von Aufenthaltsstatus und Staatsangehö-
rigkeit – ist zu gewährleisten. Strukturelle und persönliche
Barrieren sind zu beseitigen. Das Geschlecht oder die sexu-
elle Identität sind als besonders tradierte Diskriminierungs-
merkmale beim Zugang zu bestimmten Bildungseinrichtun-
gen genauso wie bei der Gestaltung der Lehrinhalte für eine
allgemein zugängliche Bildung zu berücksichtigen. Etwaige
Behinderungen physischer und psychischer Art sind sowohl
bei der körperlichen als auch geistigen Zugänglichkeit der
Bildungsangebote und -inhalte zu berücksichtigen. Der Bil-
dungsort muss barrierefrei zugänglich und in zumutbarer
Entfernung vom Wohnort gelegen oder durch entsprechend
frei verfügbare Informationstechnik zugänglich sein. Bil-
dung muss unentgeltlich sein. Dies umfasst den Zugang zu
den öffentlichen Einrichtungen ebenso wie die Lernmittel.
Bei privaten beruflichen Weiterbildungs- und Ausbildungs-
einrichtungen kann eine Unentgeltlichkeit durch Inan-
spruchnahme der Arbeitgeber gewährleistet werden. Dies
obliegt der Entscheidung des Gesetzgebers.

Nach Artikel 3e Absatz 1 Satz 3 GG ist die öffentliche Bil-
dung in der integrativen Vorschule ebenso wie die gesamte
Schulausbildung, berufliche Aus- und Weiterbildung, Hoch-
schulbildung unentgeltlich zugänglich zu gestalten. Sowohl
der Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen als
auch Lernmittel müssen unentgeltlich zur Verfügung stehen,
damit alle diskriminierungsfrei ihr Recht auf Bildung wahr-
nehmen können. Funktionsfähige öffentliche Bildungsein-
richtungen und -programme müssen in ausreichendem Maße
und der ganzen Bandbreite der menschlichen Interessen an-
gemessen zur Verfügung stehen. Die Funktionsfähigkeit der
öffentlichen Einrichtungen hängt unter anderem davon ab,
dass Gebäude und sanitäre Einrichtungen in einem bestmög-
lichen Zustand sind.

Da zumindest der Zugang zu den öffentlichen Bildungsein-
richtungen unentgeltlich sein muss, ist ein oberstes Ziel der
öffentlichen Daseinsvorsorge, ein möglichst breites und in

Drucksache 16/13791 – 20 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

allen Bereichen mit privaten Einrichtungen konkurrenzfähi-
ges Angebot an öffentlichen Bildungseinrichtungen zu
schaffen. Das Vorhandensein öffentlicher Bildungseinrich-
tungen in allen menschlichen Tätigkeitsfeldern schafft erst
die Voraussetzungen für einen diskriminierungsfreien Zu-
gang. Die entsprechend der Vorgaben in Absatz 2 ausgebil-
deten Lehrkräfte müssen konkurrenzfähige Gehälter bezie-
hen. Lehrmaterialien und Informationstechnik müssen dem
jeweiligen Stand der Wissenschaft entsprechen.

Es ist eine bestmögliche kulturelle und politische Bildung zu
gewährleisten. Die diskriminierungsfreien und den Vorga-
ben der Meinungsfreiheit und Glaubensfreiheit verpflichte-
ten Bildungsangebote dienen einer umfänglichen Teilhabe in
der Gesellschaft.

Das Recht auf berufliche Aus- und Weiterbildung beruht als
Schnittstelle zwischen dem Grundrecht auf Bildung und dem
Grundrecht auf Arbeit sowie dem Grundrecht auf Berufsfrei-
heit auf einem ganzheitlichen und freiheitlichen Bildungs-
verständnis. Es dient zugleich dem lebenslangen Lernen,
dem Erwerb der Voraussetzungen selbstbestimmten Han-
delns und der Verhinderung sozialer Ausgrenzung und Ar-
mut. Es ermöglicht die Aneignung der Fähigkeiten und Fer-
tigkeiten, um den eigenen Lebensunterhalt zu erwerben.
Bildung ist nicht nur ein Anhängsel der Arbeit. Die Vermitt-
lung von technischen, wissenschaftlichen und sonstigen
praktischen Kenntnissen soll daher nicht nur besonderen
fachlichen und beruflichen Ausbildungsprogrammen über-
lassen bleiben.

Die berufliche Aus- und Weiterbildung, die ebenfalls den
oben genannten Kriterien des diskriminierungsfreien Zu-
gangs von Bildung genügen muss, ermöglicht den Erwerb
von Wissen und Fertigkeiten, die zur persönlichen Entwick-
lung, der Eigenständigkeit und der Beschäftigungsquali-
fikation beitragen. Sie stärkt andererseits die kulturelle und
soziale Entwicklung des Gemeinwesens. Der diskriminie-
rungsfreie Zugang ist für alle Menschen unabhängig vom
Aufenthaltsstatus oder der Staatsangehörigkeit zu gewähr-
leisten. Geschlecht, sexuelle Identität, Alter und Behinde-
rung sind als besonders relevante Diskriminierungsmerk-
male im Hinblick auf persönliche und strukturelle
Zugänglichkeit der Aus- und Weiterbildung zu beachten.

Die berufliche Aus- und Weiterbildung ist als Bestandteil
des lebenslangen Lernens nicht allein auf die Erfordernisse
des jeweiligen Arbeitgebers, sondern vorrangig an der um-
fassenden, selbstbestimmten Weiterentwicklung der Persön-
lichkeit und den Interessen und Bedürfnissen der Grund-
rechtsberechtigten auszurichten.

Jeder Mensch hat das subjektiv einklagbare Recht, sich ein
Leben lang den eigenen Interessen folgend zu bilden und
weiterzubilden. Insbesondere das Alter zeigt sich als struktu-
relles und verbreitetes Diskriminierungsmerkmal bei dem
Zugang zur Bildung. Darüber hinaus zielt dieses Recht auf
einen gleichen Zugang zu Informationen und Bildungsange-
boten.

bb) Zu Artikel 3e Absatz 2 GG

Artikel 3e Absatz 2 GG legt fest, dass die Bildung auf die
volle Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit gerich-
tet ist. Offene Bildungswege, die pädagogische Freiheit der
Lehrkräfte, das Recht der Bildungseinrichtungen auf Selbst-

verwaltung im Rahmen der Gesetze und das Recht auf Mit-
bestimmung der Lernenden sind zu gewährleisten.

Die genannten Bestimmungen qualifizieren das Grundrecht
auf Bildung. Ziel und Inhalt jeder Bildung ist die volle Ent-
wicklung der menschlichen Persönlichkeit. Dieses grundle-
gende Ziel der Bildung ist sowohl in Artikel 26 Absatz 2 der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als auch in
Artikel 13 Absatz 1 des Paktes über wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rechte hervorgehoben. Menschenrechtserzie-
hung ebenso wie die Erlangung einer eigenständigen, selbst-
bestimmten Persönlichkeit stehen dabei im Vordergrund. Die
Achtung und der Schutz der Menschenrechte, die Nichtdis-
kriminierung und Gleichbehandlung, die Achtung und der
Schutz der Umwelt sind Elemente des Bildungsziels der vol-
len Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit.

Satz 2 hebt grundlegende Anforderungen an die Bildung, die
zum Teil schon Inhalt des Bildungsbegriffes sind, ausdrück-
lich hervor. Diskriminierungsfreie und frei zugängliche offe-
ne Bildungswege und das Recht auf Mitbestimmung der Ler-
nenden ergeben sich bereits aus dem Ziel des Grundrechts.
Die pädagogische Freiheit der Lehrkräfte ist wesentliches
Instrument zur Verwirklichung des Ziels der vollen Entwick-
lung der menschlichen Persönlichkeit. Grenze der pädagogi-
schen Freiheit stellen die Leistungsfähigkeit der Bildungs-
einrichtungen und die Bildungsinteressen der Schülerinnen
und Schüler bzw. anderer Benutzer dieser Einrichtungen dar.
Die pädagogische Freiheit der Lehrkräfte existiert nicht als
deren Grundrecht, sondern leitet sich aus ihrer Funktion her.
Sie ist ein Funktionsprinzip der Berufsausübung und folgt
aus der pädagogischen Verantwortung.

Zu Nummer 3

a) Zu Nummer 3a (Artikel 6 Absatz 2 GG)

Kinder sind zwar nach geltendem Recht Träger von Grund-
rechten. Dennoch bestimmt sich das Verhältnis von Kinder-
grundrechten und Elternrecht im Grundgesetz einseitig vom
Elternrecht her. Das Elternrecht ist in Artikel 6 Absatz 2
und 3 GG mit einer starken Rechtsstellung in Gestalt eines
Abwehrrechts versehen, während die Kinder im Grundge-
setz nur als Objekte der Pflege und Erziehung der Eltern ge-
nannt werden. Daher werden Reichweite und Grenzen der
Grundrechte von Kindern in der grundrechtlichen Dogmatik
nur innerhalb der Grenzen des durch Artikel 6 Absatz 2
Satz 1 GG garantierten Elternrechts inhaltlich bestimmt.

Der Ausschuss für die Rechte des Kindes hat am 30. Januar
2004 in der Abschließenden Bemerkung zum von Deutsch-
land vorgelegten 2. Periodischen Staatenbericht nach Arti-
kel 44 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes
festgestellt: „Der Ausschuss ist sich der zahlreichen Gesetze
bewusst, die in Bezug auf die Rechte von Kindern seit der
Prüfung des ersten Berichts erlassen wurden, ist gleichzeitig
aber nach wie vor beunruhigt, dass das Übereinkommen bis-
lang noch nicht im Grundgesetz verankert ist, wie dies zum
Zeitpunkt des ersten Berichts vorgesehen war“ (CRC/C/15/
Add.226 vom 30. Januar 2004). Diese unbefriedigende Situ-
ation wird mit dem vorliegenden Gesetz beseitigt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung
vom 29. Juli 1968 (BVerfGE 24, 119) festgestellt, dass Kin-
der selbst Träger subjektiver Rechte sind, dass sie selbst We-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 21 – Drucksache 16/13791

sen mit eigener Menschenwürde und einem eigenen Recht
auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit sind.

Das Grundgesetz benennt die Kinder nur im Rahmen der
Elternrechte und nicht als selbstständige Träger eigener
Grundrechte. Es enthält keine explizite Feststellung des
Rechts eines jeden Kindes auf Entwicklung und Entfaltung
seiner Persönlichkeit und auf Schutz vor Gewalt, Vernach-
lässigung und Ausbeutung. Auch fehlt eine ausdrückliche
Normierung der staatlichen Schutzpflicht gegenüber Kin-
dern.

Eine ausdrückliche Verankerung von Kinderrechten im
Grundgesetz beseitigt das Ungleichgewicht zwischen El-
tern- und Kinderrechten im Wortlaut des Grundgesetzes.

Artikel 6 GG als „die grundlegende Verfassungsvorschrift
für den Lebensbereich der Familie“ (BVerfGE 24, 119, 135)
ist der richtige Standort für die Aufnahme von Kindergrund-
rechten. Auf der Grundlage von Artikel 6 GG hat das Bun-
desverfassungsgericht ein differenziertes, gut austariertes
System der wechselseitigen Rechte und Pflichten im Drei-
ecksverhältnis Eltern-Kind-Staat entwickelt, in das sich die
neu aufzunehmenden Kinderrechte harmonisch einfügen.
Insbesondere ist die Grundgesetzänderung so ausgestaltet,
dass sie nicht zu einer materiellen Verschiebung des in Arti-
kel 6 Absatz 2 und 3 GG angelegten komplexen Verhältnis-
ses zwischen Elternrecht und Elternverantwortung einerseits
und dem staatlichen Wächteramt andererseits führt.

Das den Eltern zustehende, fremdnützige Recht auf Pflege
und Erziehung der Kinder sowie die korrespondierende
Pflicht, diese stets am Kindeswohl auszurichten, sollen
durch die Änderung ebenso wenig im Grundsatz tangiert
werden, wie die Schutzpflicht des Staates, zur Sicherung des
Kindeswohls bei dessen Gefährdung einzugreifen. Diese
Schutzpflicht ist insoweit subsidiär gegenüber dem Primat
der Elternverantwortung. Denn sie ist darauf beschränkt, die
Einhaltung der Grenzen des Elternrechts und die Erfüllung
der Elternpflichten zu überwachen und im Falle der Grenz-
überschreitung bzw. der Nicht- oder Schlechterfüllung zum
Wohle des Kindes einzugreifen.

Die Regelung im neuen Absatz 2 des Artikels 6 GG verdeut-
licht die Rechte der Kinder, wie sie sich aus anderen verfas-
sungsrechtlichen Vorschriften nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts ergeben. Die Elternrechte wer-
den hiervon nicht beschnitten. Durch die Einfügung des
neuen Absatzes 2 als wertentscheidender Grundsatznorm
zwischen den Absätzen 1 und 3, die das Verhältnis von El-
ternverantwortung und staatlichem Wächteramt regeln, wird
die Subjektstellung des Kindes als Träger eigener Rechte im
Verhältnis zu den Eltern und zum Staat auch in systemati-
scher Hinsicht klargestellt. Denn die Voranstellung der Kin-
derrechte verdeutlicht, dass Elternrechte wie auch staatliches
Wächteramt um der Kinder willen gewährt werden und kei-
nen Selbstzweck darstellen. Das besondere Verhältnis zwi-
schen dem Vorrang der Elternverantwortung und dem staat-
lichen Wächteramt, wie es in dem geltenden Artikel 6 Abs. 2
und 3 GG geregelt ist, bleibt im Übrigen unberührt: Nach
wie vor sind zunächst die Eltern und dann – im Falle des
elterlichen Versagens oder der Verwahrlosung des Kindes
aus anderen Gründen – der Staat verantwortlich dafür, dass
die Rechte der Kinder beachtet werden.

● Der neue Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 GG schreibt zunächst
das vom Bundesverfassungsgericht aus Artikel 2 Ab-

satz 1 GG in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG her-
geleitete Recht eines jeden Kindes auf Entwicklung und
Entfaltung seiner Persönlichkeit ausdrücklich fest. Mit
der Aufnahme eines Rechts auf Entwicklung wird dabei
der Prozess des „Person-Werdens“ des Kindes, d. h. das
allmähliche Hineinwachsen des Kindes in die Selbstbe-
stimmungs- und Selbstverantwortungsfähigkeit, aus-
drücklich in den Schutzbereich des Grundrechts einbezo-
gen. Hieraus ergibt sich auch eine Stärkung des Rechts
des Kindes auf Förderung seiner Entwicklung und auf Er-
ziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemein-
schaftsfähigen Persönlichkeit nach § 1 SGB VIII. Das
Ziel eines selbstbestimmten „Person-Werdens“ setzt da-
bei voraus, dass Kinder altersangemessen an den sie be-
treffenden Entscheidungen beteiligt werden. Eine ent-
sprechende Verpflichtung sieht Artikel 12 der
UN-Kinderrechtskonvention vor. Darüber hinaus werden
mit der gewaltfreien Erziehung sowie dem Schutz vor
Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung wesentliche
Elemente einer am Kindeswohl orientierten Pflege und
Erziehung der Kinder durch die Eltern verfassungsrecht-
lich festgelegt. Der Schutz vor Ausbeutung umfasst den
Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung (vgl. auch
Artikel 32 der UN-Kinderrechtskonvention). Kinderar-
beit ist danach verboten. Auch Jugendliche dürfen durch
Arbeit keinen Gefahren ausgesetzt sein, die ihre Gesund-
heit oder ihre Entwicklung schädigen können. Dies ist
insbesondere durch besondere Regelungen der Arbeits-
zeit und der Arbeitsbedingungen einfachgesetzlich si-
cherzustellen.

● Mit dem neuen Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 GG wird be-
stimmt, dass die staatliche Gemeinschaft die Rechte des
Kindes achtet, schützt und fördert und für kindgerechte
Lebensbedingungen Sorge trägt. Damit wird zum einen
die staatliche Schutzpflicht gegenüber Kindern, wie sie
nach geltendem Recht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 GG
hergeleitet wird, ausdrücklich normiert. Im Übrigen
enthält die Regelung einen objektiven Förderungs- und
Ordnungsauftrag zugunsten von Kinderrechten an die
staatliche Gemeinschaft, d. h. an alle staatlichen Ent-
scheidungsträger in Gesetzgebung, Verwaltung und
Rechtsprechung auf Bundes- und Landesebene. Hierin
liegt u. a. auch ein Auftrag an den Bundes- und Landes-
gesetzgeber, die grundrechtliche Gewährleistung des
Rechts von Kindern auf Entwicklung und Entfaltung
ihrer Persönlichkeit durch geeignete Maßnahmen auf
Ebene des einfachen Rechts – z. B. im Kinder- und Ju-
gendhilferecht und im Familienrecht – umzusetzen und
zu vervollständigen.

● Durch den neuen Artikel 6 Absatz 2 Satz 3 GG wird si-
chergestellt, dass das Kindeswohl bei allen Entscheidun-
gen (z. B. durch Jugendämter oder Gerichte – aber auch
durch den Gesetzgeber) besonders berücksichtigt wird.
Kinderbelange werden damit als eigenständiger, abwä-
gungsfähiger Gegenstand hervorgehoben.

Eine entsprechende Regelung enthält auch Artikel 3 der
UN-Kinderrechtskonvention. Darin heißt es: Bei allen Maß-
nahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentli-
chen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Ge-
richten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen
getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichts-
punkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Artikel 12 der

Drucksache 16/13791 – 22 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

UN-Kinderrechtskonvention regelt darüber hinaus: Die Ver-
tragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene
Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das
Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und be-
rücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und ent-
sprechend seinem Alter und seiner Reife. Zu diesem Zweck
wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen
das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren
entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine
geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Ver-
fahrensvorschriften gehört zu werden.

b) Zu Nummer 3b

Die bisherigen Absätze 2 bis 5 des Artikels 6 werden die Ab-
sätze 3 bis 6. Es handelt sich um eine Folgeänderung.

Zu Nummer 4 (Artikel 9 Absatz 4 GG)

Satz 1 gewährleistet als individuelles und kollektives Grund-
recht ein uneingeschränktes Streikrecht. Im Grundgesetz ist
im Gegensatz zu verschiedenen Länderverfassungen (vgl.
Artikel 50 Absatz 2 der Verfassung von Bremen, Artikel 29
Absatz 2 der Hessischen Verfassung, Artikel 26 der Verfas-
sung von Nordrhein-Westfalen und Artikel 54 Absatz 1 der
Verfassung von Rheinland-Pfalz) das Streikrecht bislang
nicht ausdrücklich verankert. Die Frage nach dem verfas-
sungsrechtlichen Schutz des Streikrechts war nach Inkraft-
treten des Grundgesetzes daher zunächst umstritten. Das
Bundesverfassungsgericht hat unter Bezug auf die Koali-
tionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 GG „Arbeitskampfmaß-
nahmen jedenfalls insoweit von der Koalitionsfreiheit um-
fasst [angesehen], als sie erforderlich sind, um eine
funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen“ (BVerfGE
92, 365, 393 f.). Zur Begründung verweist das Gericht auf
die (nunmehr) ausdrückliche Erwähnung der „Arbeitskämp-
fe“ in Artikel 9 Absatz 3 Satz 3 GG, vor allem aber auf die
Tarifautonomie, die die Wahl der auf Abschluss eines Tarif-
vertrages gerichteten Mittel grundsätzlich den Koalitionen
überlasse; daher sei auch der Einsatz dieser Mittel vom
Schutz des Grundrechts umfasst (vgl. auch BVerfGE 84,
212, 224 f.).

Nicht jede Form des Streikes genießt bislang den Schutz des
Grundgesetzes. In der Rechtsprechung des Bundesarbeitsge-
richts sowie in der herrschenden juristischen Lehre wird das
Streikrecht auf eine Annexfunktion zum Tarifrecht be-
schränkt. Streiks sind danach grundsätzlich nur erlaubt, so-
weit sie tariflich regelbaren Zielen gelten und sich gegen
denjenigen richten, mit dem der Tarifvertrag geschlossen
werden soll. Als unzulässig angesehen werden: der Streik
einer Ad-hoc-Koalition (wilder Streik), viele Formen des
Solidaritätsstreiks sowie politische Streiks. Mehrfach
schwankend war die Rechtsprechung zu sogenannten Warn-
streiks. Unter Bezugnahme auf Artikel 33 Absatz 5 GG soll
der Beamtenstreik unzulässig sein. Sämtliche Streiks
müssen ferner verhältnismäßig sein (Nachweise und Kritik
in: AK-GG Kittner/Schiek, Artikel 9 Absatz 3 Rn. 140 ff.,
3. Auflage).

Diese Beschränkungen überzeugen nicht. Ein derart einge-
schränktes Verständnis wird der eigenständigen Bedeutung
des Arbeitskampfmittels Streik bei sozialen und politischen
Auseinandersetzungen nicht gerecht. Das Recht, sich durch
Arbeitsniederlegungen der Vorherrschaft der Eigentümer an

den Produktionsmitteln zur Wehr zu setzen, gehört zu den in-
ternational anerkannten Menschenrechten. Ein Streikverbot
läuft auf „Kadavergehorsam“ und „Zwangsarbeit“ hinaus
und verletzt die Menschenwürde der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, indem es sie zu Objekten macht, die auf
unternehmerische Entscheidungen lediglich mit folgsamer
Duldsamkeit reagieren können. Zumindest einige der ge-
nannten Beschränkungen stehen zudem im Widerspruch zu
völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik
Deutschland. So gewährleistet die Europäische Sozialcharta
(BGBl. 1964 II S. 1262) in Artikel 6 Nummer 4a „das Recht
der Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf kollektive Maßnah-
men einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessen-
konflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus gel-
tenden Gesamtarbeitsverträgen.“ Nach Meinung des
Sachverständigenausschusses, der das zuständige Organ für
die Kontrolle der Einhaltung der Charta durch die Vertrags-
staaten ist, verstößt das deutsche Arbeitskampfrecht in zwei
Punkten gegen Artikel 6 Nummer 4a: unzulässig sei das ge-
werkschaftliche Streikmonopol und die Beschränkung des
Streikrechts auf tariflich regelbare Ziele (vgl. dazu Däubler,
AuR 1998, 144)

In Satz 2 wird noch einmal ausdrücklich hervorgehoben, dass
vom Streikrecht auch der politische Streik umfasst ist. Im
europäischen Vergleich sind politische Streiks neben der
Bundesrepublik Deutschland nur noch in Dänemark und
Großbritannien verboten (vgl. Deutscher Bundestag, Wissen-
schaftliche Dienste, Generalstreik – Rechtliche Bedingungen
und Streikkultur im Vergleich, 24. April 2006, WF VI G –
3000-103/06).

Die Zulässigkeit des politischen Streiks ist schon aus demo-
kratietheoretischen Überlegungen heraus dringend geboten.
Die auf Unternehmensseite liegende Verfügungsmacht über
die Produktionsmittel ermöglicht einen andauernden Druck
auf den Staat. Die Arbeitgeber haben und nutzen – unter an-
derem durch den Verweis auf ihre Entscheidungsbefugnis
über die Vornahme von Investitionen oder den Export von
Kapital – die Möglichkeit, auf den politischen Meinungs-
und Willensbildungsprozess entscheidend Einfluss zu neh-
men. Diese strukturelle Überlegenheit bedarf in einer sozial-
staatlich verfassten Demokratie eines Ausgleichs. Entgegen
der herrschenden Auffassung liegt im politischen Streik auch
keine Gefährdung der Unabhängigkeit von Staatsorganen.
Unter der Vorherrschaft des Kapitals vermag er ihnen viel-
mehr erst ihre Unabhängigkeit zurückzugeben.

Satz 3 enthält – wie Artikel 29 Absatz 5 der Hessischen Ver-
fassung – ein Verbot der Aussperrung. Für die Zulässigkeit
der Aussperrung wird vor allen das Prinzip der sogenannten
Verhandlungsparität angeführt (vgl. dazu BVerfGE 84, 212,
225). Dem Streikrecht in der Hand der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer soll die Aussperrung als Kampfmittel der
Arbeitgeber entsprechen. Streik und Aussperrung sind je-
doch nicht miteinander zu vergleichen. Ein Gleichgewicht,
das ein halbwegs ausgewogenes Aushandeln der Arbeits-
und Wirtschaftsbedingungen zulässt, wird durch das Recht
zum Streik erst hergestellt. Der Streik ist das einzige Mittel
der abhängig Beschäftigten, die Benachteiligung auf dem
strukturell unausgewogenen Arbeitsmarkt auszugleichen.
Bei der Aussperrung werden die Arbeitsnehmerinnen und
Arbeitnehmer dagegen zu einem bloßen Mittel, um die Ge-
werkschaften finanziell so zu schädigen, dass ihnen eine
Fortsetzung des Streiks unmöglich wird.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23 – Drucksache 16/13791

Zu Nummer 5 (Artikel 16a GG)

Die Änderung des Artikels 16 GG, die vom Deutschen Bun-
destag ungeachtet der breiten gesellschaftlichen Proteste
nach 14-stündiger Debatte am 26. Mai 1993 beschlossen
wurde, war eine gravierende Einschränkung, eine faktische
Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Der abstrakte
Grundsatz im geltenden Artikel 16a Absatz 1 GG („Politisch
Verfolgte genießen Asylrecht.“) wird durch die nachfolgen-
den Absätze 2 bis 5 systematisch wieder zurückgenommen.
Kein Flüchtling, der über eine Landesgrenze in die Bundes-
republik Deutschland eingereist ist, kann sich seitdem mehr
auf das individuelle Grundrecht auf Asyl berufen.

Das individuelle Asylrecht stellte eine praktisch wirksame
Lehre aus der deutschen Vergangenheit dar. Auf der Konfe-
renz von Evian im Juli 1938 versagten alle potentiellen Auf-
nahmeländer Flüchtlingen aus Deutschland den Schutz und
begründeten dies mit einer angeblich drohenden „Überbe-
völkerung“ und hoher Arbeitslosigkeit im eigenen Lande.
Die Parallelen zu heutigen Begründungsmustern der Ab-
schottung sind unübersehbar. Heute wie damals sind Schutz-
suchende infolge der restriktiven Visa- und Asylbestimmun-
gen in Europa gezwungen, auf illegalen Wegen und unter
Gefährdung ihres Lebens um Asyl nachzusuchen.

Der von rechten politischen Kräften initiierte und bis zur „er-
folgreichen“ Grundgesetzänderung betriebene „Kampf ge-
gen das Asylrecht“ war auch ein Teil des ideologischen
Kampfes gegen ein Verständnis Deutschlands als Einwande-
rungsland. Asylsuchende „eigneten“ sich in besonderer Wei-
se als Angriffs- und Projektionsziel für fremdenfeindliche
Ressentiments.

Obwohl inzwischen vor allem europäische Regelungen die
Asylpolitik entscheidend mitbestimmen und die praktische
Relevanz des bundesdeutschen Asylgrundrechts hiervon be-
einflusst wird, ist seine Wiederherstellung im Grundgesetz
erforderlich. Das Grundrecht auf Asyl ist dabei umfassend in
Anlehnung an die Verpflichtungen aus der Genfer Flücht-
lingskonvention und an europäisches Schutzniveau zu kodi-
fizieren. Gerade in einem Gesetz zur Aufnahme einklagbarer
sozialer Grundrechte, die die Menschenwürde in einem so-
zialen, solidarischen Kontext gewährleisten, wird so die Ein-
heit von Freiheits- und Gleichheitsrechten verwirklicht.

a) zu Artikel 16a Absatz 1 GG (Asyl)

Artikel 16a Absatz 1 GG lehnt sich an die Definition des
„Flüchtlings“ in Artikel 1 der Genfer Flüchtlings-Konven-
tion an. Ein dieser völkerrechtlichen Regelung entsprechen-
der Standard wird im neuen Asylgrundrecht verankert. Die
Auslegung der Grundrechtsnorm kann sich daher an der
Flüchtlingskonvention und den entsprechenden Aus-
legungshinweisen des Hohen Flüchtlingskommissars der
Vereinten Nationen orientieren. Im Hinblick auf den neu ge-
fassten Artikel 3 Absatz 3 GG wird lediglich einige entspre-
chende sprachliche und inhaltliche Anpassung vorgenom-
men. Der Asylgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe gewährt die erforderliche Zukunftsoffen-
heit.

Der Flüchtlingsstatus der Genfer Flüchtlingskonvention
knüpft an die Merkmale der Rasse, Religion, politischen
Überzeugung, Nationalität und Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe an (vgl. Artikel 1 A 2 GFK) an.

Die in Artikel 16a Absatz 1 GG aufgenommene Formulie-
rung nimmt die Regelung auf und erweitert diese um ge-
schlechtspezifische Diskriminierungsgründe, wie beispiels-
weise Geschlecht und sexuelle Identität, auch wenn diese
unter den Begriff der „bestimmten sozialen Gruppe“ subsu-
miert werden können. Schließlich wird der Begriff der Rasse
durch die angemessene Formulierung „rassistische“ ersetzt.

b) Zu Artikel 16a Absatz 2 GG (nachrangiger Schutz)

Artikel 16a Absatz 2 GG begründet darüber hinaus für jeden
Menschen einen Anspruch auf nachrangigen Schutz vor
einer zwangsweise erfolgenden Rückkehr in das Herkunfts-
land.

Jeder Mensch, der wegen einer erheblichen Gefährdung sei-
ner körperlichen Unversehrtheit, seiner Gesundheit oder sei-
nes Lebens nicht in sein Herkunftsland zurückkehren kann,
hat Anspruch auf Schutz. Als Herkunftsland gilt grundsätz-
lich das Land, dessen Staatsangehörigkeit die oder der
Schutzsuchende besitzt; in Ausnahmefällen wie der Staaten-
losigkeit das Land des früheren gewöhnlichen Aufenthalts.

Die „erhebliche Gefährdung seiner körperlichen Unversehrt-
heit, seiner Gesundheit oder seines Lebens“ muss aber nicht
– wie in Artikel 16a Absatz 1 GG – auf einer Verfolgung aus
bestimmten Gründen beruhen. Artikel 16a Absatz 2 regelt
einen nachrangigen Schutzanspruch, der die Flüchtlings-
eigenschaft im Sinne der Genfer-Flüchtlingskonvention
nicht voraussetzt.

Die Formulierung umfasst in gebotener Kürze unter ande-
rem die wesentlichen ernsthaften Schäden, die auch in
Artikel 15 Buchstabe a, b und c der Richtlinie 2004/83/EG
des Rates vom 29. April 2004 näher ausgeführt werden. Die
genannte Richtlinie regelt einen gemeinsamen europäischen
Mindestschutzstandard für Personen mit Anspruch auf sub-
sidiären Schutz. Die Bundesrepublik Deutschland als
Mitglied der Europäischen Union hat den darin geregelten
Mindestschutz als individuellen Rechtsanspruch zu gewähr-
leisten.

Nach der Richtlinie 2004/83/EG bezieht sich die Gefahr
eines „ernsthaften Schadens“ auf:

● die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,

● Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behand-
lung oder Bestrafung im Herkunftsland,

● ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der
Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher
Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaat-
lichen bewaffneten Konflikts.

Die erwähnten „ernsthaften Schäden“ im Sinne des Artikels
15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004
finden eine Entsprechung in Artikel 3 der Europäischen
Menschenrechtskonvention (BGBl. 2002 II S. 1055) – im
Folgenden EMRK – und in Artikel 3 des Übereinkommens
gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder er-
niedrigende Behandlung und Strafe vom 10. Dezember 1984
(BGBl. 1990 II S. 246); im Folgenden: Anti-Folter-Konven-
tion.

Ein Vertragsstaat darf nach Artikel 3 der Anti-Folter-Kon-
vention eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen,
abschieben oder an diesen ausliefern, wenn stichhaltige
Gründe für die Annahmen bestehen, dass sie dort Gefahr lie-

Drucksache 16/13791 – 24 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
fe, gefoltert zu werden. Niemand darf nach Artikel 3 EMRK
der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe
oder Behandlung unterworfen werden.

Ebenso wie der Schutz gegen Folter beruht der Schutz von
Kriegs- und Bürgerrechtsflüchtlingen auf einem menschen-
rechtlichen Schutzkonzept. Die Verankerung bestimmter
Mindeststandards auf der Ebene des Grundgesetzes führt-
gerade im Kontext des Grundrechtskatalogs – die enge Ver-
bindung zwischen Flüchtlingsschutz und humanitärem
Schutz vor Augen. Die hier geregelten Grundrechte auf Asyl
und nachrangigen Schutz stellen ein Mindestschutzniveau
sicher. Darüber hinaus wird die Erweiterung des Konzepts
subsidiären Schutzes durch die zukunftsoffene Formulie-
rung in Artikel 16a Absatz 2 GG ermöglicht. Entscheidend
ist grundsätzlich die erhebliche Gefährdung durch die
(zwangsweise durchgesetzte) Rückkehr in das Herkunfts-
land.

Zu Artikel 2 (Inkrafttreten)

Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes.

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