Bundessozialgericht, Beschluss vom 07.04.2011, Az. B 9 SB 45/10 B

9. Senat | REWIS RS 2011, 7827

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - wesentliche Änderung der Prozesslage - Verlust der Wirksamkeit der Einverständniserklärung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 7. Juli 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "a[X.]".

2

Mit Bescheid vom [X.] stellte das [X.] fest, dass bei der 1955 geborenen Klägerin ein [X.]rad der Behinderung ([X.]dB) von 80 besteht und die Voraussetzungen des Merkzeichens "[X.]" vorliegen. Einen Antrag der Klägerin auf Feststellung eines [X.]dB von 100 und der Voraussetzungen der Merkzeichen "[X.]" und "[X.]" lehnte das Amt durch Bescheid vom 6.5.1998 ab. Die dagegen gerichtete Klage und die Berufung der Klägerin waren ohne Erfolg (abschließendes Urteil des [X.] vom [X.] - L 1 SB 67/00 -).

3

Im August 2004 beantragte die Klägerin die Erhöhung des [X.]dB auf 100 sowie die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "a[X.]". Diesen Antrag lehnte das [X.] mit Bescheid vom 31.5.2005 in der [X.]estalt des Widerspruchsbescheides des [X.] vom 15.11.2005 ab, weil eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gegenüber 1994 nicht vorliege.

4

Nach Beiziehung verschiedener ärztlicher Unterlagen und Anhörung der Beteiligten hat das von der Klägerin angerufene [X.] (S[X.]) die Klage durch [X.]erichtsbescheid vom 13.11.2007 abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das LS[X.] weitere ärztliche Befundberichte sowie von Amts wegen ein orthopädisches [X.]utachten des Sachverständigen Dr. E. vom 19.11.2008 und auf Antrag der Klägerin nach § 109 S[X.][X.] ein orthopädisches [X.]utachten der Sachverständigen [X.] vom [X.] - jeweils mit einer ergänzenden Stellungnahme - eingeholt.

5

           

In der mündlichen Verhandlung am 17.2.2010 hat die Klägerin neben ihrem Sachantrag "vorsorglich" beantragt, ihre Tochter, Frau C., zu hören zu ihrer Benutzung von zwei Unterarmgehstützen außerhalb des [X.]auses und auch zu ihrem Laufverhalten innerhalb der Wohnung. Das LS[X.] hat nach Beratung über die Berufung folgende Erklärung zu Protokoll gegeben:

"Das [X.]ericht weist nach Wiedereintritt in die Verhandlung um 11:05 Uhr die Beteiligten darauf hin, dass sämtliche [X.]utachter bestätigt haben, dass die Klägerin sich nur unter Schmerzen erheblicher Art vom ersten Schritt außerhalb Kraftfahrzeuges fortbewegen kann. Sie nimmt seit Jahren Schmerzmedikamente ein, auch Opium. Die Chronifizierung des Schmerzes hat sich auch im Laufe der Jahre verschlechtert und es sind neue Schmerzen hinzugekommen durch das [X.]ehverhalten der Klägerin bedingt, so im [X.], im [X.]andgelenkbereich und im Schultergelenkbereich, so dass nach der Begutachtung von Frau [X.] und des beschriebenen [X.]ehverhaltens der Klägerin wohl davon auszugehen ist, dass spätestens ab Begutachtung von Frau [X.] von einer Fortbewegung der Klägerin unter ständigen Schmerzen außerhalb des Kraftfahrzeuges mit zwei [X.]ehhilfen auszugehen ist."

6

           

Sodann haben sich die Beteiligten dazu bereit erklärt, nachfolgenden Vergleich zu Beendigung des Rechtsstreites zu schließen:

        

1.    

Der Beklagte erkennt an, dass bei der Klägerin ab 17.02.2010 die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "a[X.]" vorliegen.

        
        

2.    

Die Beteiligten erklären im Übrigen übereinstimmend das Berufungsverfahren für erledigt.

        
        

3.    

Der Beklagte übernimmt die [X.]älfte der außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.

        
        

4.    

Der Beklagte behält sich den Widerruf des Vergleiches bis zum [X.] vor.

        
7

Ferner haben die Beteiligten für den Fall, dass der Vergleich widerrufen wird, einen Verzicht auf weitere mündliche Verhandlung erklärt.

8

Nach fristgerechtem Widerruf des Vergleichs durch den beklagten [X.] hat das LS[X.] die Sachverständige [X.] als behandelnde Ärztin der Klägerin ergänzend befragt. Diese hat sich unter dem [X.] dahin geäußert, dass die [X.] seit dem [X.] nicht geändert worden sei, die Klägerin beim [X.]ehen Schmerzen im Bereich der Extremitäten verspüre ([X.]inweis auf das [X.]utachten zu Punkt 5) und dieser Zustand seit mindestens eineinhalb Jahren bestehe.

9

Durch Urteil vom [X.] hat das LS[X.] ohne mündliche Verhandlung die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Nach Darstellung der rechtlichen [X.]rundlagen sowie der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BS[X.]) zum Merkzeichen "a[X.]" hat das LS[X.] unter Zugrundelegung der Beurteilung des Sachverständigen Dr. E. die Auffassung vertreten, dass eine [X.]leichstellung der Klägerin mit den in der einschlägigen Verwaltungsvorschrift aufgelisteten Personengruppen ([X.], [X.], [X.], [X.]üftexartrikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind) nicht vorgenommen werden könne. Zwar habe die Sachverständige [X.] ähnliche Befunde wie Dr. E. erhoben. Ihrer Einschätzung der [X.]ehfähigkeit der Klägerin sei indes nicht zu folgen.

Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin die Verletzung ihres Anspruchs auf [X.]ewährung rechtlichen [X.]ehörs. Ihr Beweisantrag auf Vernehmung der Tochter sei nicht berücksichtigt worden. Darin liege auch eine Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht nach § 103 S[X.][X.]. Nach den in der mündlichen Verhandlung am 17.2.2010 gegebenen [X.]inweisen habe das LS[X.] mit seinem Urteil ebenfalls das aus dem [X.] folgende Verbot widersprüchlichen Verhaltens verletzt. Zudem stelle die Entscheidung des LS[X.] eine unzulässige Überraschungsentscheidung dar. Für den Verzicht der Klägerseite auf eine mündliche Verhandlung sei damit zugleich die [X.]eschäftsgrundlage weggefallen. Eine weitere mündliche Verhandlung sei zwingend erforderlich gewesen.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet.

Der von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des § 124 Abs 2 S[X.][X.] (Urteil ohne mündliche Verhandlung) liegt vor. Er führt gemäß § 160a Abs 5 S[X.][X.] zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LS[X.].

Ob die behauptete Verletzung des § 62 S[X.][X.] (rechtliches [X.]ehör) vorliegt, kann offenbleiben. Zudem muss nicht entschieden werden, ob das LS[X.] in gemäß § 160 Abs 2 [X.] [X.]albs 2 S[X.][X.] relevanter Weise gegen § 103 S[X.][X.] (Sachaufklärungspflicht) verstoßen hat. Denn die Klägerin macht jedenfalls mit Recht geltend, dass angesichts des [X.] eine "weitere mündliche Verhandlung" erforderlich gewesen sei und dass für ihre "Verzichtserklärung" betreffend eine weitere mündliche Verhandlung die [X.]eschäftsgrundlage weggefallen sei. Sie hat damit sinngemäß eine Verletzung des § 124 Abs 2 S[X.][X.] gerügt, die auch vorliegt. Das LS[X.] hätte nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, weil der von den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 17.2.2010 erklärte "Verzicht auf weitere mündliche Verhandlung" im [X.]inblick auf den weiteren [X.]ang des Verfahrens nicht mehr tragfähige [X.]rundlage für eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gewesen ist.

Nach allgemeiner Auffassung verliert die Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 S[X.][X.] ihre Wirksamkeit, wenn sich die Prozesslage wesentlich ändert (s nur [X.] in [X.]/[X.]/[X.], S[X.][X.], 9. Aufl 2008, § 124 Rd[X.]d mwN). Das ist der Fall, wenn die Tatsachen- oder die Rechtsgrundlage eine andere wird, zB wenn Zeugen vernommen oder Auskünfte eingeholt werden ([X.], aaO, [X.]). Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 S[X.][X.] der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, muss das [X.]ericht im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 S[X.][X.] prüfen. Die Beteiligten sind daher bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das [X.]ericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem [X.]ericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen (vgl § 128 Abs 2 Satz 1 ZPO, der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren trotz der dort in § 101 Vw[X.]O mit § 124 S[X.][X.] wortlautgleichen Vorschrift für anwendbar gehalten wird; [X.]/[X.], Vw[X.]O, 16. Aufl 2009, § 101 RdNr 8).

Das am 17.2.2010 sinngemäß erklärte Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 S[X.][X.]) ist hier im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am [X.] nicht mehr wirksam gewesen, weil sich die Prozesslage jedenfalls dadurch wesentlich geändert hatte, dass das LS[X.] nach dem Widerruf des Vergleichs durch den Beklagten eine weitere Beweiserhebung durchgeführt hat. Es hat nämlich eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen [X.] vom [X.] eingeholt und bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigt.

Auf dieser Verletzung des § 124 Abs 2 S[X.][X.] kann das angefochtene Urteil beruhen (§ 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.]), denn es ist nicht auszuschließen, dass das LS[X.] bei prozessordnungsgerechter Sachbehandlung zu einer anderen, der Klägerin günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Insbesondere hätte die Klägerin in einer weiteren mündlichen Verhandlung ua auch die Möglichkeit gehabt, ihren Beweisantrag zu wiederholen.

Das LS[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 9 SB 45/10 B

07.04.2011

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Leipzig, 13. November 2007, Az: S 2 SB 355/05, Gerichtsbescheid

§ 124 Abs 2 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 07.04.2011, Az. B 9 SB 45/10 B (REWIS RS 2011, 7827)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7827

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