BT-Drucksache 16/12296

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 19./20. März 2009 in Brüssel und zum G-20-Gipfel am 2. April 2009 in London

Vom 18. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12296
16. Wahlperiode 18. 03. 2009

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, Dr. Lothar Bisky, Dr. Diether Dehm, Werner Dreibus, Wolfgang Gehrcke,
Heike Hänsel, Inge Höger, Dr. Hakki Keskin, Katja Kipping, Michael Leutert,
Kornelia Möller, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), Dr. Herbert Schui, Dr. Axel
Troost, Alexander Ulrich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 19./20. März 2009 in Brüssel und
zum G-20-Gipfel am 2. April 2009 in London

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem Treffen der G20-Staaten am 2. April 2009 in London maßen sich die
Industriestaaten einmal mehr die Regelungskompetenz in Fragen des Weltwirt-
schafts- und Weltfinanzsystems an. Zwar werden im Rahmen der G20 über die
G8 hinaus Schwellenländer hinzugezogen. Die Entwicklungsländer, die eben-
falls unter der gegenwärtigen Krise leiden, bleiben aber nach wie vor von Ver-
handlungen ausgeschlossen. Anstatt alle Betroffenen zu hören, sollen auf dem
G20-Treffen erneut die Mitverursacher der Krise, wie die multilateralen Organi-
sationen Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank, mit deren Lösung
beauftragt werden.

Die aktuelle Krise ist nicht nur eine Krise der Finanzmärkte. Sie ist eine umfas-
sende Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Dieser hat nicht nur ein
kollabierendes Finanzwesen zu verantworten. Jahrzehntelang setzte die neo-
liberale Politik auf Liberalisierung und Rücknahme staatlicher wirtschaftlicher
und finanzpolitischer Kontrollmöglichkeiten. Damit hat sie auch eine Energie-
und Klimakrise sowie eine weltweite soziale Krise verursacht: mit steigenden
Nahrungsmittelpreisen, Hungersnöten, noch mehr Armut, wachsender Einkom-
mensungleichheit in allen Ländern und zwischen den Ländern und steigender
Arbeitslosigkeit. Zunehmende innergesellschaftliche Spannungen und Bürger-
kriege, genauso wie Kriege um den Zugang zu Rohstoffen sind Beispiele, wie
die Wirtschaftskrise die globale Kriegsgefahr erhöht.

Die aktuelle Krise ist auch eine Krise der Demokratie. Die Politik der G8 und
der von ihr dominierten internationalen Finanzinstitutionen legte mit vielen Ent-
scheidungen die Grundlagen für das Entstehen des finanzmarktgetriebenen

Kapitalismus und hat somit auch die heutige Krise zu verantworten. Die Staaten
und Gesellschaften außerhalb der OECD-Welt (OECD: Organisation für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), die gegenwärtig die Konse-
quenzen dieser Politik mittragen müssen, hatten bis in die jüngste Vergangenheit
keinen Einfluss auf wirtschafts- und finanzpolitische Weichenstellungen, die im
informellen Club der G8 ausgehandelt und international durchgesetzt wurden.

Drucksache 16/12296 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Das erste Treffen der G20 im November 2008 brachte angesichts der Herausfor-
derung völlig unzureichende Ergebnisse. Wie schon nach der Asienkrise wurde
zwar über Reformen und Transparenz der Finanzmärkte gesprochen und einige
Schritte zur Abfederung der Krise wurden unternommen, aber zentrale Probleme
der Regulierung der Finanzmärkte wurden nicht angepackt. Die Spekulation auf
Währungen, Nahrungsmittel und Rohstoffe wurde nicht einmal angesprochen,
ganz zu schweigen von Maßnahmen zur notwendigen Regulierung der Wäh-
rungssysteme. Statt das Kasino zu schließen, soll nur mehr Licht ins Kasino
gebracht werden.

Die Beschlüsse der G20 gingen erst Recht an der wesentlichen Ursache der Welt-
wirtschaftskrise, der neoliberalen Wirtschaftspolitik der G8, vorbei. Schließlich
haben gerade die Liberalisierung der Finanz-, Güter- und Dienstleistungsmärkte,
die Privatisierung und Kommerzialisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge
und die mit dieser Politik verbundene Einkommenspolarisierung den Boden für
die Krise bereitet.

Die Antwort der Europäischen Union auf die Weltwirtschaftskrise ist wider-
sprüchlich und erfährt zunehmend internationale Kritik. Der verabredete Kon-
junkturimpuls von 1,5 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung, der sich
aus 1,2 Prozent nationalen und 0,3 Prozent EU-Programmen zusammensetzen
soll, bleibt unbestimmt und fällt hinter die Maßnahmen der bedeutendsten
Industrienationen zurück. Die EU und insbesondere die Bundesrepublik
Deutschland werden ihrer internationalen Verantwortung zur Verringerung der
globalen und europäischen Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen nicht
gerecht. Darüber hinaus kommen die Maßnahmen zu spät, bleiben unverbind-
lich und sind ineffizient. Der überwiegende Teil der nationalen Maßnahmen
stärkt nicht die Einkommen von Beschäftigten, Rentnerinnen und Rentnern
sowie Transferempfängern. Die Binnennachfrage wird so unzureichend belebt.
Die Einkommens- und Vermögenspolarisierung in der EU verschärft sich.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt steht durch seine einseitigen Bestimmun-
gen zur Dämpfung von Nachfrage und Konjunktur einer gleichgewichtigen ge-
samtwirtschaftlichen Entwicklung entgegen. Die Ungleichgewichte innerhalb
der Eurozone sowie der Europäischen Union verstärken die Gefahr von Wäh-
rungskrisen und Staatsbankrotten. Sie verteuern die öffentliche Kreditversor-
gung auf den Kapitalmärkten (Zinsspreads) unabhängig von der Situation der
öffentlichen Haushalte in den betroffenen Mitgliedstaaten. Artikel 103 des
EG-Vertrages (No-Bail-Out-Klausel) verhindert den Beistand für notleidende
Währungspartner in der Eurozone und benachteiligt diese Staaten gegenüber
EU-Mitgliedstaaten außerhalb der Währungsunion. Der Vorrang des IWF bei
der Bekämpfung von Währungskrisen gegenüber den Maßnahmen der Euro-
päischen Investitionsbank (EIB) verdeutlicht die unzureichende Entwicklung
europäischer Krisenmechanismen.

Die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union erschweren den Schutz
von Arbeitsplätzen und Unternehmen vor den Folgen der Finanzkrise. Die Bei-
hilferegelungen des EG-Vertrages (EGV) sowie das Verbot der Beschränkung
des Kapitalverkehrs in Artikel 56 EGV verhindern den gezielten Einsatz öffent-
licher Gelder für die Rettung und Restrukturierung bedeutender Unternehmen.
Die Kapitalverkehrsfreiheit erleichtert die Zweckentfremdung der Mittel zu
Gunsten von Konzernmüttern außerhalb der EU.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich dafür einzu-
setzen dass,

1. die Entscheidungsprozesse zur Neugestaltung des globalen Wirtschafts- und
Finanzsystems demokratisiert werden, indem
● die gleichberechtigte Teilhabe von Entwicklungsländern an allen Folge-
konferenzen der G20-Regierungschefs gesichert wird. Die Organisation

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12296

der G20-Folgekonferenzen muss deshalb den Vereinten Nationen (UN)
übergeben werden. Die UN-Task Force unter Leitung von Joseph Stiglitz
soll in den Prozess einbezogen werden;

● der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) die
Rolle eines Koordinators der internationalen Wirtschaftspolitik über-
nimmt. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die Konferenz der
Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) und die
Umwelt- und Menschenrechtsrechtsorganisation sollen gestärkt und
demokratisiert werden. IWF, Weltbank und Welthandelsorganisation
(WTO) sollen den UN-Strukturen untergeordnet werden;

2. die Finanzmärkte unter demokratische Kontrolle gestellt werden, indem

● Wechselkurse durch die Schaffung von Zielzonen zwischen den großen
Weltwährungen stabilisiert sowie regionale Währungsabkommen unter-
stützt werden;

● eine funktionsfähige, weltweite Finanzmarktaufsicht unter dem Dach der
UN geschaffen wird: Zu ihren Aufgaben sollen die Entscheidung über das
Verbot von spekulativen Finanzinstrumenten auf globaler Ebene und eine
internationale Bankenaufsicht, die systemische Risiken der Finanzmärkte
überwacht und Gegenmaßnahmen vorschlagen kann, gehören. Eine Ver-
einbarung für die Etablierung von öffentlichen Ratingagenturen ist zu tref-
fen;

● wirksame Maßnahmen gegen spekulative Geschäfte getroffen werden, so-
dass Geschäfte mit hohem Kredithebel ebenso wie Hedgefonds verboten
und Spekulationen mit Währungen, Nahrungsmitteln und Rohstoffen be-
kämpft werden;

● eine Transaktionssteuer auf den Handel mit Wertpapieren, Devisen und
Derivaten zur Entschleunigung der Finanzmärkte sowie Kapitalverkehrs-
kontrollen eingeführt werden;

● die Schließung der Steueroasen befördert und organisiert und Schritte zur
angemessenen Besteuerung von Banken und transnationalen Konzernen
vereinbart werden;

3. eine Wende zur nachhaltigen Regulierung der Weltwirtschaft eingeleitet
wird, indem

● die nationalen Konjunktur- und Subventionsmaßnahmen international
koordiniert werden, um einen Subventionswettlauf der Industrieländer zu
Lasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und der schwachen Volks-
wirtschaften vor allem im globalen Süden zu verhindern und darüber
hinaus ein internationales Konjunkturprogramm für Maßnahmen zum
Klimaschutz, für den Erhalt und Ausbau der öffentlichen Infrastruktur mit
einem Schwerpunkt in den Entwicklungsländern aufgelegt wird;

● das Problem der globalen Leistungsbilanz entschärft wird. Ungleichge-
wichte können durch die Schaffung eines Ausgleichsmechanismus nach
dem Vorbild der von John Maynard Keynes in Bretton Woods ursprüng-
lich vorgeschlagenen „International Clearing Union“ behoben werden;

● eine Abkehr von der Orientierung an Exportmärkten und stattdessen eine
Wende zur Regionalisierung und Binnenmarktorientierung eingeleitet
wird, verbunden mit regionalen Abkommen zur Förderung von sozialen
und ökologischen Standards. In diesem Sinne sind auch Maßnahmen zur
Herstellung volkswirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltiger Pro-
duktion und von Ernährungssicherheit und -souveränität zu treffen;

Drucksache 16/12296 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
● der Vorrang von Umwelt- und Menschenrechtsabkommen sowie der ILO-
Abkommen vor WTO-Verpflichtungen und Wirtschaftsabkommen, die
sich an den WTO-Prinzipien orientieren (z. B. die Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staa-
ten) sicherzustellen ist. Die Doha-Verhandlungsrunde der WTO muss end-
gültig für gescheitert erklärt werden;

● eine Kontrolle der transnationalen Konzerne hinsichtlich ihrer Verpflich-
tung zu sozialen und ökologischen Standards und der Ausweitung von
Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechten in Angriff genommen, ein
sofortiger Stopp von Privatisierungen eingeleitet und ein Investitions-
abkommen angegangen wird, mit dem Investitionen nachhaltig reguliert
werden;

4. Sofortmaßnahmen für Entwicklungsländer getroffen werden, indem

● zur Abfederung der Folgen der Finanzkrise für die ärmsten Staaten ein
internationaler Notfonds aufgelegt wird. Er ist aus einer Kapitalabgabe zu
finanzieren. Die Notkredite für Staaten, die in Solvenzprobleme geraten,
dürfen nicht an prozyklisch wirkende, schädliche Auflagen für die Wirt-
schaftspolitik geknüpft werden, d. h. die aktuelle Vergabepraxis des wie-
der erstarkten IWF muss grundlegend revidiert werden;

● die Verpflichtungen zur Steigerung der Entwicklungsausgaben im Sinne
der UN-Millenniumsziele (0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis
2015) in jedem Fall eingehalten werden. Die Beiträge für UN-Programme
dürfen nicht gestrichen werden;

5. ein europäischer Krisenmechanismus und eine europäisch koordinierte Wirt-
schaftspolitik gestärkt werden durch

● die Etablierung eines verbindlichen makroökonomischen Dialogs der EU-
Mitgliedstaaten zur Koordination der Geld-, Finanz- und Lohnpolitik
unter Beteiligung des Europäischen Parlaments und der wesentlichen
makroökonomischen Akteure;

● eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die eine symmetrische
Fiskalpolitik, also Expansion und Dämpfung, ermöglicht;

● die Auflage von Euro-Anleihen zur Senkung der Kosten der öffentlichen
Kreditaufnahme innerhalb der EU sowie zur gleichmäßigeren Verteilung
der Lasten einer Wirtschaftspolitik, die das außenwirtschaftliche Gleich-
gewicht nicht beachtet;

● die Streichung des Artikels 103 des EG-Vertrags (No-Bail-Out-Klausel),
der die Stabilität der Währungsunion bedroht und die Spekulation der
Kapitalmärkte auf Staatsbankrotte fördert;

● eine Vertragsänderung, die Beihilfen aus wirtschaftlichen und sozialen
Gründen erleichtert und die Einschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit
des Artikels 56 EGV ermöglicht.

Berlin, den 17. März 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.