Bundessozialgericht, Beschluss vom 01.12.2016, Az. B 9 SB 25/16 B

9. Senat | REWIS RS 2016, 1512

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - unterbliebene Anhörung vor Erlass eines Gerichtsbescheids - keine Fortwirkung des Mangels in der Berufungsinstanz - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - keine stillschweigende Gewährung - Zurechnung des Verschuldens des Prozessbevollmächtigten - keine vollständige Kompensation durch zivilrechtliche Haftungsklage


Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 4. März 2016 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. In der Hauptsache ist die Aberkennung der Voraussetzungen für [X.] im Streit. [X.]ei der 1987 geborenen und von [X.]eburt an hörgeschädigten Klägerin waren zunächst ein [X.]rad der [X.]ehinderung von 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die [X.], [X.] und [X.] sowie [X.] festgestellt ([X.]escheide vom 10.4.1989 und 5.5.1994). Später wurden die gesundheitlichen Voraussetzungen für [X.] und [X.] aberkannt ([X.]escheid vom 13.10.2005), nach Ausbildung und Anschlussbeschäftigung der Klägerin bei E. entzog der [X.]eklagte auch [X.] ([X.]escheid vom 4.10.2012). Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom [X.], lt Aktenvermerk und [X.]ildschirmausdruck abgesandt am [X.]). Das S[X.] hat die am 15.4.2013 eingegangene und mit einem Wiedereinsetzungsgesuch verbundene Klage nach [X.] [X.]egutachtung mangels Hilfebedarfs abgewiesen ([X.]erichtsbescheid vom 26.3.2015). Das LS[X.] hat die [X.]erufung demgegenüber wegen Versäumung der Klagefrist zurückgewiesen und zur [X.]egründung ua ausgeführt, der Klägervertreter habe einen Zugang des Widerspruchsbescheids nach dem 10.3.2013 nicht substantiiert behauptet, und eine Wiedereinsetzung mangels unverschuldeter Fristversäumnis durch den Klägervertreter abgelehnt. Davon abgesehen sei die Klage aller Voraussicht nach auch unbegründet. Denn das [X.] vor Spracherwerb Ertaubter begründe Hilflosigkeit regelmäßig nur bis zum Ablauf einer ersten [X.]erufsausbildung und anschließenden nur noch in - hier nicht ersichtlichen - Ausnahmefällen (Urteil vom 4.3.2016).

2

Mit ihrer [X.]eschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LS[X.] (zugestellt am 14.3.2016) und rügt Verfahrensfehler. Die [X.]eschwerdebegründung ist am 19.5.2016 beim [X.]S[X.] eingegangen, nachdem der Klägervertreter per Mail vom 17.5.2016 um 23.42 Uhr und am 18.5.2016 erneut per Fax Fristverlängerung beantragt hatte.

3

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die [X.]egründung genügt unbeschadet einer Versäumung der [X.]eschwerdebegründungsfrist (§ 160a Abs 2 S 1 S[X.][X.]) nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers nicht ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 S[X.][X.]).

4

1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 [X.] Halbs 1 S[X.][X.]), so müssen bei der [X.]ezeichnung des [X.] (§ 160a Abs 2 S 3 S[X.][X.]) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. [X.]emäß § 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.] kann der geltend gemachte Verfahrensmangel dabei nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 S[X.][X.] und auf eine Verletzung des § 103 S[X.][X.] nur gestützt werden, wenn er sich auf einen [X.]eweisantrag bezieht, dem das LS[X.] ohne hinreichende [X.]egründung nicht gefolgt ist.

5

a) Die Klägerin führt zunächst an, es sei entgegen den Feststellungen des LS[X.] nicht unstreitig, dass der Widerspruchsbescheid ausweislich eines Vermerks in den Akten am [X.] abgesandt worden sei. Auch ein zu den Akten gereichter [X.]ildschirmausdruck sei kaum zu entziffern und im Hinblick auf den streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid angesichts der verwendeten Kürzel auch kaum zu identifizieren gewesen. Die dortigen Kürzel seien wenig aussagekräftig und ließen Raum für die Möglichkeit, dass der Widerspruchsbescheid erst am 8.3. oder 11.3.2013 auf den Postweg gebracht sein könne mit der Folge, dass keine Fristversäumnis gegeben sei. Die fragliche Absendung sei durch Einholen einer Auskunft bei der [X.] unter [X.]eweis gestellt.

6

Die damit verbundene [X.] (§ 103 S[X.][X.]) hat die Klägerin nicht ausreichend angebracht. Ein - wie hier - in der [X.]erufungsinstanz rechtsanwaltlich vertretener [X.]eteiligter kann nur dann mit der Rüge des Übergehens eines [X.]eweisantrags gehört werden, wenn er diesen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung durch entsprechenden Hinweis zu Protokoll aufrechterhalten hat oder das [X.]ericht den [X.]eweisantrag in seinem Urteil wiedergibt (stRspr, vgl [X.]S[X.] SozR 4-1500 § 160 [X.] Rd[X.] 11 mwN). Denn nur dann hätte nach Sinn und Zweck des § 160 Abs 2 [X.] letzter Teils S[X.][X.] ein [X.]eweisantrag die Warnfunktion dahingehend erfüllt, dass ein [X.]eteiligter die Sachaufklärungspflicht des [X.]erichts noch nicht als erfüllt ansieht (vgl [X.]S[X.] SozR 3-1500 § 160 [X.]; [X.]1 S 52). Wird ein Rechtsstreit - wie hier - ohne mündliche Verhandlung entschieden, tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt der Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 S[X.][X.] ([X.]S[X.] SozR 3-1500 § 124 [X.] S 4 f). Die Klägerin verdeutlicht schon nicht, ob und wann ein prozessordnungsgemäßer [X.]eweisantrag gestellt wurde, der die nötige Warnfunktion entfalten konnte, um dem LS[X.] die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen vor Augen zu führen.

7

b) Die Klägerin rügt zudem, das LS[X.] habe [X.] eine Prozessentscheidung anstelle einer Sachentscheidung getroffen, indem es die Klagefrist als versäumt angesehen habe (vgl hierzu [X.]S[X.] SozR 3-1750 § 418 [X.] 1). Soweit die Klägerin anführt, das LS[X.] habe die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Klagefrist abgelehnt (§ 67 S[X.][X.] iVm § 87 S[X.][X.]), obwohl das Verschulden des Prozessbevollmächtigten als gering anzusehen sei, setzt sie sich nicht damit auseinander, ob und inwieweit eine solche Differenzierung bei einem Maßstab, der auf Schuldlosigkeit abstellt (vgl § 67 S[X.][X.]), überhaupt rechtserheblich sein könnte. Soweit sie in diesem Kontext zudem den Standpunkt einnimmt, das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten sei ihr nicht zuzurechnen, weil der Verlust der gesundheitlichen Voraussetzungen für das [X.] durch eine zivilrechtliche Haftungsklage nicht (vollständig) kompensiert werden könne, hätte sie allerdings anführen müssen, welche Rechtsgrundlage entgegen § 73 Abs 6 [X.] S[X.][X.] iVm § 85 Abs 2 ZPO hierfür streiten könnte. Daran fehlt es.

8

Der Vortrag der Klägerin, das S[X.] habe Wiedereinsetzung nach § 67 S[X.][X.] stillschweigend gewährt, das LS[X.] dementsprechend [X.] eine verbindliche Entscheidung des S[X.] geändert, geht ebenfalls fehl. Die [X.]eschwerdebegründung versäumt insoweit bereits jegliche Auseinandersetzung mit der hierzu ergangenen und vom LS[X.] auch zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung, die davon ausgeht, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht stillschweigend, sondern nur durch eine eindeutig verlautbarte Entscheidung gewährt werden kann ([X.]S[X.] SozR 4-1500 § 67 [X.] 4). Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Aufklärungsrüge (§ 103 S[X.][X.]) anbringt, bleibt deshalb auch offen, wieso sich das LS[X.] hätte gedrängt sehen müssen, die "Vorderrichterin" hierzu zu vernehmen.

9

c) Die Klägerin behauptet des Weiteren als [X.], dass das S[X.] durch [X.]erichtsbescheid (§ 105 S[X.][X.]) entschieden habe, ohne die beantragte persönliche Anhörung der Klägerin durchzuführen. Um einen Verfahrensmangel geltend machen zu können, auf dem die angefochtene Entscheidung des LS[X.] beruhen kann, hätte sich die [X.]eschwerdebegründung indessen näher damit auseinandersetzen müssen, wieso der Verfahrensfehler des S[X.] in der [X.]erufungsinstanz [X.] haben könnte. Ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.] ist ein Verstoß des [X.]erichts im Rahmen des prozessualen Vorgehens im unmittelbar vorangehenden Rechtszug. Daher kann ein - etwaiger - Verfahrensmangel des S[X.] die Zulassung nur ausnahmsweise rechtfertigen, wenn dieser fortwirkt und insofern ebenfalls als Mangel des LS[X.] anzusehen ist (vgl [X.]S[X.] [X.]eschluss vom 20.5.2015 - [X.] 13 R 74/16 [X.]). Hierzu fehlt schlüssiger Vortrag der Klägerin. Daran ändert auch der Hinweis auf die angeblich [X.] unterbliebene Zurückverweisung an das S[X.] nichts. Denn auch hierzu führt die [X.]eschwerdebegründung nicht aus, ob und inwieweit die Voraussetzungen des § 159 S[X.][X.], die das LS[X.] zur Zurückverweisung ermächtigen könnten, überhaupt gegeben sein könnten.

2. Von einer weiteren [X.]egründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 S[X.][X.]).

3. [X.] beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 S[X.][X.].

Meta

B 9 SB 25/16 B

01.12.2016

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend Sozialgericht für das Saarland, 26. März 2015, Az: S 8 SB 289/13, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 2 S 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 73 Abs 6 S 7 SGG, § 87 SGG, § 105 Abs 1 S 2 SGG, § 85 Abs 2 ZPO, § 611 BGB

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 01.12.2016, Az. B 9 SB 25/16 B (REWIS RS 2016, 1512)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 1512

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