Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 29.06.2020, Az. 1 BvR 1866/15, 1 BvR 1868/15, 1 BvR 1869/15

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2020, 2934

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde von "Altanschließern" gegen Heranziehung zu Wasseranschlussbeiträgen in Mecklenburg-Vorpommern - Verstoß des § 9 Abs 3 S 1 KAG MV aF gegen Grundsatz der Rechtssicherheit ohne Auswirkung auf vorliegend angegriffene Bescheide - keine Verletzung von Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG (Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit) bzw von Art 3 Abs 1 GGBelastungsgleichheit


Tenor

Die [X.] werden nicht zur Entscheidung angenommen.

Die Anträge auf Auslagenerstattung werden abgelehnt.

Gründe

1

Die [X.]eschwerdeführer sind Eigentümer von Grundstücken in [X.], die bereits vor der [X.] über einen [X.] an eine Abwasserentsorgungseinrichtung verfügten. [X.] zog der [X.]eklagte des Ausgangsverfahrens die [X.]eschwerdeführer im Hinblick auf nach der [X.] getätigte Investitionsmaßnahmen (sogenannte "[X.]") auf der Grundlage insbesondere der §§ 1, 3 f. seiner Satzung über die Erhebung von [X.]eiträgen und Gebühren für die Abwasserentsorgung zur Zahlung von Schmutzwasseranschlussbeiträgen heran.

2

Die [X.]eschwerdeführer rügen im Verfassungsbeschwerdeverfahren eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit. § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 Kommunalabgabengesetz des Landes [X.] in der Fassung der [X.]ekanntmachung vom 12. April 2005 ([X.]) ermögliche eine zeitlich unbegrenzte Heranziehung zu [X.]beiträgen und sei deshalb verfassungswidrig. Dieser Verfassungsverstoß könne entgegen der Auffassung des [X.] auch nicht durch § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 [X.] legitimiert werden, demzufolge die Festsetzungsfrist bei der Erhebung eines [X.]beitrags nach § 9 Abs. 1 Satz 1 [X.] frühestens mit Ablauf des 31. Dezembers 2008 endete.

3

Die [X.] der [X.]eschwerdeführer bleiben ohne Erfolg.

4

1. Die [X.]eschwerdeführer werden nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG in seiner Ausprägung als Gebot der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verletzt.

5

a) § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 [X.] verstieß − auch in Anbetracht der Stichtagsregelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 [X.] − zwar gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (vgl. [X.] 133, 143 <156, 158 Rn. 34, 41>), weil diese Regelung bei unterbliebenem oder fehlerhaftem Erlass einer [X.]eitragssatzung eine zeitlich unbegrenzte Festsetzung von [X.]eiträgen nach Erlangung des Vorteils ermöglichte. Denn ohne eine wirksame Satzung konnte eine [X.] nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren, so dass das Landesrecht der Erhebung von [X.]eiträgen zum Vorteilsausgleich keine bestimmte zeitliche Grenze setzte, wenn nach der Schaffung der [X.] eine [X.]eitragssatzung nicht erlassen wurde oder nichtig war. Es ließ damit in diesen Fällen entgegen dem verfassungsrechtlichen Gebot der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit das berechtigte Interesse des [X.]ürgers, in zumutbarer Zeit Klarheit darüber zu gewinnen, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch [X.]eiträge ausgleichen muss, völlig unberücksichtigt.

6

Auch § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 [X.] normierte keine zeitliche Höchstgrenze der Inanspruchnahme, sondern verlängerte lediglich die Festsetzungsverjährungsfrist im Sinne einer Mindestfrist. Davon geht auch das [X.] ausdrücklich aus.

7

Der Vorschrift kann nach der Rechtsprechung des [X.] jedoch nicht nur der Wille des Gesetzgebers entnommen werden, eine [X.]eitragserhebung jedenfalls bis zum 31. Dezember 2008 zu ermöglichen. [X.]etroffene hätten wegen der darin enthaltenen Frist die Gewissheit gehabt, jedenfalls bis zum Ablauf des 31. Dezember 2008 mit der Heranziehung zu [X.]beiträgen rechnen zu müssen, so dass sich der Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit erst auf den Zeitraum nach Ablauf dieses Stichtages und folglich nicht auf [X.]escheide auswirke, die − wie in den streitgegenständlichen Verfassungsbeschwerdeverfahren − zuvor erlassen wurden (ebenso zum [X.] Landesrecht [X.], [X.]eschlüsse vom 27. Mai 2013 - 9 S 75.12 -, Rn. 29 und vom 16. Juli 2014 - 9 N 69.14 -, Rn. 22; Urteil vom 14. November 2013 - 9 [X.] 34.12 -, Rn. 60 f.). Dagegen ist von Verfassungs wegen nichts zu erinnern.

8

b) Verfassungsrechtliche [X.]edenken sind auch nicht vor dem Hintergrund angezeigt, dass nach Auffassung des [X.] § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 [X.] die Erhebung von [X.]beiträgen für eine 18-jährige Zeitspanne, nämlich vom [X.]eginn des Eintritts der [X.] bis zur möglichen Heranziehung zu [X.]eiträgen bis zum 31. Dezember 2008, ermöglichte. Der hier für die [X.]eurteilung der Rechtssicherheit maßgebliche Zeitraum hält sich im Rahmen des weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, der ihm im [X.]ereich der [X.]eitragserhebung zum Ausgleich von Vorteilen zukommt ([X.] 133, 143 <160 Rn. 46>).

9

Nach dem Willen des Gesetzgebers in [X.] sollte mit der Regelung in § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 [X.] den beitragserhebenden Körperschaften mehr Zeit eingeräumt werden, um [X.]eiträge von sogenannten Altanschließern erheben zu können ([X.] 4/1576 S. 77). Die besonderen Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit der deutschen [X.] wurden verfassungsgerichtlich bereits in unterschiedlichen Kontexten gewürdigt und gerade hinsichtlich des insoweit bestehenden gesetzgeberischen Einschätzungsspielraums anerkannt (vgl. [X.] 95, 1 <23 f.>; 95, 267 <313>; 148, 69 <119 Rn. 122>; [X.]VerfG, [X.]eschlüsse der [X.] des [X.] vom 26. Juli 1993 - 1 [X.]vR 504/93 -, Rn. 9 f. und vom 24. September 1997 - 1 [X.]vR 647/91 -, Rn. 43).

c) Gegen die Annahme der Gerichte, die beitragsrechtliche [X.] sei dabei Eigentümern von tatsächlich schon zu [X.] angeschlossenen Grundstücken erst in dem Zeitpunkt zugeflossen, in dem ihnen mit den jeweiligen öffentlichen Entsorgungseinrichtungen erstmals und frühestens unter dem grundlegend neuen Rechtsregime nach der [X.] der rechtlich gesicherte Vorteil geboten worden sei, ihr Schmutzwasser mittels einer öffentlichen Einrichtung entsorgen zu können, also nicht vor dem [X.], ist verfassungsrechtlich dann nichts zu erinnern, wenn die [X.] nur die nach der [X.] entstandenen Aufwendungen zum Gegenstand haben, also nur die sogenannten [X.] betreffen. Davon geht auch das [X.] in den von den [X.]eschwerdeführenden angegriffenen Entscheidungen aus (siehe hierzu jetzt auch [X.]GH, Urteil vom 27. Juni 2019 - [X.]/18 -, Rn. 55).

2. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Gebot der [X.]elastungsgleichheit liegt gleichfalls nicht vor. Dabei sind die [X.] bereits nicht ausreichend begründet (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.]VerfGG). Jedenfalls aber erweisen sie sich insofern als unbegründet.

a) Aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG folgt für das Steuer- und Abgabenrecht der Grundsatz der [X.]elastungsgleichheit (vgl. [X.] 124, 235 <244>; 132, 334 <349 Rn. 47>; 137, 1 <20 Rn. 48>; 149, 222 <254 Rn. 65>). Wer eine nichtsteuerliche Abgabe schuldet, ist regelmäßig zugleich steuerpflichtig und wird insofern zur Finanzierung der die [X.] treffenden Lasten herangezogen. Neben dieser steuerlichen Inanspruchnahme bedürfen nichtsteuerliche Abgaben, die den Einzelnen zu einer weiteren Finanzleistung heranziehen, einer über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgehenden besonderen sachlichen Rechtfertigung ([X.] 75, 108 <158>; 144, 369 <397 Rn. 62>; 149, 222 <254 Rn. 65>). Werden [X.]eiträge erhoben, verlangt Art. 3 Abs. 1 GG, dass die Differenzierung zwischen [X.]eitragspflichtigen und nicht [X.]eitragspflichtigen nach Maßgabe des Vorteils vorgenommen wird, dessen Nutzungsmöglichkeit mit dem [X.]eitrag abgegolten werden soll ([X.] 137, 1 <21 Rn. 51>; 149, 222 <254 Rn. 66>). Die Erhebung von [X.]eiträgen erfordert hiernach hinreichende sachliche Gründe, welche eine individuelle Zurechnung des mit dem [X.]eitrag belasteten Vorteils zum Kreis der [X.]elasteten rechtfertigen ([X.] 137, 1 <22 Rn. 52>; 149, 222 <254 f. Rn. 66>). Die für die Kostentragungspflicht erforderliche individuelle Zurechenbarkeit lässt sich insbesondere aus der rechtlichen oder tatsächlichen Sachherrschaft oder -nähe und der damit verbundenen Möglichkeit herleiten, aus der Sache konkrete wirtschaftliche Vorteile oder Nutzen zu ziehen ([X.] 91, 207 <223>; 137, 1 <22 Rn. 52>; 149, 222 <255 Rn. 66>).

b) Ein solcher sachlicher Grund für die Heranziehung der [X.]eschwerdeführer zu [X.]beiträgen durch den [X.]eklagten ist hier gegeben.

Das [X.]erufungsgericht hat ausgeführt, dass mit [X.]lick auf den Zeitpunkt der Entstehung des beitragsrechtlichen Vorteils nach ständiger Senatsrechtsprechung auch allen Eigentümern von tatsächlich bereits angeschlossenen Grundstücken ("Altan-schließer") mit den jeweiligen öffentlichen Entsorgungseinrichtungen von den kommunalen [X.] wie dem Zweckverband erstmalig und frühestens unter dem grundlegend neuen Rechtsregime nach der [X.] der rechtlich gesicherte Vorteil geboten worden sei, ihr Schmutzwasser mittels einer öffentlichen Einrichtung entsorgen zu können (dies gelte entsprechend für die Versorgung mit Trinkwasser durch einen Trinkwasseranschluss). In die [X.]eitragskalkulation zur Abgeltung dieses Vorteils seien zudem nur sogenannte "[X.]" eingeflossen. Der [X.] liegt demnach in der rechtlichen Absicherung des durch Aufwendungen nach der [X.] entstandenen Vorteils der Entsorgung von Schmutzwasser in einer öffentlichen Einrichtung. Dieser sei erstmals und frühestens nach Inkrafttreten insbesondere des Kommunalabgabengesetzes [X.] − beziehungsweise zeitlich danach mit Erlass einer wirksamen [X.]eitragssatzung − eingetreten.

Den Grundstücken der [X.]eschwerdeführer wurde demnach durch die [X.] ebenso wie den Neuanschließern ein wirtschaftlicher Vorteil vermittelt, der seine Rechtsgrundlage in § 9 [X.] findet (zur Möglichkeit der [X.]eitragserhebung für Vorteile aus Investitionen in bereits vorhandene Anlagen vgl. [X.] 137, 1 <27 Rn. 63>). Die [X.]eschwerdeführer profitieren in gleichem Maß wie Neuanschließer von den erfolgten Investitionsmaßnahmen. Es würde einen Verstoß gegen die nach Art. 3 Abs. 1 GG gebotene Vorteilsgerechtigkeit darstellen, wenn im Hinblick auf die [X.] nur die Neuanschließer für denselben Vorteil zu [X.]eiträgen herangezogen würden, nicht jedoch die [X.]eschwerdeführer als Altanschließer.

c) Wenn die [X.]eschwerdeführer den maßgeblichen Vorteil allein in der bereits vor der [X.] gegebenen tatsächlichen Möglichkeit des [X.]es an die Entsorgungseinrichtung sehen, zeigen sie keine verfassungsrechtlichen Verstöße auf. Investitionen zur [X.] werden hier gerade nicht "noch einmal" durch einen [X.]eitrag abgegolten, da sie nicht zu den [X.] gehören. Deren Rechtsgrundlage und rechtliche Einordnung als [X.] gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 [X.] ist keine Frage des [X.]undesverfassungsrechts, sondern eine einfachrechtliche Frage der Rechtsgrundlage des [X.]eitrags im Landesrecht. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Fachgerichte diese Rechtsgrundlage willkürlich ausgelegt oder angewendet hätten.

Von einer weiteren [X.]egründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]VerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1866/15, 1 BvR 1868/15, 1 BvR 1869/15

29.06.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BVerwG, 15. April 2015, Az: 9 C 16/14, Urteil

Art 2 Abs 1 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 9 KAG MV vom 14.07.2016, § 9 Abs 3 S 1 Halbs 2 KAG MV vom 12.04.2005, § 12 Abs 2 S 1 Halbs 2 KAG MV vom 12.04.2005

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 29.06.2020, Az. 1 BvR 1866/15, 1 BvR 1868/15, 1 BvR 1869/15 (REWIS RS 2020, 2934)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2934


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 9 C 16/14

Bundesverwaltungsgericht, 9 C 16/14, 15.04.2015.


Az. 1 BvR 1866/15, 1 BvR 1868/15, 1 BvR 1869/15

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 1866/15, 1 BvR 1868/15, 1 BvR 1869/15, 29.06.2020.


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