Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 01.12.2021, Az. 2 BvR 2080/21

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2021, 712

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Ablehnung eines Eilantrags im Verfassungsbeschwerdeverfahren: Maßgaben des Resozialisierungsanspruchs an die Gewährung bzw Versagung von Ausführungen eines Strafgefangenen - hier: Unzulässigkeit des Eilantrags mangels Darlegung der Beschwerdebefugnis bzw eines schweren Nachteils


Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

1

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unzulässig.

2

1. Das [X.] kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 [X.] vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Eine einstweilige Anordnung darf nach der ständigen Rechtsprechung des [X.]s allerdings dann nicht ergehen, wenn eine Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder unbegründet wäre (vgl. [X.] 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Zu den Zulässigkeitsanforderungen an einen Antrag nach § 32 Abs. 1 [X.] gehört die substantiierte Darlegung der Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 1. September 2020 - 2 BvQ 61/20 -, Rn. 10; Beschluss der [X.] des [X.] vom 16. März 2021 - 1 BvR 375/21 -, Rn. 18). Selbst im Fall offenkundiger Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde kommt ein Einschreiten des [X.]s im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 [X.] nur dann in Betracht, wenn ein schwerer Nachteil im Sinne des § 32 [X.] dargelegt wird (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 1. September 2020 - 2 BvQ 61/20 -, Rn. 10; Beschluss der [X.] des [X.] vom 16. März 2021 - 1 BvR 375/21 -, Rn. 18). Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).

3

2. Der Beschwerdeführer hat nicht substantiiert dargelegt, dass die Verfassungsbeschwerde nach derzeitigem Stand weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet ist. Er hat - auch unter Berücksichtigung herabgesenkter Begründungsanforderungen gegenüber juristischen Laien - nicht nachvollziehbar dargetan, dass die angegriffene Entscheidung ihn möglicherweise selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten, insbesondere in seinem [X.] aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, verletzt und er damit beschwerdebefugt ist (vgl. [X.] 53, 30 <48>; 72, 1 <5>; 140, 42 <57 Rn. 55>).

4

a) aa) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (vgl. [X.] 116, 69 <85 f.> m.w.N.; stRspr). Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des [X.] entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen (vgl. [X.] 45, 187 <238>; 64, 261 <277>; 98, 169 <200>; 109, 133 <150 f.>; [X.]K 17, 459 <462>; 19, 306 <315>; 20, 307 <312>; stRspr). Dabei greift das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann ein, wenn er bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweist ([X.]K 19, 157 <165>). Das Interesse des Gefangenen, vor den schädlichen Folgen aus der langjährigen Inhaftierung bewahrt zu werden und seine Lebenstüchtigkeit im Falle der Entlassung aus der Haft zu behalten, hat ein umso höheres Gewicht, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert (vgl. [X.] 64, 261 <272 f.>; 70, 297 <315>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 18. September 2019 - 2 BvR 681/19 -, Rn. 17).

5

Gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen für vollzugslockernde Maßnahmen im eigentlichen Sinne etwa wegen einer konkret bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr noch nicht erfüllen, dienen Ausführungen dem Erhalt und der Festigung der Lebensfähigkeit und -tüchtigkeit (vgl. [X.]K 17, 459 <462>; 19, 306 <315 f.>; 20, 307 <312>). Bei langjährig Inhaftierten kann es daher, selbst wenn noch keine konkrete [X.] besteht, jedenfalls geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 23. Mai 2013 - 2 BvR 2129/11 -, Rn. 16; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 18. September 2019 - 2 BvR 681/19 -, Rn. 19). Der damit verbundene personelle Aufwand ist dann hinzunehmen (vgl. [X.]K 17, 459 <462 f.>; 19, 306 <316>; 20, 307 <313>). Grundrechte bestehen nicht nur nach Maßgabe dessen, was an Verwaltungseinrichtungen im konkreten Fall oder üblicherweise vorhanden ist (vgl. [X.] 15, 288 <296>; 34, 369 <380 f.>; 35, 307 <310>; [X.]K 13, 163 <166> m.w.N.). Zwar können sich Grenzen für die Möglichkeit der Durchführung von Behandlungsmaßnahmen aus der räumlichen und personellen Ausstattung der Justizvollzugsanstalt ergeben (vgl. [X.] 42, 95 <100 f.>). Der Strafgefangene kann nicht verlangen, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Beschränkungen seiner grundrechtlichen Freiheiten zu vermeiden (vgl. [X.] 34, 369 <380 f.>; 34, 384 <402>; 35, 307 <310>; 42, 95 <100 f.>; [X.]K 13, 163 <166>; 13, 487 <492>). Außerdem ist eine Vollzugsanstalt von Verfassungs wegen nicht gehalten, dem Strafgefangenen die Erreichung eines von ihm angestrebten Zieles auf einem Wege zu ermöglichen, der für die Vollzugsanstalt außerordentliche Schwierigkeiten mit sich bringt und die Gewährleistung des Vollzugszweckes oder der Ordnung in der Anstalt ernsthaft in Frage stellt, wenn der Strafgefangene das gleiche Ziel ganz oder doch weitgehend auf einem ihm zumutbaren und für die Vollzugsanstalt mit wesentlich weniger Aufwand verbundenen Wege erreichen kann (vgl. [X.] 34, 369 <381>). Andererseits kann der Staat grundrechtliche und einfachgesetzliche Ansprüche Gefangener nicht nach Belieben dadurch verkürzen, dass er die [X.] nicht so ausstattet, wie es zur Wahrung der Rechte der Gefangenen erforderlich wäre. Vielmehr setzen die Grundrechte auch Maßstäbe für die notwendige Beschaffenheit staatlicher Einrichtungen. Es ist Sache des Staates, [X.] in der zur Wahrung der Grundrechte erforderlichen Weise auszustatten (vgl. [X.] 40, 276 <284>; 45, 187 <240>; [X.]K 13, 163 <168 f.>; 13, 487 <492 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 23. Mai 2013 - 2 BvR 2129/11 -, Rn. 16 m.w.N.).

6

bb) Dass das [X.] in der angegriffenen Entscheidung dennoch ohne weitere Begründung ausführt, entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers könne die Personallage bei der Justizvollzugsanstalt seinem Anordnungsanspruch auf Durchführung der begehrten Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit grundsätzlich entgegenstehen, begegnet unter Berücksichtigung dieser verfassungsrechtlichen Maßstäbe erheblichen Bedenken. Sowohl in dem vom [X.] in Bezug genommenen Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 23. Mai 2013 als auch in dem den Beschwerdeführer betreffenden Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 18. September 2019 hat das [X.] hervorgehoben, dass der personelle Aufwand bei Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit von der Justizvollzugsanstalt grundsätzlich hinzunehmen ist und damit die Ablehnung einer solchen Ausführung nicht mit dem bloßen Verweis darauf gerechtfertigt werden kann, dass die Personallage der Justizvollzugsanstalt nichts anderes erlaube (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 23. Mai 2013 - 2 BvR 2129/11 -, Rn. 16; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 18. September 2019 - 2 BvR 681/19 -, Rn. 19). Indes lässt sich der im fachgerichtlichen Eilverfahren gegenständlichen Ankündigung der Justizvollzugsanstalt, dass die begehrte Ausführung des Beschwerdeführers wahrscheinlich wegen Personalmangels nicht durchgeführt werden könne, gerade keine über einen allgemeinen Verweis auf die Personallage hinausgehende Begründung entnehmen.

7

b) Der Beschwerdeführer hat jedoch nicht dargetan, dass er durch die angegriffene Entscheidung bereits gegenwärtig in seinem [X.] betroffen und damit beschwerdebefugt ist. Insbesondere hat er nicht substantiiert dargelegt, dass die verfassungsrechtlich bedenklichen Ausführungen des [X.]s für den fachgerichtlichen Rechtsstreit erheblich sind. So hat sich der Beschwerdeführer nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob sein Antrag auf fachgerichtlichen Eilrechtsschutz zum Zeitpunkt der Entscheidung des [X.]s bereits unzulässig gewesen sein könnte. Die Justizvollzugsanstalt hat sowohl nach dem Vortrag des Beschwerdeführers selbst als auch nach ihrem eigenen Vorbringen im Schriftsatz vom 5. November 2021 bislang noch nicht über seinen Antrag auf Gewährung einer vierten Ausführung zum Erhalt der [X.] entschieden. Sie trägt vor, darum bemüht zu sein, die begehrte Ausführung noch im [X.] zu ermöglichen und deshalb noch keine diesbezügliche Maßnahme im Sinne von § 109 Strafvollzugsgesetz ([X.]) getroffen zu haben. Auch die Voraussetzungen für einen Vornahmeantrag nach § 113 Abs. 1 [X.] hat der Beschwerdeführer nicht dargetan.

8

3. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zudem mangels substantiierter Darlegung eines schweren Nachteils im Sinne des § 32 Abs. 1 [X.] unzulässig. Der Beschwerdeführer hat nicht hinreichend ausgeführt, weshalb ihm für den Fall, dass eine einstweilige Anordnung nicht erlassen wird, ein grundrechtlich erheblicher schwerwiegender Nachteil droht.

9

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 2080/21

01.12.2021

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG Koblenz, 15. November 2021, Az: 7c StVK 177/21, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 11 Abs 1 Nr 2 Alt 1 StVollzG, § 109 StVollzG, § 109ff StVollzG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 01.12.2021, Az. 2 BvR 2080/21 (REWIS RS 2021, 712)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 712

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 BvR 2129/11 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Unzureichend begründete Versagung von Vollzugslockerungen verletzt Strafgefangenen in Grundrecht aus Art 2 Abs …


2 BvR 1165/19 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Resozialisierungsanspruchs durch Versagung von Vollzugslockerungen - Anspruch auf Ausführungen nicht erst …


2 BvR 681/19 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Resozialisierungsanspruchs durch Versagung von Vollzugslockerungen - Anspruch auf Ausführungen nicht erst …


2 BvR 1753/14 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Unzureichend begründete Versagung von Vollzugslockerungen verletzt Strafgefangenen in Grundrecht aus Art 2 Abs …


2 BvR 650/19 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Resozialisierungsanspruchs durch Versagung von Vollzugslockerungen - Anspruch auf Ausführungen nicht erst …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

2 BvQ 61/20

1 BvR 375/21

2 BvR 681/19

2 BvR 2129/11

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.