Bundesfinanzhof, Beschluss vom 24.11.2010, Az. II B 9/10

2. Senat | REWIS RS 2010, 1094

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Gegenstand

Keine Überprüfung der vom BVerfG angeordneten Weitergeltungsregelung durch den BFH


Leitsatz

NV: Eine Weitergeltungsregelung, die das BVerfG für den Fall angeordnet hat, dass es Rechtsnormen als mit dem GG unvereinbar erklärt, ist für die Gerichte nach § 31 BVerfGG verbindlich. Für die Überprüfung einer solchen Entscheidung durch die Fachgerichte gibt es keine verfahrensrechtliche Handhabe.

Gründe

1

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

2

1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zuzulassen. Die von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) sinngemäß aufgeworfene Rechtsfrage, ob und unter welchen Voraussetzungen das [X.] ([X.]) befugt ist, an Stelle des Gesetzgebers die zeitliche Wirkung seines alle Staatsgewalten bindenden Urteils zu beschränken und die Weitergeltung verfassungswidriger Gesetze anzuordnen, ist nicht mehr klärungsbedürftig bzw. in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht klärungsfähig.

3

a) Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] ([X.]) ist eine Weitergeltungsregelung, die das [X.] für den Fall angeordnet hat, dass es Rechtsnormen als mit dem Grundgesetz ([X.]) unvereinbar erklärt, für die Gerichte nach § 31 des Gesetzes über das [X.] ([X.]G) verbindlich ([X.]-Urteile vom 30. Juli 1997 II R 9/95, [X.]E 183, 235, [X.] 1997, 635; vom 24. Juni 1998 II R 104/97, [X.]E 185, 510, [X.] 1998, 632, und vom 24. Mai 2000 II R 25/99, [X.]E 191, 240, [X.] 2000, 378; [X.]-Beschlüsse vom 18. Juni 1997 [X.]/97, [X.]E 182, 379, [X.] 1997, 515; vom 15. Oktober 1997 [X.]/97, [X.]/NV 1998, 502; vom 29. Oktober 1997 [X.]/97, [X.]/NV 1998, 361; vom 19. Mai 1998 [X.], [X.]/NV 1998, 1275; vom 8. Mai 2003 IV R 95/99, [X.]/NV 2003, 1054, und vom 23. Februar 2006 [X.], [X.]/NV 2006, 1297). Für die Überprüfung einer Entscheidung des [X.] betreffend die vorläufige Weitergeltung einer für verfassungswidrig erklärten gesetzlichen Vorschrift durch die Fachgerichte gibt es keine verfahrensrechtliche Handhabe. Vor allem ist es dem Fachgericht materiell-rechtlich nicht möglich, hinsichtlich einer vom [X.] als Verfassungsorgan getroffenen Abwägung --hier: Bestimmung eines das Gemeinwohl schonenden Übergangs von der verfassungswidrigen zu einer verfassungsgemäßen Rechtslage-- eine "übergeordnete Rechtsnorm" (§ 80 Abs. 2 Satz 1 [X.]G) als Prüfungsmaßstab zu finden. Das Dogma der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze gilt nicht uneingeschränkt und ausnahmslos. Das [X.] kann in seine die Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes bestimmende Ermessensentscheidung unter dem systematischen Gesichtspunkt der Einheit der Verfassung abwägungsfähige Rechtsgüter einbeziehen. Diese Ermessensentscheidung ist kompetenzrechtlich dem [X.] als Verfassungsorgan vorbehalten und einer justizförmigen Erörterung und Prüfung durch die Fachgerichte entzogen ([X.]-Urteil vom 21. Juli 2004 [X.], [X.]/NV 2005, 513).

4

b) Das [X.] hat mit Beschluss vom 7. November 2006  1 BvL 10/02 ([X.] 2007, 192) die durch § 19 Abs. 1 des [X.] ([X.]) i.d.F. des Jahressteuergesetzes 1997 ([X.] 1997) angeordnete Erhebung der Erbschaftsteuer mit einheitlichen Steuersätzen auf den Wert des Erwerbs für mit dem [X.] unvereinbar erklärt, weil diese an [X.] anknüpft, deren Ermittlung bei wesentlichen Gruppen von Vermögensgegenständen (Betriebsvermögen, Grundvermögen, Anteilen an Kapitalgesellschaften und land- und forstwirtschaftlichen Betrieben) den Anforderungen des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 [X.] nicht genügt. Diese Unvereinbarkeitserklärung hat grundsätzlich zur Folge, dass die betroffene Norm nicht mehr angewendet werden darf. Allerdings hielt es das [X.] für geboten, ausnahmsweise die weitere Anwendung des Erbschaftsteuerrechts bis zur gesetzlichen Neuregelung zuzulassen. Für die Vergangenheit leitete es diese Notwendigkeit aus den Erfordernissen einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs ab, während es für die [X.] bis zum 31. Dezember 2008 darauf abstellte, dass in dieser Übergangszeit ein Zustand der Rechtsunsicherheit vermieden werden sollte.

5

Die Kläger können deshalb die Zulassung der Revision nicht mit der Begründung erreichen, das [X.] verletze durch die genannte Weitergeltungsanordnung ihre Grundrechte sowie das Rechtsstaatsprinzip und überschreite zudem seine Kompetenzen. Dem steht der Beschluss des [X.] vom 8. Dezember 2009  2 [X.] ([X.], 68, Neue [X.]schrift für Verwaltungsrecht 2010, 634) nicht entgegen. Denn danach ist es nur unzulässig, wenn ein Gericht in einem Rechtsstreit, in dem die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes maßgeblich ist, Erwägungen von grundsätzlicher Bedeutung bereits im Zulassungsverfahren anstellt und gerade dadurch den Rechtsweg versperrt.

6

c) Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergibt sich auch nicht aus der klägerischen Einlassung, der Gesetzgeber sei schon seit dem 22. Mai 2002 zur Herstellung eines grundgesetzkonformen [X.] verpflichtet gewesen. Es ist zwar richtig, dass der erkennende Senat dem [X.] an diesem Tage die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 19 Abs. 1 [X.] i.d.F. des [X.] 1997 vorgelegt und in dem entsprechenden Beschluss seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der genannten Norm geäußert hat (vgl. [X.]-Beschluss vom 22. Mai 2002 II R 61/99, [X.]E 198, 342, [X.] 2002, 598). Ein Handlungsbedarf des Gesetzgebers bzw. eine Bindung an die Rechtsauffassung des [X.] konnte daraus schon deshalb nicht entstehen, weil der [X.] das Verfahren nach Maßgabe des Art. 100 Abs. 1 [X.] nur ausgesetzt hat und es allein in die Kompetenz des [X.] fällt, die Unvereinbarkeit einer Norm mit dem [X.] zu erklären.

7

2. Einen Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 [X.]O haben die Kläger nicht hinreichend dargelegt. Hierfür muss der Beschwerdeführer tragende und abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des Finanzgerichts ([X.]) einerseits und aus der behaupteten [X.] andererseits herausarbeiten und einander gegenüberstellen, um so eine Abweichung zu verdeutlichen ([X.]-Beschlüsse vom 22. Juli 2008 [X.]/07, [X.]/NV 2008, 1846, und vom 24. August 2006 [X.], [X.]/NV 2007, 69).

8

a) Soweit die Kläger ausführen, das [X.]-Urteil weiche deshalb von der Rechtsprechung des [X.] im Beschluss vom 6. Dezember 2005  1 BvR 1905/02 ([X.]E 115, 51) ab, weil es verkannt habe, dass die ausgesprochene Unvereinbarkeitserklärung einer Norm deren weitere Anwendung ausschließe, ist schon deshalb keine Divergenz dargelegt, weil das [X.] in seinem Beschluss in [X.] 2007, 192 gerade die übergangsweise Fortgeltung der streitentscheidenden Normen angeordnet hat.

9

b) Eine mögliche Divergenz zur Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) zur beschränkenden Urteilswirkung bei gemeinschaftsrechtswidrigen Normen haben die Kläger ebenfalls nicht schlüssig dargelegt. Es fehlen Ausführungen dazu, warum die genannte [X.]-Rechtsprechung im Streitfall, der die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften betrifft, überhaupt maßgeblich sein soll. Entsprechendes gilt für die von den Klägern angeführte Rechtsprechung des [X.] zum Verbot der Gleichbehandlung im Unrecht und --insbesondere angesichts der Ausführungen zu 1.-- derjenigen des [X.] bzw. [X.], wonach die rückwirkende Anordnung einer Steuer die Rechtsstaatsgarantie und den Vertrauensschutz des Steuerbürgers verletze.

3. Die Kläger haben schließlich auch keinen Verfahrensfehler nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O gebotenen Weise dargelegt.

a) Soweit sie vortragen, das [X.] habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil es sie über entscheidungserhebliche Punkte nicht aufgeklärt, ihnen hierzu keine ausreichende Äußerungsfrist gesetzt und sich außerdem zum Antrag auf Zulassung der Revision ausgeschwiegen habe, haben sie keine gewichtigen Tatsachen dargelegt, die einen [X.] ergeben könnten (vgl. zum entsprechenden [X.] Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 116 Rz 48). Es fehlen auch Angaben dazu, dass das Urteil auf den fehlenden Hinweisen des [X.] beruht. Darüber hinaus haben die Kläger nicht dargelegt, weshalb sie von einer fehlenden Entscheidung über den Zulassungsantrag ausgehen. Ausweislich der dem Urteil beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung hat das [X.] über den Zulassungsantrag erkennbar negativ beschieden.

b) Soweit die Kläger ausführen, gegen Entscheidungen des [X.] stehe ihnen kein wirksames Beschwerderecht zu und es werde ihnen insoweit [X.] (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 [X.]) entzogen, fehlt es schon an der erforderlichen Darlegung, dass das Urteil des [X.] darauf beruhen könnte (vgl. Gräber/Ruban, a.a.[X.], § 116 Rz 49).

Meta

II B 9/10

24.11.2010

Bundesfinanzhof 2. Senat

Beschluss

vorgehend FG Köln, 16. Dezember 2009, Az: 9 K 1261/09, Urteil

§ 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 2 S 3 FGO, Art 3 Abs 1 GG, Art 100 Abs 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 31 BVerfGG, § 80 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 19 Abs 1 ErbStG 1991 vom 20.12.1996

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 24.11.2010, Az. II B 9/10 (REWIS RS 2010, 1094)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 1094

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 BvL 10/02

2 BvR 758/07

1 BvR 1905/02

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