Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.07.2013, Az. 2 StR 47/13

2. Strafsenat | REWIS RS 2013, 4251

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Gegenstand

Gang der Hauptverhandlung: Entbehrlichkeit einer Mitteilung über Vorgespräche für eine Verfahrensverständigung; Anforderungen an die Revisionsrüge rechtsfehlerhaften Unterbleibens einer derartigen Mitteilung


Leitsatz

1. Einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO bedarf es nicht, wenn überhaupt keine oder nur solche Gespräche stattgefunden haben, die dem Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes vorgelagert und von ihm nicht betroffen sind.

2. Die Verfahrensrüge, es sei rechtsfehlerhaft keine Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO erfolgt, setzt den Vortrag voraus, dass tatsächlich Gespräche im Sinne dieser Vorschrift stattgefunden hatten und welchen Inhalt sie hatten.

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 27. September 2012 mit den Feststellungen aufgehoben im Fall II. 2 c der Urteilsgründe sowie im Gesamtstrafenausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchtem schweren sexuellen Missbrauch von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf die Sachrüge und auf Verfahrensrügen gestützten Revision.

2

Das Rechtsmittel hat auf die Sachrüge hin den aus der Urteilsformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet.

I.

3

Die Verfahrensrügen bleiben aus den Gründen der Antragsschrift des [X.] ohne Erfolg. Der näheren Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, das [X.] habe gegen § 243 Abs. 4 [X.] verstoßen.

4

1. Die Revision hat ausgeführt, der Vorsitzende habe entgegen § 243 Abs. 4 [X.] weder zu Beginn der Hauptverhandlung noch zu einem späteren Zeitpunkt mitgeteilt, ob und gegebenenfalls in welcher Form im Vorfeld der Hauptverhandlung [X.] stattgefunden hätten. Zwar sei es weder zu einer Verständigung nach § 257c [X.] noch zu einer unzulässigen "informellen Verständigung" gekommen. Dies schließe jedoch nicht aus, dass ohne Wissen des Angeklagten darauf abzielende Gespräche stattgefunden hätten. Hätte der Angeklagte den vom Gesetz vorgesehenen Hinweis erhalten, hätte er sein Einlassungsverhalten entsprechend einrichten können. Das gelte auch, wenn keine Gespräche stattgefunden haben sollten.

5

2. Die Rüge ist bereits deshalb unzulässig, weil die Revision keinen bestimmten Rechtsfehler behauptet:

6

a) Nach dem Wortlaut des § 243 Abs. 4 Satz 1 [X.] teilt der Vorsitzende mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 [X.] stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c [X.]) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Mitteilungspflicht nicht besteht, wenn keine auf eine Verständigung hinzielende Gespräche stattgefunden haben (vgl. [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10 = [X.], 72, 73 sowie Beschluss vom 20. Oktober 2010 - 1 [X.] = [X.], 202, 203; Meyer-Goßner, [X.], 56. Aufl., § 243 Rn. 18 a; a.A. ohne nähere Begründung [X.] in Löwe-Rosenberg, [X.], 26. Aufl., § 243 Rn. 52 c und [X.] 2013, 201, 206).

7

Das erklärt sich auch aus dem Sinn und Zweck der Mitteilungs- und Dokumentationspflichten. Diese bilden einen Schwerpunkt des [X.] und sollen die zentrale Vorschrift des § 257c [X.] flankieren und die Transparenz der Verständigung sowie die Möglichkeit einer effektiven Kontrolle durch die Öffentlichkeit, die Staatsanwaltschaft und das Rechtsmittelgericht gewährleisten (BT-Drucks. 16/12310 S. 8 f.). Erfasst werden dabei nicht nur der formale [X.] selbst, sondern auch die auf eine Verständigung abzielenden Vorgespräche. Die Gewährleistung einer "vollumfänglichen" Kontrolle verständigungsbasierter Urteile setzt umfassende Transparenz des Verständigungsgeschehens in der öffentlichen Hauptverhandlung voraus. Die Mitteilungs- und Dokumentationspflichten dienen der "Einhegung" der den zulässigen Inhalt von Verständigungen beschränkenden Vorschriften ([X.] NJW 2013, 1058 ff, 1064 Rn. 82 und 1066 Rn. 96). Wenn aber überhaupt keine auf eine Verständigung abzielende Gespräche stattgefunden haben, ist das Regelungskonzept des § 257c [X.] nicht tangiert. Soweit die Gesetzesmaterialien zur Änderung des § 78 Abs. 2 OWiG (BT-Drucks. 16/12310 S. 16) darauf hindeuten, § 243 Abs. 4 [X.] habe die Pflicht statuieren sollen, auch eine Nichterörterung mitzuteilen, hat dies im Gesetzestext letztlich keinen Ausdruck gefunden. Entgegen [X.] (in SK-[X.] 4. Aufl., § 243 Rn. 43) geht der [X.] nicht davon aus, dass dies auf einem bloßen Redaktionsversehen des Gesetzgebers beruht.

8

Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des [X.] vom 19. März 2013 (aaO). Zwar führt das [X.] - ohne auf den entgegenstehenden Wortlaut des § 243 Abs. 4 Satz 1 [X.] einzugehen - aus, wenn zweifelsfrei feststehe, dass überhaupt keine [X.] stattgefunden haben, könne ausnahmsweise (lediglich) ein Beruhen des Urteils auf dem Unterbleiben einer Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 [X.] ausgeschlossen werden ([X.] aaO, S. 1067 Rn. 98; so auch in einem obiter dictum [X.], Beschluss vom 22. Mai 2013 - 4 StR 121/13).

9

Gleichzeitig betont das [X.] jedoch, dass die Mitteilungspflicht nur dann eingreift, wenn bei im Vorfeld oder neben der Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum standen ([X.] aaO, S. 1065 Rn. 85 unter Hinweis auf BT-Drucks. 16/12310 S. 12 und auf [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10). Die Annahme des [X.], beim Fehlen von Vorgesprächen entfalle das Beruhen des Urteils auf dem Fehlen einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 [X.] ist daher einfachrechtlich nicht schlüssig, da nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift in diesem Fall bereits kein Rechtsfehler vorliegt.

Nach alledem bedarf es einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 [X.] nicht, wenn überhaupt keine oder nur solche Gespräche stattgefunden haben, die dem Regelungskonzept des [X.] vorgelagert und von ihm nicht betroffen sind; das "Ob" der Handlung steht unter dem Vorbehalt des "Wenn". Soweit das [X.] den Begriff "Negativmitteilung" verwendet hat, bezieht sich dieser nur auf gescheiterte Gespräche ([X.] aaO, S. 1067 Rn. 98 unter Bezugnahme auf [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10).

b) Vor diesem Hintergrund muss ein Revisionsführer, der eine Verletzung des § 243 Abs. 4 Satz 1 [X.] rügen will, - gegebenenfalls nach Einholung von Erkundigungen beim Instanzverteidiger (vgl. [X.], aaO, § 344 Rn. 22 mwN) - bestimmt behaupten und konkret darlegen, in welchem Verfahrensstadium, in welcher Form und mit welchem Inhalt Gespräche stattgefunden haben, die auf eine Verständigung abzielten (vgl. [X.]St 56, 3). Denn das bloße Fehlen einer Mitteilung reicht nach dem oben Ausgeführten nicht aus, um einen - vom Revisionsführer darzulegenden - Rechtsfehler zu begründen. An einem solchen Vortrag fehlt es vorliegend, was gemäß § 344 Abs. 2 [X.] zur Unzulässigkeit der Verfahrensrüge führt.

II.

Auf die Sachrüge hin war das Urteil in [X.] 2 c der Urteilsgründe aufzuheben, weil das [X.] seiner Prüfung eines Rücktritts vom Versuch des schweren sexuellen Missbrauchs in diesem Fall einen unzutreffenden Maßstab zugrunde gelegt hat.

1. Insoweit hat das [X.] festgestellt, der Angeklagte habe die Geschädigte aufgefordert, den Oralverkehr an ihm auszuüben. Dies habe sie abgelehnt. Der Angeklagte habe sie [X.] zum Oralverkehr aufgefordert. Als sie dieses Ansinnen erneut zurückwies, habe er erkannt,

"dass ihm auf Grund der Weigerung der Zeugin     L.     sowie mangels zur Verfügung stehender Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Zeugin in seinem Sinne - etwa durch weiteres Zureden und/oder Versprechungen zur Duldung des [X.] - sowie auf Grund der von ihm abgelehnten Anwendung von Gewalt eine Vollendung nicht mehr möglich war" ([X.] 11).

Er habe daher von seinem Vorhaben abgelassen, habe masturbiert und schließlich auf die Oberbekleidung des Mädchens ejakuliert.

Das [X.] hat den Angeklagten insoweit wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Missbrauch von Kindern verurteilt. Einen Rücktritt vom Versuch der Qualifikation des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB hat es mit der Begründung abgelehnt, der Angeklagte habe in der konkreten Situation keine Möglichkeit mehr gesehen, sein Ziel, den Oralverkehr durch das Kind an ihm ausüben zu lassen, noch zu erreichen. Dies beruhe

"auf den geständigen, den Feststellungen entsprechenden Angaben des Angeklagten, der insbesondere abgestritten hat, Gewalt … angewandt zu haben oder … zu irgendeinem Zeitpunkt anwenden zu wollen" ([X.] 13).

2. Diese Würdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Angeklagte war im [X.] 2 c der Urteilsgründe wegen sexueller Nötigung unter Anwendung von Gewalt (§ 177 Abs. 1 Nr. 1) angeklagt. Dies konnte ihm nach den Ausführungen des [X.]s nicht nachgewiesen werden, denn "dem Angeklagten, der jegliche Gewaltanwendung abgestritten hat, war seine diesbezügliche Einlassung nicht zu widerlegen" ([X.] 16).

Die Begründung für einen Fehlschlag des Versuchs der Qualifikation nach § 176a StGB ist insoweit rechtsfehlerhaft, als der Gesichtspunkt der Gewalt für diesen Tatbestand keine Rolle spielt; § 176a Abs. 1 Nr. 1 setzt ein [X.] nicht voraus. Die Ausführung, der Angeklagte habe eine Vollendung nicht mehr für möglich gehalten, "insbesondere" weil er den Einsatz von Gewalt ablehnte, ist daher fehlerhaft und zeigt, dass das [X.] insoweit von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist. Im Übrigen wäre - vor dem Hintergrund der Ausführungen zur angeklagten sexuellen Nötigung - zu erörtern gewesen, dass die Einlassung des Angeklagten, den Einsatz von Gewalt nicht in Erwägung gezogen zu haben, ersichtlich der Verteidigung gegen den Vorwurf der Gewaltnötigung diente; in der Argumentation des [X.]s wird diese Einlassung hingegen zum Hauptargument ("insbesondere") gegen einen Rücktritt vom Qualifikationsversuch ohne Gewalt. Der [X.] kann auf Grundlage dieser Urteilsausführungen nicht ausschließen, dass der Entscheidung insgesamt ein fehlerhafter Maßstab für die Frage zugrunde liegt, unter welchen Voraussetzungen der Angeklagte hier freiwillig vom Versuch des [X.] zurücktreten konnte.

Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des [X.] insgesamt. Damit ist auch dem [X.] die Grundlage entzogen.

Fischer                          Appl                     Schmitt

              Eschelbach                     Ott

Meta

2 StR 47/13

10.07.2013

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Aachen, 27. September 2012, Az: 65 KLs 23/12

§ 202a StPO, § 212 StPO, § 243 Abs 4 S 1 StPO, § 257c StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO, StVVerstG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.07.2013, Az. 2 StR 47/13 (REWIS RS 2013, 4251)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 4251

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