Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 22.09.2014, Az. 1 BvR 2102/14

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2014, 2762

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Strenger Maßstab für Abänderung einer Sorgerechtsentscheidung (§ 1696 BGB) verfassungsrechtlich unbedenklich - zum Gewicht des Kontinuitätsgedankens sowie zur Berücksichtigung von Kindeswohl und Kindeswille im Abänderungsverfahren


Gründe

I.

1

Die [X.]beschwerde betrifft die Zurückweisung eines Antrags auf Abänderung einer Sorgerechtsentscheidung zwischen getrennt lebenden Eltern.

2

1. Der Beschwerdeführer ist Vater eines im Jahr 2008 geborenen [X.]. Nach der Geburt des Kindes lebten der Beschwerdeführer und die Mutter mit dem [X.] und der im Jahr 2000 geborenen Tochter des Beschwerdeführers aus einer vorangegangenen Beziehung zunächst in einem gemeinsamen Haushalt. Nach Trennung der für den [X.] bislang gemeinsam sorgeberechtigten Eltern im [X.] beantragten diese jeweils die Übertragung des alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts. Die Halbschwester verblieb beim Beschwerdeführer. Auch der [X.] hielt sich zunächst überwiegend im Haushalt des Beschwerdeführers auf. Im April 2012 übertrug das Amtsgericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den [X.] auf die Mutter. Dagegen erhob der Beschwerdeführer erfolglos Beschwerde. Eine [X.] wies das [X.] im Mai 2013 zurück. Seit Frühjahr 2013 lebt der Junge im Haushalt der Mutter. Der Beschwerdeführer erhob [X.]beschwerde, welche nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Seit April 2013 besucht der sprachlich und motorisch verzögert entwickelte [X.] am Wohnort der Mutter eine integrative Bewegungskindertagesstätte.

3

Wenige Tage nach der Zurückweisung der [X.] stellte der Beschwerdeführer einen neuen Antrag auf Übertragung des alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts mit der Begründung, die seit kurzem geänderten Lebensverhältnisse des Kindes liefen dessen Wohl zuwider, da es nicht von dem Beschwerdeführer und seiner Halbschwester getrennt sein wolle. Das Amtsgericht bestellte eine [X.] für das Kind und holte Stellungnahmen des Jugendamtes ein.

4

2. Nach Anhörung der Kindeseltern sowie der [X.] wies das Amtsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Abänderung der Sorgerechtsentscheidung und Übertragung des alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts auf ihn mit angegriffenem Beschluss vom 22. August 2013 zurück. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde. Die [X.] gab eine erneute Stellungnahme ab. Das Jugendamt legte einen aktuellen Bericht über die Entwicklung des Kindes vor.

5

3. Mit angegriffenem Beschluss vom 2. April 2014 wies das [X.] die Beschwerde des Beschwerdeführers ohne mündliche Verhandlung und nochmalige Anhörung der Beteiligten zurück. In seiner Begründung führte das [X.] aus, dass keine triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründe im Sinne von § 1696 Abs. 1 BGB vorliegen würden, welche eine Abänderung der ursprünglichen Entscheidung angezeigt erscheinen ließen. § 1696 BGB verlange eine Steigerung der auch sonst maßgeblichen Kindeswohlerfordernisse, um eine Änderung der zumal erst kurze [X.] vorher getroffenen Regelung zu rechtfertigen.

6

Das Kind lebe seit Frühjahr 2013 bei der Mutter und werde von dieser versorgt und betreut. Allein diesen tatsächlichen Verhältnissen komme aus der maßgeblichen Sicht und nach dem [X.]empfinden eines fünfeinhalbjährigen Kindes die Qualität einer sehr langfristig verfestigten Kontinuität zu, die bereits nachdrücklich für die Aufrechterhaltung der Betreuungssituation spreche.

7

Dass der Junge von seiner Halbschwester getrennt sei, führe zu keiner anderen Betrachtung. Der [X.] habe dies bereits im Ausgangsverfahren berücksichtigt und festgestellt, dass ein relativ großer Altersunterschied zwischen den Kindern bestehe und großzügige Umgangsregelungen ausreichend Raum für Kontakte lassen würden. Die tatsächlichen Verhältnisse seien insoweit unverändert. Das Vorbringen des Beschwerdeführers, die Mutter führe die Förderung des Kindes nicht fort, sei durch die im Beschwerdeverfahren getroffenen Feststellungen widerlegt. Dass der [X.] sich nach Aussage der [X.] in direkten Befragungen nach dem favorisierten Lebensmittelpunkt dahingehend geäußert hatte, eher beim Beschwerdeführer leben zu wollen, führt nach Ansicht des [X.]s ebenfalls nicht zu einer anderen Beurteilung. Der Kindeswille sei altersbedingt ohnehin nur begrenzt berücksichtigungsfähig und scheide hier auch deshalb als maßgebliches Entscheidungskriterium aus, weil sich ein entsprechender Wille als nicht überprüfungsfähig erwiesen habe. Das Kind sei erst knapp sechs Jahre alt und befinde sich ersichtlich in einem ausgeprägten Loyalitätskonflikt und wolle es sich offenbar mit keinem der beiden Elternteile verderben.

8

Von einer nochmaligen Anhörung der Beteiligten wurde abgesehen, weil keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten seien.

9

4. Gegen den Beschluss des [X.]s erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge. Mit angegriffenem Beschluss vom 19. Juni 2014 wies das [X.] die [X.] zurück.

5. Mit der [X.]beschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG sowie eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG. Das [X.] habe den Änderungsmaßstab des § 1696 Abs. 1 BGB in verfassungswidriger Weise zu Lasten des Beschwerdeführers überspannt. Das [X.] habe die Bedeutung des [X.] verkannt und den nachhaltig geäußerten Willen des Jungen, zu dem Beschwerdeführer und zur Halbschwester zurückzukehren, unberücksichtigt gelassen. Das [X.] hätte das Kind anhören und den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Es hätte ein Sachverständigengutachten zur Kindeswohldienlichkeit einer Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den Beschwerdeführer einholen müssen. Auch habe das Gericht die enge Bindung des [X.] an seine Halbschwester nicht hinreichend berücksichtigt und die Auswirkungen einer Trennung von der Halbschwester in verfassungswidriger Weise nicht weiter aufgeklärt. Schließlich habe das [X.] bei der Zurückweisung des Antrags des Beschwerdeführers nicht maßgeblich auf den Kontinuitätsgrundsatz abstellen dürfen, da sich das Kind bei der Mutter gerade nicht eingelebt und vor dem Wechsel in den Haushalt der Mutter im Frühjahr 2013 größtenteils beim Beschwerdeführer gelebt habe.

II.

Ein Annahmegrund nach § 93a Abs. 2 [X.] liegt nicht vor. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer insbesondere nicht in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG.

1. a) Der Schutz des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG, welches Vater und Mutter gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. [X.] 84, 168 <180>; 107, 150 <173>). In Fällen, in denen Fachgerichte - wie hier - nach der Trennung der Eltern auf Antrag eines Elternteils über die künftige Wahrnehmung der elterlichen Sorge entschieden haben, beschränkt sich die Kontrolle des [X.] darauf zu prüfen, ob die Fachgerichte die Tragweite der betroffenen Grundrechte grundlegend verkannt haben. Bei fehlendem Einvernehmen der Eltern bleibt es in erster Linie dem [X.] vorbehalten zu beurteilen, inwieweit nach § 1671 Abs. 1 BGB die gemeinsame Sorge aufgehoben und welchem Elternteil die [X.] übertragen werden soll (vgl. dazu im Einzelnen zuletzt [X.], Beschluss der [X.] des Ersten [X.]s vom 16. April 2014 - 1 BvR 3360/13 -, juris, Rn. 7 f.). Auch die Beurteilung, ob eine nach § 1671 BGB getroffene Sorgerechtsregelung nach § 1696 Abs. 1 BGB abgeändert werden soll, obliegt in erster Linie dem [X.]. Nach § 1696 Abs. 1 BGB müssen triftige, das Wohl des Kindes nachhaltig berührende Gründe vorliegen, welche eine Änderung der ursprünglichen Regelung angezeigt erscheinen lassen. Diese Regelung ist verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Ersten [X.]s vom 10. September 2009 - 1 BvR 1248/09 -, juris, Rn. 17; stRspr). Sie stellt im Interesse des Kindes aus [X.] sicher, dass eine einmal getroffene Sorgerechtsentscheidung, obgleich sie nicht in materielle Rechtskraft erwächst, nicht beliebig und jederzeit, sondern erst nach Erreichen der genannten [X.] modifizierbar ist.

b) Wie in sonstigen Sorgerechtsverfahren ist auch im Abänderungsverfahren nach § 1696 Abs. 1 BGB der Wille des Kindes zu berücksichtigen, soweit dies mit seinem Wohl vereinbar ist. [X.] bleibt es grundsätzlich dem erkennenden Gericht überlassen, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. [X.] 55, 171 <182>). Insbesondere müssen die Gerichte nicht immer ein Sachverständigengutachten einholen, es kann ausreichen, dass sie anderweitig über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen (vgl. [X.]K 9, 274 <279>).

2. Die angegriffenen Entscheidungen sind den genannten Maßstäben gerecht geworden.

a) Das [X.] hat sich mit den widerstreitenden Positionen ausführlich und sorgfältig auseinandergesetzt und seine Entscheidung in erster Linie auf den Kontinuitätsgedanken gestützt. Dem Interesse des Kindes an der Stabilität seiner Lebensverhältnisse besondere Bedeutung beizumessen, ist einfachrechtlich durch den strengen Abänderungsmaßstab des § 1696 Abs. 1 BGB geboten und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Selbst eine strenge Handhabung dieses Maßstabs begegnet, jedenfalls soweit es um einen Obhutswechsel geht, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Bedürfnis nach Kontinuität hat das [X.] hier nicht deshalb fehlerhaft gewertet, weil der [X.] vor dem Umzug in den mütterlichen Haushalt im Frühjahr 2013 überwiegend beim Beschwerdeführer gelebt hat. Der dem § 1696 Abs. 1 BGB zugrunde liegende Kontinuitätsgedanke bezieht sich auf den [X.]raum nach der sorgerechtlichen Ausgangsentscheidung, in dem das Kind hier bei der Mutter lebte.

b) Dass das [X.] keine durchgreifenden Gründe gesehen hat, die für einen erneuten Wechsel des Kindes in den Haushalt des Beschwerdeführers und damit für eine Durchbrechung des [X.] sprechen würden, ist verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden.

Der Gedanke der Geschwisterbindung gebietet von [X.] wegen keine andere Entscheidung. Das [X.] hat nachvollziehbar dargelegt, dass dies bereits im Ausgangsverfahren berücksichtigt und nicht für durchschlagend erachtet wurde und dass eine zwischenzeitliche Änderung der für die ursprüngliche Entscheidung maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse hinsichtlich der Trennungssituation der Halbgeschwister offensichtlich nicht vorliege.

Auch die Ausführungen des [X.]s zur Förderungsbereitschaft und -eignung der Mutter lassen nicht auf eine Verkennung der Grundrechte des Beschwerdeführers schließen.

Dass das Gericht den Willensbekundungen des Kindes, beim Vater leben zu wollen, keine entscheidende Bedeutung beigemessen hat, bewegt sich ebenfalls im verfassungsrechtlich vertretbaren Rahmen. Das [X.] hat nachvollziehbar ausgeführt, dass das Kind erst knapp sechs Jahre alt ist und sich in einem gravierenden Loyalitätskonflikt befindet, so dass dem aktuell gegenüber der [X.] geäußerten Kindeswillen, wonach der Junge derzeit lieber beim Beschwerdeführer leben möchte, nur eine abgeschwächte Bedeutung zukommt. Dass das [X.] den [X.] hier im Verhältnis zu den Willensbekundungen des Kindes einen besonderen Stellenwert eingeräumt hat, lässt nicht auf eine Verkennung von Grundrechten schließen. Ihm ist auch nicht vorzuwerfen, den Willen des Kindes nicht hinreichend erforscht und insofern keine ausreichende Sachverhaltsaufklärung betrieben zu haben. Das [X.] hat sich mit den vorliegenden Erkenntnisquellen auseinandergesetzt und dabei sowohl die zahlreichen Berichte der [X.] als auch die Stellungnahmen des [X.] und die Erziehungsberichte der Kindertagesstätte in seine Prüfung miteinbezogen. Auf eine Anhörung des Kindes hat das [X.] zwar verzichtet, weil es insoweit keine weiteren Erkenntnisse erwartete. Dies ist jedoch vor der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Annahme, angesichts der Umstände des Falles komme der Willensbekundung des Kindes gegenüber dem [X.] ohnehin nur begrenzte Bedeutung zu, konsequent. Vor diesem Hintergrund war auch die Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens von [X.] wegen nicht angezeigt.

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2102/14

22.09.2014

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 19. Juni 2014, Az: 4 UF 158/13, Beschluss

Art 6 Abs 2 GG, § 1696 Abs 1 S 1 BGB, § 1696 Abs 2 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 22.09.2014, Az. 1 BvR 2102/14 (REWIS RS 2014, 2762)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 2762

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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