Bundessozialgericht, Beschluss vom 02.07.2019, Az. B 2 U 156/18 B

2. Senat | REWIS RS 2019, 5881

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Gegenstand

(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör - Einverständniserklärung gem § 124 Abs 2 SGG - Wirksamkeitsverlust bei wesentlicher Änderung der Prozesslage)


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 14. Juni 2018 aufgehoben und die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Klägerin begehrt höhere Verletztenrente.

2

Die Klägerin bezog aufgrund eines als Arbeitsunfall anerkannten Unfalles vom [X.] eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 30 vH. Die Beklagte lehnte die Gewährung einer höheren Verletztenrente ab, weil keine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen eingetreten sei (Bescheid vom 14.6.2011 und Widerspruchsbescheid vom [X.]). Auf die Klage hat das [X.] unter Änderung der Bescheide der Beklagten festgestellt, dass die Arthrose des linken oberen Sprunggelenkes eine weitere Unfallfolge sei. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und insbesondere das Vorliegen eines höheren Grades der MdE abgelehnt (Gerichtsbescheid vom 16.9.2014).

3

Die Klägerin hat mit ihrer Berufung neben der Verschlimmerung der anerkannten Unfallfolgen auch die Anerkennung einer Plantarfasziitis und einer Metatarsalgie im linken Fuß als weitere Unfallfolgen sowie eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von [X.] begehrt. Das L[X.] hat ein Sachverständigengutachten eines Orthopäden eingeholt. Nachdem der Senat des L[X.] den Rechtsstreit mit Beschluss vom 6.10.2015 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen hatte, hat der Berichterstatter ergänzende Stellungnahmen des Sachverständigen und auf Antrag der Klägerin ein weiteres Sachverständigengutachten eines Orthopäden mit dessen ergänzender Stellungnahme eingeholt. Die damaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin haben es abgelehnt, zu einer mündlichen Verhandlung vor dem L[X.] am 31.5.2018 in [X.] zu kommen, weil dieser Tag am Sitz ihrer Kanzlei in [X.] gesetzlicher Feiertag sei. Sie und die Beklagte haben daraufhin jeweils mit Schreiben vom [X.] ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

4

Nach dieser Einverständniserklärung hat der Berichterstatter am [X.] von der Beklagten weitere medizinische Unterlagen, ua die Nachschauberichte vom [X.] und 15.3.2018 sowie Berichte der [X.] vom 4.10.2017 und 1.12.2017, eingeholt. Sodann hat er ein umfangreiches Schreiben vom [X.] an die Beteiligten gerichtet. Hierin hat er auf "verfahrensrechtliche Bedenken" und "Bedenken" in "der Sache selbst" hingewiesen. Weiterhin hat er den Beteiligten ua mitgeteilt, dass "eine alsbaldige instanzbeendende Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern … im schriftlichen Verfahren angestrebt" werde, "nachdem die Beteiligten nunmehr beiderseits auf eine mündliche Verhandlung verzichtet" hätten, und dass hierfür "seitens des Senats nunmehr der 14. Juni 2018 vorgemerkt worden" sei. Es werde kurzfristig um Stellungnahme gebeten, ob die Klägerin auch die gerichtliche Feststellung einer Plantarfasziitis und einer Metatarsalgie des linken Fußes begehre. Ferner erhalte die Klägerin Gelegenheit, ggf weitere die genannten Diagnosen und einen Unfallzusammenhang stützenden Unterlagen vorzulegen. Daraufhin haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mitgeteilt, die genannten Gesundheitsstörungen würden als Unfallfolgen geltend gemacht und sie hätten die Klägerin gebeten, weitere Unterlagen bis zum [X.] vorzulegen. Die Klägerin hat am 13.6.2018 persönlich in der Geschäftsstelle des L[X.] angerufen und hat telefonisch beantragt, die Frist für die Einreichung weiterer Unterlagen zu verlängern. Der Berichterstatter hat daraufhin am selben Tag einen Beschluss gefasst, mit dem er den Antrag ablehnte. Es handele sich um einen formlosen Fristverlängerungsantrag. Aus der vagen Begründung ließen sich keine Anhaltspunkte dafür gewinnen, dass mit der Ablehnung der Fristverlängerung eine Verletzung des rechtlichen Gehörs eintrete. Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin selbst haben mit am [X.] eingegangenem Fax vom [X.] nochmals um Fristverlängerung gebeten. Die Klägerin persönlich hat mit ebenfalls am [X.] eingegangenem Fax ärztliche Unterlagen eingereicht. Mit Urteil vom [X.] ohne mündliche Verhandlung hat der Berichterstatter als Vorsitzender mit zwei ehrenamtlichen Richtern die Berufung zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, die Beteiligten hätten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Mit der Entscheidung im vorliegenden Berufungsverfahren habe auch aufgrund des Fristverlängerungsantrags der Klägerin nicht weiter zugewartet werden müssen, nachdem der Berichterstatter dieses mit Beschluss vom 13.6.2018 abgelehnt habe.

5

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil des L[X.] rügt die Klägerin als Verfahrensmangel die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör.

6

II. Die frist- und formgerecht eingereichte und begründete Beschwerde ist zulässig. Insbesondere genügt die Beschwerdebegründung den Anforderungen des § 160a Abs 2 [X.] [X.]G. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen kann.

7

Die Beschwerde ist auch begründet. Es liegt ein Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruht. Das angegriffene Urteil des [X.] ist verfahrensfehlerhaft ergangen, weil das L[X.] am [X.] nicht ohne mündliche Verhandlung hätte entscheiden dürfen und damit das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt hat.

8

Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 [X.]G, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 [X.]G. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Eine Einverständniserklärung, deren Vorliegen das Gericht im Zeitpunkt seiner Entscheidungsfindung von Amts wegen zu prüfen hat, verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die [X.] wesentlich geändert hat (vgl B[X.] vom 17.12.2015 - [X.] U 132/15 B - [X.] Aktuell 2016, 269, und vom 11.4.2013 - [X.] U 359/12 B - [X.] Aktuell 2013, 683 mwN). Das war hier im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am [X.] der Fall.

9

Das jeweils mit Schreiben vom [X.] erklärte Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung hatte zum Zeitpunkt der Entscheidung des L[X.] am [X.] seine Wirksamkeit verloren, weil sich die [X.] geändert hatte. Die bisherige Tatsachengrundlage hatte sich nach dem Eingang der Erklärungen der Beteiligten vom [X.] verändert, weil der Berichterstatter von der Beklagten weitere ärztliche Unterlagen beigezogen hat. Eine veränderte [X.] lag aber insbesondere deshalb vor, weil der Berichterstatter am [X.] ein umfangreiches Schreiben zum Sach- und Streitstand an die Beteiligten übersandt und die Bevollmächtigten der Klägerin aufgefordert hatte, zum Streitgegenstand Stellung zu nehmen und ggf weitere Unterlagen einzureichen. Mit dieser Verfahrensweise hat das Gericht aus der Sicht eines objektiven [X.] deutlich gemacht, dass es den Rechtsstreit gerade noch nicht für entscheidungsreif hält, sondern weitere Sachverhaltsaufklärung und prozessuale Erklärungen erforderlich sind. Die Klägerin persönlich und auch ihre Prozessbevollmächtigten haben auf dieses gerichtliche Hinweisschreiben deutlich gemacht, dass sie weitere Unterlagen beibringen möchten und um Fristverlängerung gebeten. Das L[X.] hat insofern verkannt, dass aufgrund der von ihm selbst geschaffenen neuen Sach- und Prozesslage die erteilten [X.] mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht mehr wirksam waren und ggf neu einzuholen gewesen wären. Das nicht mehr bestehende Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung konnte auch nicht durch den Beschluss vom 13.6.2018 wiederhergestellt werden, mit dem der Berichterstatter lediglich eine Fristverlängerung abgelehnt hatte, ohne die Problematik zu erkennen, dass eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 [X.]G ein wirksames Einverständnis der Beteiligten voraussetzt.

Eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 [X.]G vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör gemäß § 62 [X.]G. Gerade die in Art 6 Abs 1 der [X.] grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs (vgl B[X.] vom 17.12.2015 - [X.] U 132/15 B - [X.] Aktuell 2016, 269, vom 11.4.2013 - [X.] U 359/12 B - [X.] Aktuell 2013, 683, und vom 12.4.2005 - [X.] U 135/04 B - [X.] 4-1500 § 124 [X.] Rd[X.]0).

Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es im Falle der Durchführung der gebotenen mündlichen Verhandlung zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre, wenn sie sich ergänzend in der mündlichen Verhandlung zu den rechtlichen und tatsächlichen Aspekten des Rechtsstreits hätte äußern und - wie von dem Berichterstatter angeregt - weitere ärztlichen Unterlagen hätte vorlegen können.

Nach § 160a Abs 5 [X.]G kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen. Der Senat hat von dem ihm gemäß § 160a Abs 5 [X.]G eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht und das Urteil des L[X.] wegen des festgestellten Verfahrensfehlers durch Beschluss aufgehoben sowie die Sache an das L[X.] zur Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Das L[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 2 U 156/18 B

02.07.2019

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Berlin, 16. September 2014, Az: S 68 U 537/12, Gerichtsbescheid

§ 62 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 2 SGG, § 160a Abs 5 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 02.07.2019, Az. B 2 U 156/18 B (REWIS RS 2019, 5881)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 5881

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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