Bundessozialgericht, Urteil vom 08.09.2010, Az. B 11 AL 4/09 R

11. Senat | REWIS RS 2010, 3581

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Aufhebung der Arbeitslosengeldbewilligung - Verfügbarkeit - Erreichbarkeit des Arbeitslosen - Nichtmitteilung der neuen Wohnanschrift - Beweiserhebung - Zeugenvernehmung - Beweislastumkehr


Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] [X.]s vom 19. Dezember 2008 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld ([X.]) und die Erstattung der überzahlten Leistungen (einschließlich Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen) im Zeitraum vom [X.] bis 17.1.1999 in Höhe von insgesamt 23 446,35 DM = 11 987,93 Euro.

2

Die 1941 geborene Klägerin stand bei der [X.] seit [X.] im [X.]-Bezug (Bescheid vom 1.10.1997). In ihrem Antrag auf [X.] vom [X.] hatte sie als Wohnanschrift die Adresse "H.-Straße “ in [X.] angegeben.

3

Ein Änderungsbescheid und ein Leistungsnachweis vom 8.1.1999 gelangten bei der [X.] am 18.1.1999 mit dem [X.] "unbekannt verzogen" in den Postrücklauf. Die Beklagte stellte daraufhin die Zahlung von [X.] ein. Der Bescheid vom [X.] sowie ein weiterer Leistungsnachweis vom [X.] kamen ebenfalls mit dem [X.] "unbekannt verzogen" in den Postrücklauf (Retourpost vom [X.] und vom 5.2.1999).

4

Am 2.2.1999 meldete sich die Klägerin unter der Wohnanschrift "[X.] “ in [X.] erneut arbeitslos und beantragte die Fortzahlung von [X.], welches die Beklagte ab diesem Tag wiederbewilligte (Bescheid vom 16.2.1999). An diese Anschrift versandte die Beklagte erneut den Aufhebungsbescheid vom 22.1.1999 und den Leistungsnachweis vom [X.]. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie sei bereits zum [X.] von der H.-Straße in die [X.] umgezogen und habe dies dem zuständigen Sachbearbeiter [X.] mitgeteilt. Nachdem dieser die Angaben der Klägerin auf telefonische Nachfrage der [X.] nicht bestätigte, hob die Beklagte die Bewilligung von [X.] ab [X.] mit der Begründung auf, die Klägerin sei postalisch nicht erreichbar gewesen, und verfügte die Erstattung der überzahlten Leistungen in Höhe von 23 446,35 DM (Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 31.1.2000, Widerspruchsbescheid vom 8.5.2000).

5

Die Klage mit der Begründung, die neue Anschrift sei dem Sachbearbeiter [X.] bei der Meldung am [X.] mitgeteilt worden, blieb erfolglos (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <[X.]> vom 26.9.2005). Die Berufung der Klägerin hat das [X.] ([X.]) zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Auf der Grundlage des § [X.] ([X.]) habe die Beklagte die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von [X.] zu Recht verfügt, da die Klägerin unter der von ihr benannten Anschrift "H.-Straße “ in [X.] ab dem [X.] nicht mehr erreichbar gewesen sei. Die Klägerin sei daher ab [X.] nicht verfügbar gewesen. Unerheblich sei, ob die Klägerin, wie sie behauptet habe, einen Postnachsendeauftrag gestellt habe. Dass sie ihren Umzug der [X.] rechtzeitig persönlich mitgeteilt habe, lasse sich nicht feststellen. Die Zeugin [X.], die tatsächlich den Beratungstermin am [X.] betreut habe, habe keine Erinnerung an die Klägerin. Der von der Klägerin als Zeuge benannte Arbeitsvermittler [X.] habe mangels Verhandlungsfähigkeit nicht befragt werden können. Seine Vernehmung sei darüber hinaus auch entbehrlich gewesen, weil er sich, wie die Klägerin im [X.] angegeben habe, nach seiner Erklärung ihr gegenüber im [X.] 2007 an die damaligen Vorgänge nicht mehr habe erinnern können. Da die Pflicht zur Unterrichtung über einen Umzug allein in die Sphäre des Arbeitslosen falle, komme eine Umkehr der Beweislast in Betracht, sodass dieser eine nicht aktenkundige Unterrichtung nachweisen müsse. Dies gelte jedenfalls in den Fällen, in denen sich - wie vorliegend - über die reine Behauptung des Arbeitslosen, eine mündliche Mitteilung gemacht zu haben hinaus, keinerlei weitere Anhaltspunkte aus den Akten ergeben würden (Urteil vom 19.12.2008).

6

Mit der vom [X.] zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes und von [X.]. Das [X.] habe nicht auf die Vernehmung des benannten Zeugen [X.] verzichten dürfen. Es sei vorgetragen und unter Beweis gestellt worden, dass sie - die Klägerin - anlässlich ihrer Vorsprache am [X.] auf dem undatierten [X.] der [X.] im Adressfeld handschriftlich die neue Adresse vermerkt und dieses Schreiben mit diesem Vermerk dem zuständigen Sachbearbeiter vorgelegt habe. Sie sei ihrer Verpflichtung zur Angabe vollständiger Angaben und Mitteilung ihrer Wohnsitzänderung nachgekommen. In welcher Form die Beklagte die Wohnanschriftenänderung zur Kenntnis nehme und in ihren Unterlagen vermerke, sei deren alleinige Angelegenheit und liege daher auch allein in deren Sphäre.

7

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des [X.] vom 19. Dezember 2008 und den Gerichtsbescheid des [X.] vom 26. September 2005 sowie die Bescheide der [X.] vom 22. Januar 1999 und 31. Januar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 2000 aufzuheben.

8

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ).

Ob die Beklagte zu Recht die Bewilligung des [X.] wegen fehlender Erreichbarkeit (hierzu unter 2) aufgehoben und die überzahlten Leistungen zurückgefordert hat, lässt sich nach den bisherigen Feststellungen des [X.] nicht abschließend beantworten. Insoweit hat die Klägerin in einer den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG noch entsprechenden Weise zutreffend gerügt, dass das [X.] die zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft und zuungunsten der Klägerin eine Beweislastumkehr angenommen hat (hierzu unter 3).

1. Gegenstand des Verfahrens sind der Aufhebungsbescheid der [X.] vom [X.], der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 31.1.2000 sowie der Widerspruchsbescheid vom 8.5.2000. Bei verständiger Würdigung ihres Begehrens (vgl § 123 SGG) richtete sich der Widerspruch der Klägerin gegen den Leistungsnachweis vom [X.] unmissverständlich gegen die Leistungseinstellung, die die Beklagte mit dem Aufhebungsbescheid vom [X.] verfügt hatte. Demgemäß hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin im Termin vom [X.] seinen Sachantrag präzisiert. Das [X.] wird nach der Zurückverweisung der Sache folglich zu beachten haben, dass der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 31.1.2000 über § 86 SGG idF bis zum Inkrafttreten des [X.] ([X.] 2144) in das Vorverfahren gegen den Bescheid vom [X.] einbezogen ist (zur weiten Auslegung und entsprechenden Anwendung der korrespondierenden Vorschrift des § 96 SGG idF bis zum Inkrafttreten des [X.], [X.] 444, auf weitere Aufhebungsbescheide, in denen "im [X.] über dieselben Rechtsfragen" entschieden wurde vgl [X.], 175 = [X.]-4100 § 105 [X.]). Die Klägerin wendet sich also mit ihrer Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) sowohl gegen die von der [X.] verfügte Aufhebung der Bewilligung ab dem 18.1.1999 als auch gegen die spätere Aufhebung ab dem [X.] (bis einschließlich [X.]), die von der [X.] geltend gemachte Erstattung betreffend den Zeitraum vom [X.] bis einschließlich 17.1.1999 und zudem die Nichtzahlung von [X.] im Zeitraum vom 18.1.1999 bis [X.] (zur Möglichkeit der Beschränkung des Streitgegenstands vgl BSG, Urteil vom 17.11.2005 - [X.]/11 [X.] 55/04 R).

2. Dem [X.] ist darin zu folgen, dass Rechtsgrundlage für die Aufhebung der [X.]-Bewilligung § 330 Abs 3 [X.] ([X.]) iVm § 48 Abs 1 [X.] ist. Da der angefochtene Bescheid vom 31.1.2000 lediglich weitere Leistungszeiträume betrifft und nicht etwa während des Widerspruchsverfahrens den Ausgangsbescheid zu Ungunsten der Klägerin abgeändert hat, kann offen bleiben, ob insoweit § 45 [X.] anzuwenden wäre (vgl [X.], 274 = [X.]-1500 § 85 [X.] 1). Nach § 48 Abs 1 Satz 1 [X.] ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse ist der Verwaltungsakt nach § 330 Abs 3 Satz 1 [X.] iVm § 48 Abs 1 Satz 2 [X.] [X.] aufzuheben, wenn der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Maßgebend für die Dauerwirkung eines Verwaltungsaktes sind seine rechtlichen Wirkungen über den Zeitpunkt der Bekanntgabe bzw Bindungswirkung hinaus. Die Bewilligung von [X.] enthält einen solchen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ([X.], 109, 111 = [X.]-1300 § 48 [X.] 48 mwN). Wesentlich iS des § 48 Abs 1 Satz 1 [X.] ist jede für die bewilligte Leistung rechtserhebliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die dazu führt, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den Verwaltungsakt nicht mehr erlassen dürfte ([X.], 111, 112 = [X.] 1300 § 48 [X.] 19; [X.], 109, 111 = [X.]-1300 § 48 [X.] 48). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen richtet sich damit nach dem für die Leistung maßgeblichen materiellen Recht.

a) Der Klägerin stand deshalb für die Zeit ab [X.] ein Anspruch auf [X.] nicht mehr zu, wenn sie die Anspruchsvoraussetzung "arbeitslos" nach § 117 Abs 1 [X.] 1 [X.] idF des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes ([X.]) vom [X.], [X.] 594, nicht mehr erfüllte. Was unter "arbeitslos" im Sinne des Gesetzes zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber in der "[X.]" der §§ 118, 119 [X.] idF des Ersten [X.]-Änderungsgesetzes vom 16.12.1997, [X.] 2970, geregelt ([X.], 172, 175 = [X.]-4300 § 119 [X.] 3). Arbeitslosigkeit setzt danach neben [X.] auch eine [X.] des Arbeitslosen voraus (§ 118 Abs 1 [X.]). Eine Beschäftigung sucht nach § 119 Abs 1 [X.], wer alle Möglichkeiten nutzt und nutzen will, um seine [X.] zu beenden, und den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung steht (Verfügbarkeit). Merkmal der Verfügbarkeit ist [X.] die Arbeitsfähigkeit des Arbeitslosen (§ 119 Abs 2 [X.]), die [X.] nur dann gegeben ist, wenn der Arbeitslose den Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann und darf (§ 119 Abs 3 [X.] 3 [X.]). Diese Anspruchsvoraussetzung hat der Verwaltungsrat der [X.] (jetzt [X.], <[X.]>) durch autonome Satzung aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung der §§ 152 [X.], 376 Abs 1 Satz 1 [X.] idF des [X.] näher geregelt.

b) Nach § 1 Abs 1 Satz 1 Erreichbarkeitsanordnung vom 23.10.1997 (<[X.]>, [X.] 1997 S 1685) muss der Arbeitslose in der Lage sein, unverzüglich Mitteilungen des Arbeitsamtes persönlich zur Kenntnis zu nehmen, das Arbeitsamt aufzusuchen, mit möglichen Arbeitgebern oder Trägern einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme in Verbindung zu treten und eine vorgeschlagene Arbeit anzunehmen oder an einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme teilzunehmen. Dazu hat der Arbeitslose nach § 1 Abs 1 Satz 2 [X.] sicherzustellen, dass das Arbeitsamt ihn persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der ihm benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann. Das ist nicht gewährleistet, wenn der Arbeitslose seinen Wohnsitz verlegt, ohne dem Arbeitsamt den Wohnsitzwechsel mitzuteilen. Die Obliegenheit eines Arbeitslosen, den Wechsel des Wohnsitzes dem Arbeitsamt mitzuteilen, ergibt sich hiernach aus § 60 Abs 1 Satz 1 [X.] Sozialgesetzbuch Erstes Buch ([X.]), wonach Leistungsbezieher für die Leistung erhebliche Änderungen in den Verhältnissen dem zuständigen Leistungsträger unverzüglich mitzuteilen haben.

c) Ob die Klägerin dieser Obliegenheit genügt hat, lässt sich nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen nicht hinreichend sicher beurteilen. Das [X.] hat ausgeführt, dass die Klägerin unter der von ihr im Leistungsantrag angegebenen Anschrift "[X.]“ in O. ab [X.] nicht mehr erreichbar war. Zutreffend hat es dabei zunächst klargestellt, dass ein bei der Post gestellter Nachsendeauftrag nicht ausreicht, weil arbeitslose Leistungsbezieher die Obliegenheit trifft, dem zuständigen Arbeitsamt einen Wohnsitzwechsel (auch innerhalb desselben Wohnortes) persönlich und unverzüglich anzuzeigen (vgl [X.], 172, 178 = [X.]-4300 § 119 [X.] 3; BSG [X.]-4300 § 119 [X.] 4) und die Klägerin im Zeitpunkt ihres Umzuges nicht zum Personenkreis der älteren Arbeitslosen zählte, die [X.] unter den erleichterten Bedingungen des § 428 [X.] beziehen (vgl zu den diesbezüglich abgesenkten Anforderungen an die Verfügbarkeit [X.], 43, 45 ff = [X.] 4-4300 § 428 [X.]). In tatsächlicher Hinsicht durfte sich das [X.] indessen nicht davon überzeugen (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), dass die Klägerin ihren Umzug der [X.] nicht rechtzeitig mitgeteilt hatte. Die vom [X.] zugrunde gelegten Umstände, in der Leistungsakte und in den Datenbeständen der [X.] sei die neue Anschrift erst nach der persönlichen Vorsprache am 2.2.1999 dokumentiert worden, die von der [X.] versandten Bescheide und Leistungsnachweise seien mit dem Vermerk "unbekannt verzogen" in den [X.] gelangt, das von der Klägerin vorgelegte [X.] sei von ihr selbst im Adressfeld abgeändert worden, die am [X.] zuständige Beraterin [X.] (nach Namensänderung P.) habe den Arbeitsablauf einer Beratungssit[X.]tion nachvollziehbar geschildert, sich aber nicht an die Vorsprache der Klägerin erinnern können und der von der Klägerin benannte Zeuge [X.] sei nicht verhandlungsfähig, seine Vernehmung aber auch entbehrlich gewesen, weil er eine mündlich mitgeteilte Anschriftenänderung am [X.] nicht entgegen genommen haben könne und sich nach seinen Angaben der Klägerin gegenüber an die damaligen Vorgänge ohnehin nicht erinnern könne, tragen diese Überzeugung nicht. Das [X.] hat nicht sämtliche Ermittlungsmöglichkeiten zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen ausgeschöpft, insbesondere den von der Klägerin benannten Zeugen [X.] nicht schriftlich vernommen.

3. Der in § 103 SGG festgelegte Untersuchungsgrundsatz verpflichtet die [X.]e, die entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln, weil das sozialgerichtliche Verfahren weder eine subjektive Beweisführungslast, noch eine objektive Beibringungsfrist für Beweismittel kennt (vgl [X.]/[X.], Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl. 2008, III. Kapitel, Rd[X.]6). Im Rahmen der Amtsermittlung sind alle verfügbaren Erkenntnisquellen auszuschöpfen, um tatsächliche Feststellungen zu dem nach den anzuwendenden Rechtsgrundlagen relevanten Tatsachenstoff treffen zu können. Im Rahmen der Pflicht zur eingehenden Erforschung des Sachverhalts und nach dem Grundsatz der freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu gewinnenden Überzeugung (§§ 103, 128 Abs 1 SGG) obliegt es den [X.]en, alle Besonderheiten des konkreten Falles in tatsächlicher Hinsicht zu erfassen und zu würdigen. Erst wenn sich nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten entscheidungserhebliche Tatsachen nicht mehr feststellen lassen, stellt sich die Frage der objektiven Beweis- bzw [X.] (vgl [X.], 256, 258 f = [X.]-4100 § 119 [X.] 7, [X.], [X.] mwN; [X.], 238, 245 = [X.] 4-4220 § 6 [X.] 4; BSG, Urteil vom 21.3.2007 - [X.] [X.] 21/06 R). Beweisanträge binden das Gericht zwar nicht (§ 103 Satz 2 SGG), können die Amtsermittlung jedoch lenken und steuern. Erhebliche Beweisanträge dürfen deshalb nur unberücksichtigt bleiben, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel unerreichbar ist oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist (vgl BSG, Beschluss vom 16.3.2007 - B 11b [X.]/06 B; auch [X.], Urteil vom 27.7.2000 - V R 38/99; [X.], Urteil vom 4.4.2001 - VI R 209/98; [X.], Beschluss vom 19.8.2003 - [X.]/03; [X.], Beschluss vom [X.] - [X.]/05).

a) Hiernach hätte das [X.] dem Beweisantrag der Klägerin nachkommen und den benannten Zeugen [X.] schriftlich vernehmen müssen (§ 118 SGG iVm § 373 Abs 3 Zivilprozessordnung ). Denn der Zeuge war zum anberaumten mündlichen Verhandlungstermin am 19.12.2008 ausweislich des vorgelegten nervenärztliches Attests seiner ihn behandelnden Psychiaterin vom 17.11.2008 zwar bis auf weiteres verhandlungsunfähig. Es bestand aber wegen der attestierten Verhandlungsunfähigkeit keine [X.] im Übrigen. Zu Unrecht hat das [X.] den Zeugen deshalb im Ergebnis als unerreichbares Beweismittel bewertet unabhängig davon, ob und mit welcher zeitlichen Prognose die Verhandlungsunfähigkeit durch amtsärztliches Attest hätte belegt werden müssen (vgl hierzu [X.], 562) und die attestierte Dauer der Verhandlungsunfähigkeit von der Revision insoweit substanziiert angegriffen worden ist.

b) Das [X.] durfte von der Vernehmung des Zeugen [X.] zu dem Beweisthema auch nicht deshalb Abstand nehmen, weil es sich um eine Ermittlung auf unzureichender Tatsachenbasis gehandelt hätte, zu der die Gerichte nicht verpflichtet sind. Die Ablehnung des Beweises für beweiserhebliche Tatsachen ist insoweit nur zulässig, wenn die Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann oder wenn die Bezeichnung der Tatsachen zwar in das Gewand einer bestimmt aufgestellten Behauptung gekleidet, gleichwohl aber nur auf's Geratewohl gemacht sind. Bei solchen gleichsam "ins Blaue" aufgestellten Behauptungen ist ein Beweisantrag rechtsmissbräuchlich (vgl dazu [X.], 140, 144 = [X.]-2200 § 1248 [X.] 12; [X.], 132, 138 = [X.]-4100 § 128 [X.] 10). Nach den insoweit unangegriffenen Feststellungen der Vorinstanz (§ 163 SGG) waren die näheren Angaben der Klägerin zum Beweisthema allerdings nicht frei von Widersprüchen im Detail. Im [X.] blieb jedoch das Beweisthema erkennbar ausreichend bezeichnet, nämlich die Angabe der [X.] gegenüber dem Sachbearbeiter [X.] bei einem der wiederholten Besuche der Klägerin im Arbeitsamt während des laufenden [X.]-Bezugs. Unabhängig davon, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin auf gerichtliche Anfrage mehrfach schriftsätzlich an der Vernehmung des Zeugen [X.] festgehalten hatte, konnte das [X.] hiernach umso weniger von einer weiteren Beweiserhebung absehen, als die Sitzungsprotokolle nicht ausweisen, dass es, die im Termin anwesende Klägerin im Rahmen der Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts zu den näheren Einzelheiten persönlich befragt hätte.

c) Wegen des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117 SGG, hierzu zuletzt BSG [X.] 4-1500 § 128 [X.] 7) durfte das [X.] die Vernehmung des Zeugen [X.] auch nicht durch die protokollierte Angabe der Klägerin ersetzen, im [X.] 2007 habe ihr der Sachbearbeiter [X.] mitgeteilt, sich an die Ereignisse in den Jahren 1998 und 1999 nicht mehr erinnern zu können. Ebenso verhält es sich mit der Verwertung der im Verwaltungsverfahren von der [X.] beim Sachbearbeiter [X.] telefonisch eingeholten Auskunft. Gegen die Verwertung mittelbar erlangter [X.] bestehen in der Regel keine rechtlichen Bedenken, wenn nicht ein Beteiligter die unmittelbare Vernehmung des Zeugen beantragt (vgl zum [X.], Urteil vom 17.2.1981 - 7 [X.]/79 - nur gekürzt abgedruckt in [X.] 4100 § 119 [X.] 14). Das war hier indessen der Fall. Anhaltspunkte dafür, dass eine richterliche Vernehmung des Zeugen mit Hinweis auf die Wahrheitspflicht von vornherein völlig wertlos ist, bestehen nicht (vgl BSG, Urteil vom 19.11.1965 - 1 RA 101/63, nur gekürzt abgedruckt in [X.] [X.] 74 zu § 128 SGG). Dies gilt vor allem, weil ausweislich der vom [X.] Bezug genommenen Verwaltungsakten der [X.] zwar nicht unter dem [X.] (wie von der Klägerin angegeben), wohl aber am 12.1.1998 ein Beratungsgespräch mit [X.] stattgefunden hat.

d) Erst und nur dann, wenn sich das [X.] nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts vom Vorliegen einer entscheidungserheblichen Tatsache nicht zu überzeugen vermag, stellt sich die Frage der Beweislastverteilung (vgl [X.], 256, 258 f = [X.]-4100 § 119 [X.] 7, [X.], [X.] mwN; [X.], 238, 245 = [X.] 4-4220 § 6 [X.] 4 Rd[X.] 33 mwN; BSG, Urteil vom 21.3.2007 - [X.] [X.] 21/06 R). Für den Fall der Nichterweislichkeit einer rechtzeitigen Umzugsmeldung der Klägerin weist der Senat vorsorglich daraufhin, dass entgegen der Rechtsansicht des [X.] keine Umkehr der Beweislast unter Berücksichtigung der sog Sphärentheorie in Betracht zu ziehen ist.

Die [X.] einer Tatsache geht grundsätzlich zu Lasten des Beteiligten, der aus ihr eine ihm günstige Rechtsfolge herleiten will. Während denjenigen, der sich auf einen Anspruch beruft, die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen trifft, ist derjenige, der das geltend gemachte Recht bestreitet, für die rechtsvernichtenden, rechtshindernden oder rechtshemmenden Tatsachen beweispflichtig. Die Verteilung der Beweislast bestimmt sich nach der für den Rechtsstreit maßgeblichen materiell-rechtlichen Norm ([X.], 70, 72 f; [X.], 256, 260 = [X.]-4100 § 119 [X.] 7, [X.], [X.] mwN).

Bezogen auf die hier streitentscheidende Norm des § 48 Abs 1 [X.] bedeutet dies, dass die Beweis- bzw [X.] für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse gegenüber denjenigen Verhältnissen, die den ursprünglichen begünstigenden Verwaltungsakt rechtfertigten, grundsätzlich die Behörde trägt (vgl [X.], 57, 64 = [X.] 4-1300 § 48 [X.] 6; BSG [X.] 4-1500 § 103 [X.] 5; BSG, Urteil vom 24.5.2006 - [X.] [X.] 49/05 R; [X.], [X.], § 48 Rd[X.]2, Stand: Mai 2006; Schütze in [X.], [X.], 7. Aufl. 2010, § 48 Rd[X.] 9), weil sie den Wegfall einer Anspruchsvoraussetzung geltend macht. Zu beachten ist aber, dass die Beklagte nach diesen Grundsätzen die Beweislast allein für die (negative) Tatsache der unterbliebenen Meldung zu tragen hätte.

Eine Beweislastumkehr ist für bestimmte Fallgestaltungen anerkannt, in denen etwa der Gegner der beweisbelasteten [X.] den Beweis vereitelt oder erschwert oder die Beweisführung unmöglich ist, weil die zu beweisenden Tatsachen sich im Bereich des Gegners abgespielt haben und dieser an der ihm möglichen Sachverhaltsaufklärung nicht oder nicht rechtzeitig mitgewirkt hat (vgl insgesamt [X.], 57, 64 = [X.] 4-1300 § 48 [X.] 6; auch BSG [X.] 4-1500 § 128 [X.] 5), also etwa in Konstellationen, in denen in der persönlichen Sphäre oder in der Verantwortungssphäre des Arbeitslosen wurzelnde Vorgänge nicht mehr aufklärbar sind, dh wenn eine besondere Beweisnähe des Betroffenen vorliegt. Die in arbeitsförderungsrechtlichen Angelegenheiten zuständigen Senate haben dies vor allem bei unterlassenen Angaben zu Vermögenswerten bei der Antragstellung von Arbeitslosenhilfe ([X.]) angenommen ([X.], 238, 245f = [X.] 4-4220 § 6 [X.] 4; BSG, Urteil vom 24.5.2006 - [X.] [X.] 49/05 R; BSG, Urteile vom 13.9.2006 - [X.] [X.] 13/06 R - und - [X.] [X.] 19/06 R; BSG, Urteil vom 21.3.2007 - [X.] [X.] 21/06 R; BSG, Urteil vom 28.8.2007 - [X.]/7a [X.] 10/06 R). Diese Erwägungen sind auf die vorliegende Fallgestaltung indessen nicht übertragbar. Denn die Frage der (unterbliebenen) Meldung einer für den [X.]-Anspruch wesentlichen Änderung des Wohnsitzes berührt die Verantwortungssphäre des Arbeitslosen wie die der [X.] gleichermaßen. Die Beklagte ist - wie der vorliegende Fall zeigt - durchaus in der Lage, die Behauptung des Arbeitslosen, er habe seinen Wohnsitzwechsel rechtzeitig angezeigt, zu überprüfen. Die Beklagte kann ihre Akten und Datenbestände auf die Stichhaltigkeit dieser Behauptung sichten und Nachfragen an die zuständig gewesenen Abteilungen oder Sachbearbeiter richten. Dagegen besteht darüber hinaus weder Anlass noch Grund, der [X.] in diesem Zusammenhang eine lückenlose Dokumentation aller Gespräche und Erklärungen mit den Leistungsempfängern bindend abzuverlangen.

Hiervon ausgehend steht es dem [X.] im Rahmen seiner Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) frei, ohne Umkehr der Beweislast eine Meldepflichtverletzung durch die Klägerin zu bejahen, wenn es sich nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten von einer rechtzeitigen Meldung nicht zu überzeugen vermag.

4. Für den Fall der Meldepflichtverletzung wird das [X.] die weiteren Voraussetzungen einer Aufhebung wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse mit Wirkung für die Vergangenheit erneut zu prüfen haben, nämlich die mindestens grobe Fahrlässigkeit und die Einhaltung der Jahresfrist nach §§ 48 Abs 4 Satz 1, 45 Abs 4 Satz 2 [X.].

5. Das [X.] wird außerdem abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.

Meta

B 11 AL 4/09 R

08.09.2010

Bundessozialgericht 11. Senat

Urteil

Sachgebiet: AL

vorgehend SG Frankfurt, 26. September 2005, Az: S 15 AL 688/01, Gerichtsbescheid

§ 119 Abs 1 Nr 2 SGB 3 vom 16.12.1997, § 119 Abs 2 SGB 3 vom 16.12.1997, § 119 Abs 3 Nr 3 SGB 3 vom 16.12.1997, § 48 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 10, § 60 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB 1, § 1 Abs 1 S 1 ErreichbAnO vom 23.10.1997, § 1 Abs 1 S 2 ErreichbAnO vom 23.10.1997, § 103 SGG, § 117 SGG, § 118 SGG, § 373 Abs 3 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 08.09.2010, Az. B 11 AL 4/09 R (REWIS RS 2010, 3581)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3581

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