Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20.10.2016, Az. 2 BvR 517/16

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2016, 3658

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 2 Abs 2 S 2 GG iVm Art 20 Abs 3 GG durch Fortdauer langdauernder Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - Unzureichende Begründung der fachgerichtlichen Fortdauerentscheidungen - mangelnde Konkretisierung der Kriminalprognose - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 11. Februar 2016 - [X.] Ws 449/15 - sowie der Beschluss des [X.] vom 13. November 2015 - 12 [X.] - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des [X.] vom 11. Februar 2016 - [X.] Ws 449/15 - wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus.

2

1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des [X.] vom 13. Juli 1995 wegen versuchter Vergewaltigung zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Darüber hinaus wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 [X.] angeordnet.

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a) Dem lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer, der bereits durch Urteil des [X.] vom 20. April 1989 wegen Vergewaltigung, versuchter Vergewaltigung in vier Fällen, versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchter sexueller Nötigung zu vier Jahren und sechs Monaten Jugendstrafe verurteilt worden war, im Oktober 1993 alkoholisiert nach einem Diskobesuch eine Frau angesprochen, mit sexueller Absicht in ein Gebüsch gezerrt und erst von ihr abgelassen hatte, als Fahrzeuge sich dem [X.] näherten. Das [X.] stellte eine verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 [X.] fest, da dem Beschwerdeführer eine schwere Persönlichkeitsstörung mit vermeidenden, unsicheren, dependenten und dissozialen Zügen, differentialdiagnostisch auch eine schizotype Persönlichkeitsstörung und eine Alkoholabhängigkeit attestiert worden war.

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b) Die angeordnete Maßregel wird - gestützt auf § 63 [X.] - seit dem 28. Februar 1996 vollzogen. Im November 2000 veranlasste der Beschwerdeführer telefonisch ein acht Jahre altes Mädchen, sich Hose und Schlüpfer auszuziehen, während er sich selbst befriedigte. In dieser Absicht hatte der Beschwerdeführer eine Vielzahl von Anrufen über einen längeren Zeitraum getätigt. Wegen dieser Tat wurde er durch Strafbefehl des [X.] vom 11. Mai 2004 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt. Im April 2010 räumte der Beschwerdeführer ein, seit circa einem Jahr erneut zunächst Frauen und später Kinder angerufen zu haben, um sich sexuell zu stimulieren, indem er versucht habe, sie zu sexuellen Handlungen zu bewegen. Das Verfahren wurde nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

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2. Mit Beschluss vom 13. November 2015 ordnete das [X.] die Fortdauer der Unterbringung an. Das [X.] führte aus, unter Berücksichtigung des [X.] des Beschwerdeführers sei die weitere Fortdauer der Unterbringung anzuordnen gewesen. Aus der Stellungnahme der Klinik und dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. T. ergebe sich übereinstimmend, dass die zur [X.] führende Störung des Beschwerdeführers noch nicht im erforderlichen Ausmaß behandelt sei. Vielmehr scheine es einen Therapiestillstand beziehungsweise eine Therapieverweigerung zu geben. Unter diesen Umständen sei aber nicht davon auszugehen, dass die Grundlage für die Unterbringung im Maßregelvollzug nach § 63 [X.] nachträglich weggefallen sei. Desgleichen könne dem Beschwerdeführer auch keine positive Kriminalprognose gestellt werden, die es erlaube, die Maßregel zur Bewährung auszusetzen. Vielmehr müsse weiterhin mit Sexualstraftaten zum Nachteil von Mädchen und Frauen gerechnet werden.

6

Die weitere Fortdauer der Unterbringung sei auch nicht unverhältnismäßig. Bei der insofern vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht des Beschwerdeführers gegenüber den berechtigten Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit und des Gewichtes der bedrohten Rechtsgüter ergebe sich nach wie vor, dass der Sicherungsaspekt der Unterbringung die Freiheitsrechte des Beschwerdeführers überwiege. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer nicht nur die [X.] begangen, sondern auch vorher mehrere versuchte Vergewaltigungen von Frauen und Missbrauchshandlungen an Kindern begangen habe, sowie der Umstand, dass der Beschwerdeführer auch aus der Maßregel heraus und nach längerer therapeutischer Behandlung zumindest über Telefonkontakte versucht habe, Kinder zu sexuellen Handlungen zu bewegen, um sich sexuell zu stimulieren. Dies lasse die Befürchtung zu, dass der Beschwerdeführer außerhalb der gegenwärtigen Strukturen schnell wieder in sexuell übergriffiges Verhalten zurückfallen werde, sofern ihm mehr Freiheitsgrade gewährt würden.

7

Zwar dauere die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nunmehr 22 Jahre an, so dass die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges umso strenger anzuwenden seien. Die Grenzen dieses Freiheitsanspruchs seien jedoch dort erreicht, wo es mit Blick auf die Art der von dem Betroffenen drohenden Taten, deren Wahrscheinlichkeit und voraussichtlichen Schwere im Hinblick auf den Schutz der Rechtsgüter der Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar sei, den Untergebrachten zu entlassen. Da aber von dem Beschwerdeführer weiterhin Sexualdelikte und sexuelle Übergriffigkeit zu befürchten seien, die für die betroffenen Frauen und Mädchen erhebliche physische und psychische Folgen haben könnten, könne diese Abwägung nur zu Ungunsten der Freiheitsrechte des Beschwerdeführers ausfallen.

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3. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde verwarf das [X.] "aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses" mit Beschluss vom 11. Februar 2016.

9

4. Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Die Ausführungen des [X.]s Paderborn würden verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Zwar habe die [X.] den Grad der von ihm ausgehenden Gefahr als "hoch" angesehen, das [X.] habe es in der vorliegenden Entscheidung aber vermieden, den Grad der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten selbst zu bestimmen und lediglich von einer dahingehenden "Befürchtung" gesprochen. Dieser Begriff erfülle die vom [X.] wiederholt konkretisierten Anforderungen an eine Fortdauerentscheidung aber nicht. Im Übrigen komme vor dem Hintergrund der seit über 22 Jahren andauernden Unterbringung seinem Freiheitsanspruch ein besonders hoher Stellenwert zu, dem nicht Rechnung getragen sei.

1. Das [X.] hat von einer Stellungnahme abgesehen.

2. Der [X.] beim [X.] hält die Verfassungsbeschwerde nicht für erfolgversprechend.

Die angegriffenen Entscheidungen genügten noch den allgemeinen formellen Mindesterfordernissen. Jedenfalls dem Zusammenhang der Beschlussgründe sei eindeutig zu entnehmen, dass die Fachgerichte eine (nach wie vor bestehende) hohe Wahrscheinlichkeit dafür annähmen, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Entlassung Sexualstraftaten zum Nachteil von Frauen und Mädchen in einer den [X.]en entsprechenden Art und Schwere begehen werde. Die Fachgerichte hätten die Gefahrenprognose auf einer zureichenden tatsächlichen Grundlage getroffen und eine hohe Wahrscheinlichkeit für vom Beschwerdeführer drohende gewaltbezogene Sexualstraftaten bejahen dürfen. Auch die lange Dauer des bisherigen [X.] und die daraus folgenden erhöhten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer weiteren Unterbringung hätten die Fachgerichte berücksichtigt.

3. Dem [X.] haben die Akten 12 [X.]/12 der Staatsanwaltschaft Essen vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende [X.] nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 [X.] sind erfüllt. Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die anzulegenden Maßstäbe bei der Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]; vgl. [X.] 70, 297 ff.). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

1. Die angegriffenen Beschlüsse des [X.] vom 11. Februar 2016 sowie des [X.]s Paderborn vom 13. November 2015 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, weil sie den Anforderungen, die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ergeben, nicht genügen. Die Beschlüsse weisen nicht die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe auf.

a) aa) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als "unverletzlich" bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. [X.] 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>).

Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit (vgl. [X.] 22, 180 <219>; 45, 187 <223>; 58, 208 <224 f.>; 70, 297 <307>); zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen. Das gilt auch für die Regelung der Unterbringung eines schuldunfähigen oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters, von dem infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 [X.] (vgl. [X.] 70, 297 <307>).

bb) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen (vgl. [X.] 58, 208 <222>) und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. [X.] 58, 208 <230>).

cc) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das hier bestehende Spannungsverhältnis zwischen dem [X.] und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Dieser lässt sich für die Entscheidung über die Aussetzung der Maßregelvollstreckung nur dadurch bewirken, dass die Sicherungsbelange und der [X.] als wechselseitiges Korrektiv gesehen und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden ([X.] 70, 297 <311>). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in die Prüfung der Aussetzungsreife der Maßregel einzubeziehen (integrative Betrachtung). Die darauf aufbauende Gesamtwürdigung hat die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen (vgl. [X.] 70, 297 <312 f.>).

dd) Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 [X.] andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des [X.]. Bei langdauernden Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 [X.]) wirkt sich das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch auf die an die Begründung einer Entscheidung zu stellenden Anforderungen aus. In diesen Fällen engt sich der [X.] des [X.] ein; mit wachsender Intensität des Freiheitseingriffs wächst auch die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Dem lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass der [X.] seine Würdigung eingehender abfasst, sich also nicht etwa mit knappen, allgemeinen Wendungen begnügt, sondern seine Bewertung anhand der dargestellten einfachrechtlichen Kriterien substantiiert offenlegt. Erst dadurch wird es möglich, im Rahmen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die von dem Täter ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufzuwiegen vermag (vgl. [X.] 70, 297 <315 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 21. April 2015 - 2 BvR 2462/13 -, juris, Rn. 37; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 - 2 BvR 442/12 -, juris, Rn. 17).

Zu verlangen ist die Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen (vgl. [X.] 70, 297 <316>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 21. April 2015 - 2 BvR 2462/13 -, juris, Rn. 38; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 17. Februar 2014 - 2 BvR 1795/12, 2 BvR 1852/13 -, juris, Rn. 42). Dabei ist auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles einzugehen. Zu erwägen sind das frühere Verhalten des Untergebrachten und von ihm bislang begangene Taten. [X.] ist aber auch auf die seit Anordnung der Maßregel eingetretenen Umstände, die für die künftige Entwicklung bestimmend sind. Dazu gehören der Zustand des Untergebrachten und die künftig zu erwartenden Lebensumstände (vgl. [X.] 70, 297 <314 f.>; [X.]K 16, 501 <506>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 21. April 2015 - 2 BvR 2462/13 -, juris, Rn. 38; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 17. Februar 2014 - 2 BvR 1795/12, 2 BvR 1852/13 -, juris, Rn. 40; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 - 2 BvR 442/12 -, juris, Rn. 15).

Genügen die Gründe einer Entscheidung über die Fortdauer einer bereits außergewöhnlich lange währenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus diesen Maßstäben nicht, so führt dies dazu, dass die Freiheit der Person des Untergebrachten nicht rechtmäßig eingeschränkt werden kann; sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist verletzt, weil es an einer verfassungsrechtlich tragfähigen Grundlage für die Unterbringung fehlt (vgl. [X.] 70, 297 <316 f.>).

b) Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Beschlüsse des [X.] vom 11. Februar 2016 und des [X.]s Paderborn vom 13. November 2015 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Sie tragen dem zunehmenden Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschwerdeführers angesichts der langjährigen Dauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nur unzureichend Rechnung. Der Beschwerdeführer befand sich zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidungen seit 22 Jahren im Maßregelvollzug. Angesichts dieser besonders langandauernden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hätte die Anordnung ihrer Fortdauer besonders sorgfältiger Begründung bedurft. Dem genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht.

aa) (1) Es erscheint bereits zweifelhaft, ob dem Beschluss des [X.]s eine hinreichende Konkretisierung der Art der künftig zu erwartenden Straftaten entnommen werden kann. Das [X.] beschränkt sich insoweit auf die Feststellung, es müsse "weiterhin mit Sexualstraftaten zum Nachteil von Mädchen und Frauen" sowie mit "sexuell übergriffigem Verhalten" des Beschwerdeführers gerechnet werden. Zu befürchten seien "Sexualdelikte und sexuelle Übergriffigkeit", die für "die betroffenen Frauen und Mädchen erhebliche physische und psychische Folgen haben" könnten. Weitergehende Konkretisierungen hinsichtlich der im Einzelnen zu erwartenden Sexualdelikte unterbleiben.

Sie können auch nicht dem Hinweis des [X.]s entnommen werden, dass bei der gebotenen Abwägung des Freiheitsrechts des Beschwerdeführers mit den Sicherungsinteressen der Allgemeinheit die [X.], vorangegangene Verurteilungen sowie der Versuch des Beschwerdeführers, während der Unterbringung im Rahmen telefonischer Kontakte Kinder zu sexuellen Handlungen zu bewegen, zu berücksichtigen seien, da aus der langjährig zurückliegenden Begehung diese Taten nicht ohne Weiteres auf die Gefahr erneuter Begehung gleichartiger Taten in der Zukunft geschlossen werden kann. Gleiches gilt für die Bezugnahme des [X.]s auf die Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung vom 28. August 2015 und das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. T., da diese lediglich zur Begründung des Fortbestandes der zur [X.] führenden Störung erfolgt.

Da aber nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Gefahr einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Sinne der §§ 174 ff. [X.] ausnahmslos geeignet ist, das angesichts der über 20-jährigen Unterbringung des Beschwerdeführers gesteigerte Gewicht seines Freiheitsanspruchs zu überwiegen, hätte das [X.] sich dazu verhalten müssen, welche "Sexualdelikte und sexuelle Übergriffigkeit" konkret vom Beschwerdeführer zu erwarten sind.

(2) Jedenfalls fehlt es an einer Bestimmung des Grades der Wahrscheinlichkeit künftiger vom Beschwerdeführer zu erwartender Straftaten. Diesbezüglich hat das [X.] lediglich ausgeführt, es müsse mit Sexualstraftaten zum Nachteil von Mädchen und Frauen "gerechnet werden", und das Verhalten des Beschwerdeführers während der Unterbringung lasse "die Befürchtung zu", er werde außerhalb der gegenwärtigen Strukturen schnell wieder in sexuell übergriffiges Verhalten zurückfallen.

Diese Erwägungen genügen der verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmung des Grades der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten nicht. Sie gehen über die bloße Möglichkeit der Begehung rechtswidriger Taten in der Zukunft nicht in relevantem Umfang hinaus (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 21. April 2015 - 2 BvR 2462/13 -, juris, Rn. 43). Eine dem zunehmenden Gewicht des Freiheitsrechts des Beschwerdeführers Rechnung tragende Abwägung mit den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit ist auf dieser Grundlage in dem verfassungsrechtlich gebotenen Umfang nicht möglich.

(3) Darüber hinaus fehlt es an der zur Feststellung der Verhältnismäßigkeit einer Fortdauer der Unterbringung erforderlichen Auseinandersetzung mit weiteren Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles. So verweist das [X.] zwar darauf, dass es bei dem Beschwerdeführer einen Therapiestillstand oder eine Therapieverweigerung zu geben scheine. Welche Bedeutung dem aber für die Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers zukommt, wird nicht erörtert (vgl. dazu [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 8. Juli 2016 - 2 BvR 435/15 -, juris, Rn. 32).

bb) Das [X.] hat die Grundrechtsverletzung durch das [X.] durch seinen Beschluss vom 11. Februar 2016 vertieft, indem es lediglich auf die zutreffenden Gründe der angegriffenen Entscheidung Bezug nimmt. Eigenständige Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers sind nicht erkennbar.

2. Es ist daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 [X.] festzustellen, dass die angegriffenen Beschlüsse des [X.] vom 11. Februar 2016 sowie des [X.]s Paderborn vom 13. November 2015 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzen. Der Beschluss des [X.] vom 11. Februar 2016 ist aufzuheben und die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 [X.]).

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.], die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. dazu auch [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 517/16

20.10.2016

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Hamm, 11. Februar 2016, Az: III-4 Ws 449/15, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 63 StGB, § 67d Abs 2 S 2 StGB, § 68a StGB, § 68b StGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20.10.2016, Az. 2 BvR 517/16 (REWIS RS 2016, 3658)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 3658

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