Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.07.2021, Az. 2 AZR 193/21

2. Senat | REWIS RS 2021, 3843

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Gegenstand

Nicht rechtskräftige Aufhebung der Zustimmung des Integrationsamts zur außerordentlichen Kündigung


Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 6. Oktober 2020 - 8 [X.]/19 - aufgehoben.

2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung sowie einer außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist.

2

Die einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Klägerin arbeitete seit dem [X.] bei der [X.]. Diese beantragte mit Schreiben vom 23. August 2018 die Zustimmung des [X.] zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung und (vorsorglichen) außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist. Das Integrationsamt eröffnete der [X.] am 7. September 2018, dass wegen Fristablaufs nach § 174 Abs. 3 SGB IX die Zustimmung als erteilt gelte.

3

Die [X.] kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit zwei am selben Tag zugegangenen Schreiben vom 10. September 2018 unter Berufung auf verhaltensbedingte Gründe außerordentlich fristlos sowie vorsorglich außerordentlich mit Auslauffrist zum 31. März 2019.

4

Die Klägerin legte gegen die Zustimmung des [X.] zu den Kündigungen Widerspruch ein. Mit einem Abhilfebescheid vom 21. Februar 2019 hob das Integrationsamt den „[X.] vom 07.09.2018“ auf und versagte die Zustimmung zu den Kündigungen, da die [X.] die Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX nicht eingehalten habe. Hiergegen brachte die [X.] eine Klage vor dem Verwaltungsgericht an, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] noch rechtshängig war.

5

Mit ihrer rechtzeitig beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Rechtswirksamkeit der Kündigungen vom 10. September 2018 gewandt und behauptet, ein dienstliches Fehlverhalten liege nicht vor. Der Personalrat und die Schwerbehindertenvertretung seien nicht ordnungsgemäß angehört worden. Die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB und des § 174 Abs. 2 SGB IX sei nicht gewahrt.

6

Die Klägerin hat beantragt

        

1.    

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die außerordentliche fristlose Kündigung der [X.] vom 10. September 2018 aufgelöst ist;

        

2.    

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung der [X.] vom 10. September 2018 mit [X.] Auslauffrist zum 31. März 2019 aufgelöst wird.

7

Die [X.] hat die Abweisung der Klage beantragt.

8

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision verfolgt die [X.] ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision hat Erfolg. Mit der gegebenen Begründung durfte das [X.] die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende erstinstanzliche Urteil nicht zurückweisen. Ob das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigungen vom 10. September 2018 aufgelöst worden ist, kann der [X.] nicht selbst entscheiden. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

I. Die Annahme des [X.]s, die Kündigungen seien schon deshalb nach § 134 BGB iVm. § 168 [X.] nichtig, da der „Bescheid vom 7. September 2018“ auf den Widerspruch der Klägerin aufgehoben wurde, auch wenn dieser [X.] noch nicht rechtskräftig, sondern mit einer verwaltungsgerichtlichen Klage von der Beklagten angefochten worden ist, erweist sich als rechtsfehlerhaft.

1. Allerdings bedarf die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin durch die Beklagte gemäß §§ 168, 174 Abs. 1 [X.] der vorherigen Zustimmung des [X.], da sie einem schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 [X.] gleichgestellt ist. Auf gleichgestellte behinderte Menschen werden nach § 151 Abs. 1 und Abs. 3 [X.] die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen des Teils 3 des [X.] - mit Ausnahme des § 208 [X.] (Zusatzurlaub) und des Kapitels 13 des [X.] (Unentgeltliche Beförderung) - angewendet. Dazu zählen auch die Kündigungsschutzbestimmungen in Kapitel 4 (§§ 168 bis 175 [X.]; vgl. auch [X.] 11. Juni 2020 - 2 [X.] - Rn. 18).

2. Die Zustimmung des [X.] zu den beabsichtigten Kündigungen der Beklagten gilt gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 [X.] als erteilt, da das [X.] auf den entsprechenden Antrag der Beklagten vom 23. August 2018 bis zum Ablauf des 6. September 2018 keine Entscheidung getroffen hat.

3. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts spielt es keine Rolle, dass das [X.] auf den Widerspruch der Klägerin mit [X.] vom 21. Februar 2019 den Ausgangsbescheid aufgehoben und die Zustimmung zu den außerordentlichen Kündigungen versagt hat, da der [X.] noch nicht rechtskräftig ist.

a) Liegt eine Zustimmung des [X.] zur Kündigung vor, haben die Arbeitsgerichte dies ihren Entscheidungen zugrunde zu legen. Das gilt sowohl für ausdrückliche Entscheidungen des [X.] nach § 174 Abs. 3 Satz 1 [X.] als auch für die Zustimmungsfiktion des § 174 Abs. 3 Satz 2 [X.] (vgl. auch zum Folgenden [X.] 11. Juni 2020 - 2 [X.] - Rn. 31).

aa) Die [X.] von Verwaltungsakten hat zur Folge, dass die Gerichte aller [X.] an ihr Bestehen und ihren Inhalt gebunden sind, selbst wenn sie rechtswidrig sind, soweit dem Gericht nicht die Kontrollkompetenz eingeräumt ist ([X.] 8. Mai 2018 - 9 [X.] - Rn. 33; 14. September 2011 - 10 [X.] - Rn. 19). Das folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG und § 43 VwVfG bzw. § 39 [X.] Ein (rechtswirksamer) Verwaltungsakt ist daher grundsätzlich von allen Staatsorganen zu beachten und ihren Entscheidungen als gegeben zugrunde zu legen ([X.]Rspr., vgl. [X.] 8. Mai 2018 - 9 [X.] - aaO; BVerwG 30. Januar 2003 - 4 CN 14.01 - zu 1 der Gründe, BVerwGE 117, 351). Die [X.] entfällt nur, wenn der Verwaltungsakt nichtig ist ([X.] 8. Mai 2018 - 9 [X.] - aaO; 14. September 2011 - 10 [X.] - aaO).

bb) Gemäß § 171 Abs. 4 [X.] haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des [X.] keine aufschiebende Wirkung, worauf im Übrigen schon das Schreiben des [X.] vom 7. September 2018 hinweist. Das bedeutet, dass die durch das [X.] einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung - vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit - so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist. Für die Berechtigung des Arbeitgebers, auf der Grundlage des Zustimmungsbescheids die Kündigung zunächst zu erklären, ist es folglich ohne Bedeutung, ob die Zustimmung vom Widerspruchsausschuss oder einem Gericht aufgehoben wird, solange die betreffende Entscheidung nicht [X.] bzw. rechtskräftig ist (vgl. [X.] 23. Mai 2013 - 2 [X.] - Rn. 22 f., 25, [X.]E 145, 199; APS/[X.] 6. Aufl. [X.] § 168 Rn. 37 und § 171 Rn. 11; [X.]/[X.] 21. Aufl. [X.] § 168 Rn. 14 und § 171 Rn. 4; [X.]/Löwisch 11. Aufl. Vor § 1 Rn. 213; [X.]/[X.] 12. Aufl. §§ 168 - 173 [X.] Rn. 122 und 124, anders hingegen Rn. 123 am Ende). Wird die Zustimmungsentscheidung erst nach rechtskräftiger Abweisung der Kündigungsschutzklage [X.] oder rechtskräftig aufgehoben, steht dem Arbeitnehmer ggf. die Restitutionsklage nach § 580 ZPO offen ([X.] 23. Mai 2013 - 2 [X.] - Rn. 24, aaO).

cc) Diese Grundsätze hat das [X.] nicht beachtet. Es übersieht, dass sich die Beklagte nach § 171 Abs. 4 [X.] bis zu einer [X.] bzw. rechtskräftigen Aufhebung der durch Fristablauf eingetretenen Zustimmung des [X.] auf diese berufen kann. Zu Unrecht hat sich das [X.] zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung auf ein Urteil des Sechsten [X.]s des [X.] vom 25. November 1980 (- 6 [X.] - [X.]E 34, 275) berufen. In diesem wird gerade im Einklang mit den vorstehend wiedergegebenen Rechtssätzen ausgeführt, dass (nur) der Arbeitnehmer nach rechtskräftiger Abweisung seiner Kündigungsschutzklage und einer nachfolgenden [X.] oder rechtskräftigen Aufhebung der Zustimmungsentscheidung die Möglichkeit zur Erhebung einer Restitutionsklage hat.

b) Die Zustimmung des [X.] zu den Kündigungen ist (bisher) nicht rechtskräftig aufgehoben. Nach den Feststellungen des [X.]s hat die Beklagte gegen den aufhebenden [X.] Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben, die zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch anhängig war.

II. Die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO), da der [X.] nicht selbst entscheiden kann.

1. Im fortgesetzten Berufungsverfahren wird das [X.] insbesondere zu prüfen haben, ob ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung vorliegt und der Personalrat sowie die Schwerbehindertenvertretung vor deren Ausspruch ordnungsgemäß beteiligt wurden, was es bisher - nach seiner [X.] konsequent - unterlassen hat. Ferner hat es auch über die Kosten des Revisions- und des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden.

2. Dagegen bedarf die Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB keiner Prüfung durch das [X.], sondern nur die des § 174 Abs. 5 [X.] ([X.] 11. Juni 2020 - 2 [X.] - Rn. 26, 32). Ebenso wenig besteht eine Prüfungskompetenz des [X.]s, ob die Beklagte die Frist des § 174 Abs. 2 [X.] eingehalten hat ([X.] 11. Juni 2020 - 2 [X.] -Rn. 31).

        

    Koch    

        

    Niemann    

        

    Schlünder    

        

        

        

    Krüger    

        

    B. Schipp     

                 

Meta

2 AZR 193/21

22.07.2021

Bundesarbeitsgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Frankfurt, 12. März 2019, Az: 5 Ca 6363/18, Urteil

§ 168 SGB 9 2018, § 171 Abs 4 SGB 9 2018, § 174 Abs 1 SGB 9 2018, § 174 Abs 3 SGB 9 2018, § 134 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.07.2021, Az. 2 AZR 193/21 (REWIS RS 2021, 3843)

Papier­fundstellen: NJW 2021, 3069 REWIS RS 2021, 3843

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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