Bundessozialgericht, Beschluss vom 02.12.2010, Az. B 9 SB 20/10 B

9. Senat | REWIS RS 2010, 849

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz - Beweisantrag nicht rechtskundig vertretener Beteiligter im sozialgerichtlichen Verfahren


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 11. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten in der [X.]auptsache über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "[X.]".

2

Bei der 1986 geborenen Klägerin wurde zunächst als Behinderung eine "Lebertransplantation mit Folgeerscheinungen im Stadium der [X.]" mit einem [X.]rad der Behinderung ([X.]dB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "[X.]" festgestellt (Bescheid vom 18.11.1999). Ab 16.3.2003 wurde der [X.]dB auf 90 herabgesetzt (Bescheid vom 18.10.2007).

3

Den Antrag der Klägerin, ihr auch das Merkzeichen "[X.]" zuzuerkennen, lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom [X.] in der [X.]estalt des Widerspruchsbescheides vom [X.]). Nach Einholung schriftlicher sachverständiger Zeugenaussagen mit kurzer gutachtlicher Äußerung von den behandelnden Ärzten Prof. [X.], Prof. Dr. Z., Prof. Dr. E. und [X.] hat das Sozialgericht (S[X.]) [X.] die Klage abgewiesen ([X.]erichtsbescheid vom [X.]). Das [X.] (LS[X.]) hat nach Einholung einer weiteren schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage mit kurzer gutachtlicher Äußerung von dem behandelnden Arzt Prof. [X.] die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom [X.]). Es hat [X.] ausgeführt: Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr lasse sich nicht positiv feststellen. Prof. [X.] habe keine wesentlichen Auswirkungen der Behinderung der Klägerin auf deren [X.]ehfähigkeit festgestellt. Die Überzeugungskraft der von Prof. [X.] mitgeteilten Einschätzung der [X.]ehfähigkeit der Klägerin werde durch die von dieser erhobenen Einwendungen nicht gemindert. Der [X.] vermöge der Einschätzung von Frau [X.], die Klägerin sei nicht mehr in der Lage, eine [X.] von etwa zwei Kilometern in etwa 30 Minuten zurückzulegen, nicht zu folgen. Anlass für die Einholung eines Sachverständigengutachtens habe angesichts des hinreichend geklärten Sachverhalts nicht bestanden.

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[X.]egen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil des LS[X.] hat die Klägerin Beschwerde eingelegt. Als Zulassungsgrund macht sie einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.]) geltend. Das LS[X.] habe ihren im Schriftsatz vom [X.] gestellten Beweisantrag auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens übergangen. Dort habe sie ihre Ausführungen unter Beweis gestellt, dass sie nicht mehr in der Lage sei, ohne erhebliche Schwierigkeiten und nachfolgende Beeinträchtigungen mehr als zwei Kilometer in einer halben Stunde zu gehen. Bereits nach einer [X.] in üblicher [X.]eschwindigkeit von 10 bis 15 Minuten nähmen die vorhandenen Schmerzen so stark zu, dass sie nur noch unter größten Schmerzen zunächst weitergehen könne und dann aber ihren Weg abbrechen müsse. Das LS[X.] habe eine Beweislastentscheidung getroffen, ohne die vorhandenen oder beantragten Beweismittel vollständig auszuschöpfen.

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LS[X.] begründet. Wie die Klägerin formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 S[X.][X.]) und auch im Ergebnis zutreffend gerügt hat, beruht das angegriffene Urteil auf einer Verletzung des § 103 S[X.][X.], denn das LS[X.] ist einem Beweisantrag der Klägerin ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]albs 2 S[X.][X.]). Der [X.] macht deshalb gemäß § 160a Abs 5 S[X.][X.] von der Möglichkeit [X.]ebrauch, das Urteil des LS[X.] aufzuheben und die Sache an dieses [X.]ericht zurückzuverweisen.

6

1. Die Beschwerde ist zulässig. Zur Begründung ihrer Verfahrensrüge (§ 160 Abs 2 [X.], § 160a Abs 2 Satz 3 S[X.][X.]) hat die Klägerin dargelegt, das LS[X.] sei ihrem Beweisantrag, ein medizinisches Sachverständigengutachten zu ihrer [X.]ehfähigkeit einzuholen, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Sie hat aufgezeigt, dass der von ihr im Schriftsatz vom [X.] gestellte Beweisantrag Beweisthema (eingeschränkte [X.]ehfähigkeit) und Beweismittel (Sachverständigengutachten) nennt und damit den gesetzlichen Anforderungen (§ 118 Abs 1 S[X.][X.] iVm §§ 402 ff ZPO) genügt. Aus den dargelegten Umständen des Verfahrens lässt sich auch entnehmen, dass die Klägerin den schriftsätzlich gestellten Antrag bis zuletzt aufrechterhalten hat (vgl dazu BS[X.] SozR 1500 § 160 [X.] 12; BS[X.] SozR 3-1500 § 160 [X.]5 S 73 f; BS[X.] SozR 4-1500 § 160 [X.] 13 Rd[X.] 11). Insbesondere musste die Klägerin zur Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde nicht vortragen, sie habe diesen Antrag in der mündlichen Verhandlung vor dem LS[X.] zu Protokoll wiederholt oder ausdrücklich darauf Bezug genommen.

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Soweit das BS[X.] in ständiger Rechtsprechung den [X.]rundsatz vertritt (vgl zB aus der Rechtsprechung des erkennenden [X.]s: BS[X.] SozR 4-1500 § 160 [X.] 1 Rd[X.] 5; BS[X.] SozR 4-1500 § 160 [X.] 13 Rd[X.] 11), dass ein Beweisantrag als nicht mehr aufrechterhalten gilt, wenn in der mündlichen Verhandlung nur ein Sachantrag gestellt wird, geht diese Rechtsprechung jeweils von einem anwaltlich oder ähnlich rechtskundig vertretenen Beteiligten aus. Dabei kommt es nach Auffassung des erkennenden [X.]s nicht auf das Vorhandensein allgemeiner Rechtskenntnisse bei dem betreffenden Beteiligten oder dessen Bevollmächtigtem an. Vielmehr muss es sich um einen berufsmäßigen Rechtsvertreter, also insbesondere einen Rechtsanwalt oder einen anderen in § 73 Abs 2 S[X.][X.] genannten Prozessbevollmächtigten, handeln (vgl BS[X.] SozR 4-1500 § 160 [X.] 1 Rd[X.] 5). Liegt keine entsprechende Vertretung vor, ist der Vorsitzende auch in Ansehung des § 112 S[X.][X.] im Zweifel gehalten, in der mündlichen Verhandlung von sich aus zu klären, ob der Beteiligte einen schriftlichen Beweisantrag fallen lassen oder aufrechterhalten will. Da der Vater der Klägerin, der diese in der mündlichen Verhandlung vertreten hat, nicht zu dem Personenkreis rechtskundiger Prozessbevollmächtigter iS des § 73 Abs 2 S[X.][X.] gehört, bedurfte es in der Beschwerdebegründung keines besonderen Vorbringens zur Aufrechterhaltung des Beweisantrages.

8

Schließlich hat die Klägerin auch dargetan, inwiefern das LS[X.] diesem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

9

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist auch begründet. Das LS[X.] durfte den im Schriftsatz der Klägerin vom [X.] gestellten Beweisantrag nicht ohne weitere Nachfrage im Termin zur mündlichen Verhandlung als fallen gelassen betrachten. Es hätte ihm auch entsprechen müssen.

Das LS[X.] hat seine in § 103 S[X.][X.] normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es dem Beweisantrag der Klägerin, von Amts wegen ein medizinisches Sachverständigengutachten zum Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichen "[X.]" einzuholen, "ohne hinreichende Begründung" nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.]). Dabei ist diese Wendung im Sinne von "ohne hinreichenden [X.]rund" zu verstehen. Es kommt insoweit darauf an, ob das [X.]ericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt weiter aufzuklären, ob es sich also aus seiner Sicht zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr seit BS[X.] SozR 1500 § 160 [X.] 5). Das [X.]ericht muss mithin von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, [X.]ebrauch machen. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl BS[X.] SozR 4-1500 § 160 [X.] 12 Rd[X.] 10).

Unter Zugrundelegung seiner (insoweit mit dem S[X.] übereinstimmenden) Rechtsauffassung, dass sich eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr iS des § 146 Abs 1 Satz 1 S[X.]B IX danach bemisst, ob der Behinderte noch in der Lage ist, eine Wegstrecke von zwei km bei einer [X.]ehdauer von etwa 30 Minuten zurückzulegen, hätte sich das LS[X.] nach dem Ergebnis der bis zur mündlichen Verhandlung durchgeführten Sachverhaltsaufklärung zu der beantragten Beweiserhebung, ein medizinisches Sachverständigengutachten zur [X.]ehfähigkeit der Klägerin einzuholen, gedrängt fühlen müssen. Die vom S[X.] und LS[X.] auf der [X.]rundlage des § 118 Abs 1 S[X.][X.] iVm § 377 Abs 3 Satz 1, § 414 ZPO gehörten behandelnden Ärzte haben in ihren kurzen gutachtlichen Äußerungen die Frage, ob die Klägerin noch in der Lage ist, eine Wegstrecke von zwei km in 30 Minuten zurückzulegen, unterschiedlich beurteilt. Es stand demnach aufgrund dieser Beweisaufnahme nicht bereits zweifelsfrei fest, welche Wegstrecke die Klägerin innerhalb welcher Zeit zurücklegen kann. [X.]inzu kommt, dass die Zeugenaussagen mangels spezifischer, auf die [X.]ehfähigkeit bezogener Untersuchungen nur den Charakter einer groben Einschätzung hatten, die jedenfalls bei unterschiedlicher Beurteilung einer kritischen fachärztlichen Überprüfung durch einen unabhängigen Sachverständigen bedürfen. Unter diesen Umständen hätte das LS[X.] mangels ausgewiesener eigener medizinischer Sachkunde der beantragten Beweiserhebung nachkommen müssen. Insbesondere durfte es die [X.] der Klägerin nicht ohne sachkundige [X.]ilfe als nicht hinreichend objektiviert ansehen.

Auf dem insoweit verfahrensfehlerhaften Unterlassen entsprechender weiterer Ermittlungen kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. [X.]ätte das LS[X.] die beantragte Beweiserhebung durchgeführt, wäre es auf der [X.]rundlage gezielter Befunderhebungen und sachkundiger Beurteilung möglicherweise zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung gelangt.

Nach § 160a Abs 5 S[X.][X.] kann das BS[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LS[X.] zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.] vorliegen. Der [X.] macht im [X.]inblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit [X.]ebrauch.

Das LS[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 9 SB 20/10 B

02.12.2010

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Stuttgart, 7. April 2009, Az: S 21 SB 1319/06, Gerichtsbescheid

§ 103 SGG, § 112 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 73 Abs 2 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 02.12.2010, Az. B 9 SB 20/10 B (REWIS RS 2010, 849)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 849

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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