Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 20.03.2023, Az. 1 BvR 909/22

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2023, 2248

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Parallelentscheidung


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Entscheidungsgründe

1

1. Die Beschwerdeführerin machte im sozialgerichtlichen Verfahren gegenüber ihrer Krankenkasse einen Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit einer beidseitigen Mammareduktionsplastik geltend, wobei sie sich unter anderem darauf stützte, dass die Leistung gemäß § 13 Abs. 3a Satz 6 [X.] wegen nicht fristgerechter Entscheidung über ihren Antrag als genehmigt gelte. Das Sozialgericht wies die Klage ab und das [X.] die Berufung zurück, da die Genehmigungsfiktion keinen eigenständigen Naturalleistungsanspruch begründe und auch aus materiellem Recht kein Anspruch auf Versorgung mit der begehrten Mammareduktionsplastik bestehe. Die Nichtzulassungsbeschwerde zum [X.] blieb erfolglos. Die aufgeworfenen Rechtsfragen hätten keine grundsätzliche Bedeutung, da über sie höchstrichterlich bereits entschieden sei. Auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG habe sich das [X.] bereits umfassend auseinandergesetzt. § 13 Abs. 3a [X.] diene allein dazu, zugunsten aller [X.] Versicherten die Krankenkassen zu veranlassen, schnell rechtmäßige Entscheidungen über die [X.] zu treffen. Soweit aufgrund der gesetzlichen Konstruktion Krankenkassen ausnahmsweise dennoch Kosten für von Versicherten nach Fristablauf selbst beschaffte Leistungen zu tragen hätten, die die Krankenkassen innerhalb der Frist hätten rechtmäßig ablehnen können, könne sich aus Art. 3 Abs. 1 GG kein Anspruch auf rechtswidrige Sachleistung nach Fristablauf ergeben.

2

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG. Innerhalb der Gruppe der gesetzlich Versicherten bestehe eine Ungleichbehandlung abhängig davon, ob man über ausreichende Mittel zur Selbstbeschaffung einer Leistung verfüge. Diese Differenzierung sei nicht gerechtfertigt, da kein Grund dafür ersichtlich sei, das Instrument der Genehmigungsfiktion so zu beschneiden, dass die beschleunigende Begünstigung nur denen zugänglich sei, die wohlhabend genug seien. Die Fachgerichte seien daher gehalten, § 13 Abs. 3a [X.] verfassungskonform so auszulegen, dass diese Ungleichbehandlung vermieden werde.

3

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil keine Annahmegründe gemäß § 93a Abs. 2 [X.] vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde ist bereits unzulässig und hat damit keine Aussicht auf Erfolg (vgl. [X.] 90, 22 <25 f.>). Sie wird den Begründungsanforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] nicht gerecht.

4

1. Bei der Begründung der Verfassungsbeschwerde muss deutlich werden, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (vgl. [X.] 78, 320 <329>; 99, 84 <87>; 115, 166 <179 f.>). Werden gerichtliche Entscheidungen angegriffen, muss sich der Beschwerdeführer auch mit deren Gründen auseinandersetzen (vgl. [X.] 101, 331 <345>; 105, 252 <264>). Soweit das [X.] für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe aufgezeigt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffene Maßnahme verletzt werden (vgl. [X.] 99, 84 <87>; 101, 331 <346>; 102, 147 <164>; 140, 232 <232 Rn. 9>). Der behauptete [X.] ist in Auseinandersetzung mit den vom [X.] entwickelten Maßstäben zu begründen (vgl. [X.] 101, 331 <345 f.>; 123, 186 <234>; 130, 1 <21>; 142, 234 <251 Rn. 28>; 149, 86 <108 f. Rn. 61>).

5

Wird das allgemeine Gleichheitsgebot gerügt, so muss der Beschwerdeführer darlegen, zwischen welchen konkreten Vergleichsgruppen eine Ungleichbehandlung bestehen soll, inwieweit es sich bei diesen um im Wesentlichen gleiche Sachverhalte handelt und sich mit den naheliegenden Gründen für die Differenzierungen auseinandersetzen (vgl. [X.] 130, 151 <174 f.>; 131, 66 <82>).

6

2. Diesen Anforderungen wird die Verfassungsbeschwerde nicht gerecht. Zwar zeigt sie noch hinreichend substantiiert eine grundsätzlich mögliche tatsächliche Ungleichheit in der Sache durch eine zumindest tendenzielle Abhängigkeit der Möglichkeit zur Selbstbeschaffung von den finanziellen Mitteln eines Betroffenen auf. Die Beschwerdeführerin legt sodann aber nicht ausreichend dar, dass sie selbst mangels finanzieller Mittel an der Selbstbeschaffung der konkreten Leistung gehindert ist und nicht lediglich das - dem Verfahren der Selbstbeschaffung und nachträglichen Kostenerstattung für alle Versicherten immanente - Kostenrisiko scheut. Allein die Nennung des monatlichen Einkommens genügt insoweit nicht, da jedenfalls auch die Vermögenssituation sowie die monatlichen Ausgaben darzustellen und zu belegen gewesen wären.

7

3. Unabhängig davon hat sich die Beschwerdeführerin nicht ausreichend mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass die mögliche Ungleichheit im Bereich [X.] Staatstätigkeit auftritt. Bei der gewährenden Staatstätigkeit entscheidet der Gesetzgeber, welche Personen Zuwendungen erhalten sollen. Der Gleichheitssatz verbietet nur die Verteilung von Leistungen nach unsachlichen Gesichtspunkten (vgl. [X.] 17, 210 <216>; 78, 104 <121>; 99, 165 <177 f.>; 110, 274 <293>; 122, 1 <23>). Zu einer Einschränkung der Kontrolldichte führt hierbei auch, dass es sich bei der Einführung der Genehmigungsfiktion um eine sozialpolitische Entscheidung handelt. Auf dem Gebiet des [X.] ist wegen der fortwährenden schnellen Veränderungen des Arbeits-, Wirtschafts- und [X.] dem Gesetzgeber eine besonders weite Gestaltungsfreiheit zuzugestehen. Diese unterliegt nur einer eingeschränkten verfassungsrechtlichen Kontrolle (vgl. [X.] 77, 84 <106>; 81, 156 <205 f.>). Das [X.] hat die sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers hinzunehmen, solange seine Erwägungen weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind (vgl. [X.] 13, 97 <107, 110>; 14, 288 <301>; 89, 365 <376>). Es hat deshalb nicht zu untersuchen, ob der Normgeber die zweckmäßigste oder gerechteste Lösung gefunden hat, sondern nur, ob er die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit eingehalten hat (vgl. [X.] 112, 164 <175> m.w.N.). Dem [X.] obliegt größte Zurückhaltung, dem Gesetzgeber im Bereich darreichender Verwaltung über den Gleichheitssatz zusätzliche Leistungsverpflichtungen aufzuerlegen (vgl. [X.] 60, 16 <42>; 78, 104 <121>), vor allem wenn sie aus den Beiträgen der [X.] finanziert werden (vgl. [X.], 152 <154 f.>).

8

4. Nicht tragfähig ist die Annahme erhöhter Anforderungen an eine Rechtfertigung, weil sich die Ungleichbehandlung im Schutzbereich gewichtiger Freiheitsrechte abspiele, indem sie durch Beitragsleistungen erworbene Leistungsansprüche sowie den Zugang zu Gesundheitsleistungen als Voraussetzung für den Erhalt der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten körperlichen Unversehrtheit betreffe. Die Beschwerdeführerin lässt hierbei unberücksichtigt, dass die Fachgerichte ihren Leistungsanspruch auch nach materiellem Leistungsrecht als eigenständige Anspruchsgrundlage geprüft, einen solchen Anspruch aber abgelehnt haben. Der geltend gemachte Anspruch aus der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 [X.] betrifft also Leistungen, auf die gerade kein materiell-rechtlicher Anspruch bestand. Damit ist weder eine Äquivalenz von Beitrag und Leistung noch das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG betroffen. Insoweit setzt sich die Beschwerdeführerin unzureichend mit den Gründen der angefochtenen Entscheidungen auseinander. Das [X.] stellt in seinem Beschluss ausdrücklich darauf ab, der allgemeine Gleichheitssatz verlange nicht die Gewährung von Sachleistungen, auf die materiell-rechtlich kein Anspruch besteht, um zu vermeiden, dass auch mittellose Versicherte auf eine Selbstbeschaffung der gewünschten Leistungen mit anschließender Kostenerstattung verwiesen sind.

9

5. Schließlich erfüllt auch die Auseinandersetzung mit naheliegenden Gründen für eine Differenzierung nicht die Begründungsanforderungen. Die Beschwerdeführerin bezieht in ihre Überlegungen nicht ausreichend ein, dass die Differenzierung nicht an die finanzielle Leistungsfähigkeit als solche anknüpft, sondern eine formale Gleichbehandlung allenfalls tatsächlich eine Ungleichheit in der Sache bewirkt. Die formal alle Versicherten gleich behandelnde Beschränkung auf [X.] muss sich in erster Linie an dem Zweck dieser Beschränkung der Rechtsfolge messen lassen, auch wenn hierbei eine Ungleichheit der Auswirkung auf Lebenssachverhalte nicht unberücksichtigt bleiben kann. Maßgeblich ist daher, ob der Sachgrund für die Differenzierung zwischen Kostenerstattungsanspruch und Sachleistungsanspruch auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen tatsächlichen Wirkung auf verschiedene Personengruppen ausreichend trägt. Eine Auseinandersetzung mit Gründen für die Beschränkung des Anspruchs aus der Genehmigungsfiktion auf Erstattungsansprüche - wie etwa das [X.] (§ 2 Abs. 1 Satz 3 [X.]), das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 [X.]) und das Prinzip der solidarischen Finanzierung der Leistungen und sonstigen Ausgaben der Krankenkasse durch Beiträge (§ 3 [X.]) - fehlt indes gänzlich.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 909/22

20.03.2023

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BSG, 10. März 2022, Az: B 1 KR 83/21 B, Beschluss

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 20.03.2023, Az. 1 BvR 909/22 (REWIS RS 2023, 2248)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 2248

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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