Bundesfinanzhof, Urteil vom 17.01.2013, Az. VI R 32/12

6. Senat | REWIS RS 2013, 8932

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Gegenstand

(Rückwirkende Anwendung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007)


Leitsatz

1. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 ist auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 anzuwenden.    

2. Die in § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 geregelte rückwirkende Geltungsanordnung der Vorschrift verstößt nicht gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob für die Veranlagungszeiträume 2002 bis 2004 noch Einkommensteuerveranlagungen durchzuführen sind.

2

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erzielte in den Streitjahren Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Daneben erwirtschaftete er nach den Angaben in seinen Einkommensteuererklärungen, die am 28. Dezember 2009 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --[X.]--) eingingen, Überschüsse der Werbungskosten über die Mieteinnahmen aus der langfristigen Vermietung einer Doppelhaushälfte in Höhe von 2.833 € (2002), in Höhe von 2.348 € (2003) und in Höhe von 2.030 € (2004). Mit Bescheiden vom 18. Februar 2010 lehnte das [X.] die Durchführung von Einkommensteuerveranlagungen ab, weil für die Streitjahre bereits Festsetzungsverjährung eingetreten sei.

3

Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage hat das Finanzgericht ([X.]) stattgegeben. Der [X.] ([X.]) habe im [X.] entschieden, dass eine Veranlagung von Amts wegen auch dann durchzuführen sei, wenn die negative Summe der Nebeneinkünfte den Betrag von 410 € übersteige. Danach habe der Kläger vorliegend einen Anspruch auf Abgabe der Einkommensteuererklärungen innerhalb der Festsetzungsfrist und Durchführung der Amtsveranlagungen erworben. Dieser Anspruch sei bereits mit Ablauf der jeweiligen Kalenderjahre und nicht erst mit Abgabe der Einkommensteuererklärungen entstanden und nicht durch Festsetzungsverjährung erloschen. Auch sei die Rechtslage für die Streitjahre nicht durch das Jahressteuergesetz ([X.]) 2007 vom 13. Dezember 2006 ([X.], 2878, [X.], 28) wirksam geändert worden. Zwar habe der Gesetzgeber die Vorschrift des § 46 Abs. 2 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) inzwischen dahingehend geändert, dass nur weitere positive Einkünfte von mehr als 410 € zu einer Amtsveranlagung führen, diese Änderung des Einkommensteuergesetzes wirke jedoch nicht auf die Streitjahre zurück.

4

Mit der Revision rügt das [X.] die Verletzung von § 46 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des [X.] 2007.

5

Es beantragt,
das angefochtene Urteil des Niedersächsischen [X.] vom 31. Januar 2012  8 K 196/10 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision des [X.] ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung).

8

1. Nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des [X.] 2007 ist die Amtsveranlagung nur durchzuführen, wenn, was hier nicht der Fall ist, die positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und § 24a EStG, mehr als 410 € beträgt (zur früheren Rechtslage s. [X.]-Urteile vom 21. September 2006 VI R 47/05, [X.], 149, [X.], 47; VI R 52/04, [X.], 144, [X.], 45). § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des [X.] 2007 ist gemäß § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.[X.] ([X.]) 2011 (früher § 52 Abs. 55j EStG i.d.F. des [X.] 2007) auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 und damit die Streitjahre anzuwenden. Wortlaut und Gesetzeszweck der Vorschriften sind insoweit eindeutig.

9

a) Der Gesetzgeber wollte mit den Neuregelungen die bisherige Verwaltungspraxis, nach der eine Pflichtveranlagung zur Einkommensteuer bei Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG voraussetzt, dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum Einkünfte aus anderen Einkunftsarten bezieht, deren positive Summe 410 € bzw. 800 DM übersteigt, fortgesetzt wissen ([X.]/[X.], EStG, 31. Aufl., § 46 Rz 12). Dies folgt zum einen aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber den Neuregelungen lediglich eine klarstellende Bedeutung beigemessen hat ([X.] 622/1/06, S. 21 f.; BTDrucks 16/3036, S. 22 "Zu Nummer 17"). Zum anderen macht die rück(be)wirkende Geltungsanordnung deutlich, dass der Gesetzgeber an seiner Lesart der bisherigen Fassung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht nur zukünftig, sondern auch für die Vergangenheit festhalten wollte (vgl. [X.] in [X.], EStG, [X.] 2011, § 46 Rz 26b). Nach der durch die allgemeinen Regeln der Mathematik unterstützten wörtlichen Auslegung der Vorschrift sei eine negative Summe der Einkünfte niedriger als 0 und könne damit nicht mehr als 410 € bzw. 800 DM betragen ([X.] 622/1/06, S. 21 f.).

b) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und des [X.] verstößt diese Auslegung des § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des [X.] 2011 nicht gegen das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze. Dabei kann der Senat offenlassen, ob der Gesetzgeber mit der rückwirkenden Geltungsanordnung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des [X.] 2007 tatsächlich in einen abgeschlossenen steuerlichen Sachverhalt ändernd eingegriffen hat. Denn selbst wenn ein solches Verhalten des Gesetzgebers vorläge, sind in der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) jedoch --ohne dass dies abschließend wäre-- Fallgruppen anerkannt, in denen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes) durchbrochen ist (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 14. Mai 1986  2 [X.] 2/83, [X.]E 72, 200 <258 ff.>; vom 3. Dezember 1997  2 BvR 882/97, [X.]E 97, 67 <79 f.>; [X.]-Urteil vom 23. November 1999  1 [X.], [X.]E 101, 239 <263>). So tritt das Rückwirkungsverbot, das seinen Grund im Vertrauensschutz hat, namentlich dann zurück, wenn sich kein schützenswertes Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 101, 239 <263>), etwa weil die Rechtslage unklar und verworren war (vgl. [X.]-Urteil vom 19. Dezember 1961  2 BvL 6/59, [X.]E 13, 261 <272>) oder eine gefestigte [X.] zu einer bestimmten Steuerrechtsfrage nach Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung rückwirkend gesetzlich festgeschrieben wird ([X.]-Beschlüsse vom 23. Januar 1990  1 BvL 4/87, 1 BvL 5/87, 1 BvL 6/87, 1 BvL 7/87, [X.]E 81, 228; vom 15. Oktober 2008  1 BvR 1138/06, Kammerentscheidungen des [X.] 14, 338, und vom 21. Juli 2010  1 BvL 11/06, 1 BvL 12/06, 1 BvL 13/06, 1 BvR 2530/05, [X.]E 126, 369, 393 f.).

Gemessen hieran durfte der Gesetzgeber für eine Pflichtveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG (weiterhin) positive Nebeneinkünfte voraussetzen. Denn mit der Neuregelung hat er lediglich die Rechtslage wiederhergestellt, die bis zu den Entscheidungen des [X.] vom 21. September 2006 (in [X.], 149, [X.], 47, und in [X.], 144, [X.], 45) der jahrzehntelangen [X.] (vgl. z.B. [X.]-Urteil vom 22. Mai 2006 VI R 50/04, [X.]E 214, 141, [X.], 801; [X.], Urteil vom 5. April 2006  1 K 1076/04, Entscheidungen der Finanzgerichte --E[X.]-- 2006, 1523; [X.], Urteil vom 10. Februar 2006  12 K 4601/05, [X.], 593; [X.], Urteil vom 2. Juni 2005 VI 260/03, juris; [X.], Urteil vom 13. November 2003  5 K 2804/03, juris) und der nahezu einhelligen Meinung im Fachschrifttum (z.B. [X.]/Glanegger, EStG, 24. Aufl., § 46 Rz 50 f.; [X.], Steuern und Bilanzen 2005, 157) entsprochen hat. Ein berechtigtes Vertrauen auf den Fortbestand der hiervon abweichenden Rechtslage und damit der Rechtsprechung des [X.] vom 21. September 2006 konnte in der [X.] bis zum Erlass der Neuregelungen nicht entstehen (vgl. [X.], Urteil vom 28. September 2010  12 K 478/08, 12 K 479/08, [X.], 533). Denn der Gesetzgeber hat bereits am 29. September 2006 angekündigt, dass er zur bisherigen Rechtslage zurückkehren werde, nach der eine Pflichtveranlagung zur Einkommensteuer bei Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG voraussetzt, dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum Einkünfte aus anderen Einkunftsarten bezieht, deren positive Summe 410 € bzw. 800 DM übersteigt ([X.] 622/1/06, S. 21 f.).

c) Ob und inwieweit anderes für die [X.] nach dem Ergehen der Urteile des [X.] in [X.], 149, [X.], 47 und in [X.], 144, [X.], 45 bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss am 13. Dezember 2006 bzw. der Verkündung des [X.] 2007 am 18. Dezember 2006 ([X.], 2878) oder jedenfalls bis zur entsprechenden Gesetzesinitiative ([X.]-Beschluss vom 10. Oktober 2012  1 BvL 6/07, [X.] --DStR-- 2012, 2322, m.w.N.) --hier der Veröffentlichung der [X.] 622/1/06-- gilt, kann vorliegend ebenfalls dahinstehen. Denn der Kläger hat seine Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre erst am 28. Dezember 2009 abgegeben; etwaige im Vertrauen auf die erfolgte Rechtsprechungsänderung getätigte Dispositionen in der [X.] bis zum Erlass der Neuregelung stehen damit nicht zur Entscheidung. Im Übrigen genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, wenn --wie hier-- keine besonderen Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (vgl. [X.]-Beschluss in DStR 2012, 2322, m.w.N.).

2. Damit kommt vorliegend allein eine Veranlagung des [X.] nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG i.d.F. des [X.] 2008 (EStG n.F.) vom 20. Dezember 2007 ([X.], 3150, [X.], 218) in Betracht. Danach wird eine Einkommensteuerveranlagung durchgeführt, wenn sie beantragt wird. Die --frühere zusätzliche-- Voraussetzung, dass der Antrag bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahres zu stellen war, ist entfallen.

a) § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F. ist gemäß § 52 Abs. 55j Satz 4 EStG i.d.F. des [X.] 2011 (früher § 52 Abs. 55j Satz 2 EStG n.F.) erstmals für den Veranlagungszeitraum 2005 anzuwenden und in Fällen, in denen am 28. Dezember 2007 über einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig entschieden ist. Letzteres trifft zu. Eine bestandskräftige Ablehnung des Antrags des [X.] auf Durchführung der Einkommensteuerveranlagungen für die Streitjahre liegt nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Senats ist es nicht erforderlich, dass der Antrag auf Veranlagung für Veranlagungszeiträume vor 2005 bereits vor dem 28. Dezember 2007 bei den Finanzbehörden eingegangen ist (Senatsentscheidung vom 12. November 2009 VI R 1/09, [X.]E 227, 97, [X.], 406).

b) Im Streitfall steht der Veranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.[X.]. § 52 Abs. 55j Satz 4 EStG i.d.F. des [X.] 2011 jedoch der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen.

Die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer beträgt nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 der Abgabenordnung ([X.]) vier Jahre. Sie beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 1 [X.]). Die Einkommensteuer für 2002, 2003 und 2004 verjährte demnach mit Ablauf der Jahre 2006, 2007 und 2008. Nach den Feststellungen des [X.] hat der Kläger den erforderlichen Antrag durch Abgabe der Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre (erst) im Jahre 2009 beim [X.] gestellt.

Der Ablauf der Festsetzungsfrist war nach der neuen Rechtsprechung des [X.] nicht nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.] gehemmt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zur Begründung auf die Senatsentscheidung vom 14. April 2011 VI R 53/10 ([X.]E 233, 311, [X.], 746) verwiesen.

Nach alldem war die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Meta

VI R 32/12

17.01.2013

Bundesfinanzhof 6. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 31. Januar 2012, Az: 8 K 196/10, Urteil

§ 46 Abs 2 Nr 1 EStG 2002 vom 13.12.2006, § 46 Abs 2 Nr 8 EStG 2002 vom 20.12.2007, § 52 Abs 55j EStG 2009 vom 01.11.2011, § 169 Abs 2 Nr 2 AO, § 170 Abs 2 S 1 Nr 1 AO, Art 20 Abs 3 GG, Art 2 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 17.01.2013, Az. VI R 32/12 (REWIS RS 2013, 8932)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 8932

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