Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26.08.2014, Az. 2 BvR 2400/13

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2014, 3305

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

STRAFRECHT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) VERFAHRENSGRUNDSÄTZE DEAL (STRAFPROZESS) WILLKÜR

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 17. September 2013 - 5 [X.] - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Das Verfahren wird an den [X.] zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

4. Die [X.] hat dem Beschwerdeführer die Hälfte seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

I.

1

1. Mit Urteil vom 14. Dezember 2012 verurteilte das [X.] den Beschwerdeführer und einen Mitangeklagten wegen mehrerer Betrugstaten jeweils zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und stellte fest, dass dem Verfall von [X.] in näher bezeichneter Höhe die Ansprüche der Verletzten entgegenstünden.

2

2. Gegen das Urteil legten der Beschwerdeführer und der Mitangeklagte Revision ein. Die Verteidigung des Beschwerdeführers rügte unter anderem einen Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO. Die Vorsitzende habe es versäumt, in der Hauptverhandlung mitzuteilen, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden hätten. Während des Ermittlungsverfahrens habe es mehrere Gespräche der beiden Verteidiger mit dem Staatsanwalt gegeben. Dieser habe gegenüber der Verteidigung erklärt, dass er im Falle umfassender Geständnisse eine Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren für beide Angeklagten für angemessen halte und Entsprechendes auch beantragen werde. Der Verteidiger des Mitangeklagten habe den Beisitzer der [X.] über diese Gespräche informiert und "vorgefühlt", ob seitens der Kammer Interesse an einer entsprechenden Verfahrensabsprache bestehe. Der Beisitzer habe darauf abweisend reagiert.

3

3. Durch Beschluss vom 17. September 2013 hob der 5. Strafsenat des [X.] auf die Revisionen des Beschwerdeführers und des Mitangeklagten das Urteil des [X.] gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Ausspruch über das Absehen von Verfallsanordnungen nach § 111i Abs. 2 StPO mit den zugehörigen Feststellungen auf und verwies die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere [X.] des [X.] zurück. Die weitergehenden Revisionen verwarf der [X.] nach § 349 Abs. 2 StPO "aus den in der Antragsschrift des [X.] dargelegten Gründen, die auch durch die Gegenerklärungen der Verteidigung nicht entkräftet werden" als unbegründet. Ergänzend verwies der 5. Strafsenat in Bezug auf die [X.], es sei gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO verstoßen worden, zum Anwendungsbereich dieser Vorschrift, die lediglich Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO betreffe, auf ein Urteil des [X.] des [X.] vom 10. Juli 2013 - 2 StR 47/13 -.

4

Das in Bezug genommene Urteil des [X.] enthält die Schlussfolgerung, dass eine Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht bestehe, wenn keine auf eine Verständigung hinzielenden Gespräche stattgefunden haben. Dies zeige bereits ein Umkehrschluss aus dem Wortlaut der Vorschrift, nach dem der Vorsitzende mitteile, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt, und erkläre sich auch aus dem Sinn und Zweck der Mitteilungs- und Dokumentationspflichten. Die Mitteilungs- und Dokumentationspflichten dienten der "Einhegung" der den zulässigen Inhalt von Verständigungen beschränkenden Vorschriften. Wenn aber überhaupt keine auf eine Verständigung abzielenden Gespräche stattgefunden hätten, sei das Regelungskonzept des § 257c StPO nicht tangiert. Soweit die Gesetzesmaterialien zur Änderung des § 78 Abs. 2 OWiG darauf hindeuteten, § 243 Abs. 4 StPO habe die Pflicht statuieren sollen, auch eine Nichterörterung mitzuteilen, habe dies im Gesetzestext letztlich keinen Ausdruck gefunden.

5

Gegenteiliges ergebe sich auch nicht aus dem Urteil des [X.] vom 19. März 2013 ([X.] 133, 168 ff.). Zwar führe das [X.] - ohne auf den entgegenstehenden Wortlaut des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO einzugehen - aus, wenn zweifelsfrei feststehe, dass überhaupt keine [X.] stattgefunden haben, könne ausnahmsweise (lediglich) ein Beruhen des Urteils auf dem Unterbleiben einer Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO ausgeschlossen werden (vgl. [X.] 133, 168 <223, Rn. 98>). Gleichzeitig betone das [X.] jedoch, dass die Mitteilungspflicht nur dann eingreife, wenn bei im Vorfeld oder neben der Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum gestanden hätten ([X.] 133, 168 <216, Rn. 85>). Die Annahme des [X.], beim Fehlen von Vorgesprächen entfalle das Beruhen des Urteils auf dem Fehlen einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO, sei daher einfachrechtlich nicht schlüssig, da nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift in diesem Fall bereits kein Rechtsfehler vorliege.

6

Nach alledem bedürfe es einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht, wenn überhaupt keine oder nur solche Gespräche stattgefunden hätten, die dem Regelungskonzept des [X.] vorgelagert und von ihm nicht betroffen seien; das "Ob" der Handlung stehe unter dem Vorbehalt des "Wenn". Soweit das [X.] den Begriff "[X.]" verwendet habe, beziehe sich dieser nur auf gescheiterte Gespräche (vgl. [X.] 133, 168 <223, Rn. 98> unter Bezugnahme auf [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10 -).

7

Vor diesem Hintergrund müsse ein Revisionsführer, der eine Verletzung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO rügen wolle, - gegebenenfalls nach Einholung von Erkundigungen beim Instanzverteidiger - bestimmt behaupten und konkret darlegen, in welchem Verfahrensstadium, in welcher Form und mit welchem Inhalt Gespräche stattgefunden hätten, die auf eine Verständigung abgezielt hätten. Denn das bloße Fehlen einer Mitteilung reiche nach dem zuvor Ausgeführten nicht aus, um einen - vom Revisionsführer darzulegenden - Rechtsfehler zu begründen.

II.

8

Mit seiner [X.]beschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen das Urteil des [X.] und die Revisionsentscheidung des [X.] und rügt eine Verletzung "in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), ein faires Verfahren und seine Subjektstellung im Strafprozess (Art. 1 Abs. 1 GG)" sowie eine Verletzung "des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG [X.]. Art. 2 Abs. 1, 2 GG, insbesondere [X.], Öffentlichkeitsgrundsatz)".

9

Durch das Unterlassen einer Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO habe die [X.] bei dem Beschwerdeführer eine Fehlvorstellung unterhalten, derentwegen er ein umfassendes Geständnis abgelegt habe. Er habe angenommen, dass die Kammer in ihrem Urteil nicht über den Antrag des Staatsanwalts hinausgehen werde. Er habe gedacht, es sei "alles abgesprochen", es habe also seitens der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft auch mit der Kammer Gespräche gegeben, bei denen ein Einvernehmen über die Strafhöhe hergestellt worden sei. Die Kammer wäre verpflichtet gewesen, von dem Gespräch zwischen dem Verteidiger des Mitangeklagten und dem beisitzenden [X.] zu berichten, weil dieses in den Anwendungsbereich des § 243 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit §§ 202a, 212 StPO falle. Dass der beisitzende [X.] sich nicht auf den Verständigungsvorschlag des Verteidigers eingelassen habe, entbinde das Gericht nicht von der Mitteilungspflicht. Ein Gespräch, in dem jemand eine ablehnende Haltung zum Ausdruck bringe, sei nicht dasselbe wie ein Gespräch, das gar nicht stattgefunden habe.

Auch wenn man mit dem [X.] davon ausgehe, dass das Gespräch nicht in den Anwendungsbereich des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO falle, habe gleichwohl eine Mitteilungspflicht bestanden. Die Vorsitzende hätte in diesem Fall bekanntgeben müssen, dass die Kammer keinerlei Vorgespräche geführt habe, bei denen die Möglichkeit einer Verständigung im Raum gestanden habe. Dadurch hätte der Beschwerdeführer erfahren, dass entgegen seiner Annahme die Kammer nicht in die Übereinkunft zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft mit einbezogen worden sei. In diesem Fall hätte er sein Einlassungsverhalten den tatsächlichen Gegebenheiten angepasst. Das Bestehen einer solchen [X.]spflicht ergebe sich sowohl aus der Gesamtschau des Gesetzeswortlauts als auch aus der Systematik und den Gesetzesmaterialien. Darüber dürfe sich der Rechtsanwender nicht hinwegsetzen. Andernfalls sei die Rechtsanwendung willkürlich. Unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf ein faires Verfahren, der Subjektstellung des Angeklagten im Strafprozess und der [X.] sei eine [X.]spflicht auch von [X.] wegen geboten.

Mit Schriftsatz vom 11. August 2014 beantragte der Beschwerdeführer, im Wege der einstweiligen Anordnung die Vollstreckung der mit Urteil des [X.] vom 14. Dezember 2012 gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe bis zur Entscheidung über die [X.]beschwerde auszusetzen.

III.

Zu der [X.]beschwerde haben der [X.] und der Vorsitzende des [X.] des [X.] Stellung genommen. Der Beschwerdeführer hat auf die Stellungnahmen erwidert.

IV.

Die [X.]beschwerde wird zur Entscheidung angenommen, soweit sie sich gegen die Revisionsentscheidung des [X.] richtet, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b [X.]. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] für eine der [X.]beschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind insoweit gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind in der Rechtsprechung des [X.] bereits geklärt. Danach ist die zulässige [X.]beschwerde in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer eröffnenden Sinn offensichtlich begründet. Das der Revisionsentscheidung zugrunde liegende Verständnis des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO verstößt gegen das verfassungsrechtliche Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG).

1. Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber Entscheidungen der Fachgerichte unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht. Willkürlich ist ein [X.]spruch nicht bereits dann, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler aufweisen. Hinzukommen muss vielmehr, dass Rechtsanwendung oder Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht. Dabei enthält die Feststellung von Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf. Willkür ist vielmehr in einem objektiven Sinne zu verstehen (vgl. [X.] 62, 189 <192>; 80, 48 <51>; 86, 59 <62 f.>; stRspr).

2. Zur Gesetzesauslegung hat das [X.] Folgendes ausgeführt ([X.] 133, 168 <205 f., Rn. 66>):

Maßgebend für die Auslegung von Gesetzen ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist (vgl. [X.] 1, 299 <312>; 11, 126 <130 f.>; 105, 135 <157>; stRspr). Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Unter ihnen hat keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen (vgl. [X.] 11, 126 <130>; 105, 135 <157>). Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut der Vorschrift. Er gibt allerdings nicht immer hinreichende Hinweise auf den Willen des Gesetzgebers. Unter Umständen wird erst im Zusammenhang mit Sinn und Zweck des Gesetzes oder anderen Auslegungsgesichtspunkten die im Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber verfolgte [X.] deutlich, der sich der [X.] nicht entgegenstellen darf (vgl. [X.] 122, 248 <283> - abw. M.). Dessen Aufgabe beschränkt sich darauf, die intendierte [X.] bezogen auf den konkreten Fall - auch unter gewandelten Bedingungen - möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen (vgl. [X.] 96, 375 <394 f.>). In keinem Fall darf richterliche Rechtsfindung das gesetzgeberische Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder an die Stelle der [X.] des Gesetzgebers gar eine eigene treten lassen (vgl. [X.] 78, 20 <24> m.w.N.). Für die Beantwortung der Frage, welche [X.] dem Gesetz zugrunde liegt, kommt daneben den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Die Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen Grundentscheidung wird nicht notwendig dadurch relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen offensichtlich eher fern liegen. Anderenfalls wäre es für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Regelungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen (vgl. [X.] 122, 248 <284> - abw. M.).

3. Nach diesen Maßstäben ist die Auslegung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO, wie sie der Revisionsentscheidung zugrunde liegt, wonach eine Mitteilungspflicht gemäß dieser Vorschrift nicht bestehe, wenn keine auf eine Verständigung hinzielenden Gespräche stattgefunden haben, unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich haltbar. Sie verstößt in unvertretbarer und damit objektiv willkürlicher Weise gegen den eindeutigen objektivierten Willen des Gesetzgebers, wie er auch im Urteil des [X.] vom 19. März 2013 ([X.] 133, 168 ff.) herausgearbeitet wurde.

Der Vorsitzende teilt mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt.

Der Wortlaut der sprachlich wenig geglückten Norm erscheint zwar auf den ersten Blick mehrdeutig (einerseits "ob", andererseits "wenn"), lässt aber durch die weitere Formulierung "und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt" auf das Bestehen einer Mitteilungspflicht auch für den Fall schließen, dass keine [X.] stattgefunden haben (sog. [X.]spflicht), weil es des Zusatzes "und wenn ja" ansonsten nicht bedurft hätte. Da der Gesetzeswortlaut selbst bei einer Ersetzung des "ob" durch ein "dass" wegen der nachfolgenden konditionalen Doppelung ("wenn", "und wenn ja") unverständlich bliebe, ist nicht das "ob", sondern das "wenn" als Redaktionsversehen einzuordnen und die Vorschrift dahingehend zu verstehen, dass der Vorsitzende mitteilt, ob Erörterungen stattgefunden haben, deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gewesen ist, und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt (so zu Recht Frister, in: [X.], 4. Aufl. 2011, § 243 Rn. 43).

b) Die Gesetzessystematik spricht ebenfalls für eine [X.]spflicht. Wenn in § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO von "Änderungen gegenüber der Mitteilung zu Beginn der Hauptverhandlung" die Rede ist, lässt dies allein den Schluss zu, dass zu Beginn der Hauptverhandlung in jedem Fall eine Mitteilung - sei es positiv oder negativ - zu erfolgen hat. Eine klare Bestätigung dieser Sichtweise findet sich in § 78 Abs. 2 OWiG, der für die Hauptverhandlung nach Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid folgende Sonderregelung trifft:

§ 243 Absatz 4 der Strafprozessordnung gilt nur, wenn eine Erörterung stattgefunden hat; § 273 Absatz 1a Satz 3 und Absatz 2 der Strafprozessordnung ist nicht anzuwenden.

Daraus ergibt sich im Umkehrschluss eindeutig, dass im "normalen" Strafprozess eine Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO auch dann besteht, wenn keine Erörterung stattgefunden hat. Anderenfalls wäre § 78 Abs. 2 Halbsatz 1 OWiG sinnlos.

c) Auch die Materialien zum Verständigungsgesetz belegen eindeutig, dass der Gesetzgeber für den "normalen" Strafprozess eine [X.]spflicht einführen wollte. In der Begründung zum Regierungsentwurf eines Verstän-digungsgesetzes (BTDrucks 16/12310, [X.]) heißt es bezüglich § 78 Abs. 2 OWiG:

Für diese wenigen "geeigneten" Fälle ist es auch grundsätzlich gerechtfertigt, die im Strafverfahren aufgestellten prozessualen Anforderungen und Bedingungen auch im Bußgeldverfahren greifen zu lassen. Als eine nicht gerechtfertigte Anforderung erschiene es jedoch, auch den Regelfall, also das Unterlassen einer solchen Verständigung, protokollieren zu müssen; das gleiche gilt für die in § 243 Absatz 4 StPO-E enthaltene Pflicht, auch eine Nichterörterung mitzuteilen. In § 78 Absatz 2 [X.] wird daher die Protokollierungspflicht nach § 273 Absatz 1a Satz 3 StPO-E für nicht anwendbar erklärt und die Mitteilungspflicht nach § 243 Absatz 4 StPO-E auf die Fälle beschränkt, in denen eine Erörterung im Sinne dieser Vorschrift stattgefunden hat.

Der Bundesrat ist in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf der Einführung einer [X.]spflicht in § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO mit folgenden Erwägungen entgegengetreten (BTDrucks 16/12310, S. 18):

Eine Mitteilung des Vorsitzenden, dass keine Erörterungen nach den §§ 202a, 212 zum Zwecke einer möglichen Verständigung stattgefunden haben, ist weder erforderlich noch zweckmäßig.

Nur für den Fall, dass Gespräche mit dem Ziel einer einvernehmlichen Absprache tatsächlich stattgefunden haben, besteht ein Bedürfnis, dies in der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung mitzuteilen und hierdurch transparent zu machen.

Über [X.] braucht hingegen nicht berichtet zu werden, da diese nicht Gegenstand der Hauptverhandlung sind. Dies entspricht auch dem Grundsatz der negativen Beweislast [sic!] des Protokolls über die Hauptverhandlung. Eine anderweitige Regelung stünde daher nicht im Einklang mit der Systematik des Strafverfahrens.

Dementsprechend hat der Bundesrat folgende abweichende Fassung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO vorgeschlagen:

Haben Erörterungen nach den §§ 202a, 212 zum Zwecke einer möglichen Verständigung (§ 257c) stattgefunden, so teilt der Vorsitzende dies und deren wesentlichen Inhalt mit.

Dieser Vorschlag ist jedoch nicht Gesetz geworden. Es blieb vielmehr bei der im Regierungsentwurf vorgesehenen Fassung.

d) Sinn und Zweck des dem Verständigungsgesetz zugrunde liegenden Regelungskonzepts, das die Schaffung umfassender Transparenz in Bezug auf Verständigungen im Strafprozess vorsieht (vgl. [X.] 133, 168 <214 ff., Rn. 80 ff.>), sprechen ebenfalls für eine [X.]spflicht. Wie sich aus § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO ergibt, geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Verpflichtung zu expliziter "Fehlanzeige" einer Verständigung der Transparenz und der Beachtung der gesetzlichen Vorschriften über die Verständigung dienlich ist (vgl. BTDrucks 16/12310, S. 15).

e) Auch der [X.] des [X.] legt die Vorschrift des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO dahingehend aus, dass sie eine [X.]spflicht beinhaltet (vgl. [X.] 133, 168 <223 f., Rn. 98>):

Kommt eine Verständigung nicht zustande und fehlt es an der gebotenen [X.] nach § 243 Absatz 4 Satz 1 StPO (vgl. [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10 -, wistra 2011, [X.] f. = [X.], [X.] f.) oder dem vorgeschriebenen Negativattest nach § 273 Absatz 1a Satz 3 StPO, wird nach Sinn und Zweck des gesetzlichen Schutzkonzepts ein Beruhen des Urteils auf einem Verstoß gegen § 257c StPO grundsätzlich ebenfalls nicht auszuschließen sein […], sofern nicht ausnahmsweise zweifelsfrei feststeht, dass es keinerlei Gespräche gegeben hat, in denen die Möglichkeit einer Verständigung im Raum stand (vgl. [X.], Beschluss vom 30. August 2011 - 32 Ss 87/11 -, juris, Rn. 11, 13). Bei einem Verstoß gegen Transparenz- und Dokumentationspflichten wird sich nämlich in den meisten Fällen nicht sicher ausschließen lassen, dass das Urteil auf eine gesetzwidrige "informelle" Absprache oder diesbezügliche Gesprächsbemühungen zurückgeht.

Der vom [X.] hier verwendete Begriff der "[X.]" bezieht sich - entgegen der Annahme des [X.] des [X.] im Urteil vom 10. Juli 2013 - 2 StR 47/13 - nicht nur auf die Mitteilung über gescheiterte [X.], sondern umfasst auch die Mitteilung darüber, dass es keine Verständigungsgespräche gegeben hat. Anderenfalls ergäbe der Rest des Satzes keinen Sinn, weil es ausgeschlossen ist, dass einerseits eine Mitteilung über gescheiterte Verständigungsgespräche geboten gewesen wäre, andererseits jedoch "zweifelsfrei feststeht, dass es keinerlei Gespräche gegeben hat, in denen die Möglichkeit einer Verständigung im Raum stand". Zwar ging es in dem zunächst in Bezug genommenen Beschluss des [X.] vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10 - tatsächlich um die Pflicht zur Mitteilung gescheiterter Verständigungsgespräche. Der nachfolgende Hinweis auf den Beschluss des [X.] vom 30. August 2011 - 32 Ss 87/11 - zeigt jedoch deutlich, dass der Senat gerade auch diejenigen Fälle gemeint hat, bei denen eine Mitteilung darüber unterblieben ist, dass keine Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben.

Soweit das [X.] ausgeführt hat, dass Gespräche, die ausschließlich der Organisation sowie der verfahrenstechnischen Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung dienen, nicht der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO unterliegen (vgl. [X.] 133, 168 <216, Rn. 84>), ist damit nach dem Kontext der Gründe (vgl. insbesondere a.a.[X.], Rn. 83) die Pflicht zur (Positiv-)Mitteilung des wesentlichen Inhalts von Gesprächen gemeint (vgl. § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO: "und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt"). Diese Aussage lässt daher nicht den Schluss zu, dass es bei lediglich organisatorischen Vorgesprächen keinerlei Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO bedarf, auch keiner [X.].

4. Die Annahme, im vorliegenden Fall sei trotz Fehlens einer Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO jedenfalls ein Beruhen des erstinstanzlichen Urteils auf einer Verletzung des Gesetzes (§ 337 Abs. 1 StPO) auszuschließen, weil zweifelsfrei feststehe, dass es keinerlei Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung gegeben habe (vgl. [X.] 133, 168 <223 f., Rn. 98>), kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil eine Aufklärung der entsprechenden Verfahrenstatsachen nicht stattgefunden hat. Zwar trägt der Beschwerdeführer lediglich zu Gesprächen der Verteidiger mit dem Staatsanwalt und zu einem Gespräch zwischen dem Verteidiger des Mitangeklagten und dem beisitzenden [X.] vor, dessen Einordnung als mitteilungspflichtige Erörterung nach den konkreten Umständen zweifelhaft sein mag. Dass es darüber hinaus im Vorfeld keinerlei [X.] gegeben hat, deren Inhalt nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO mitzuteilen gewesen wäre, kann dem Vorbringen des Beschwerdeführers aber nicht zweifelsfrei entnommen werden.

5. Ob ein Beruhen des Urteils auf einer Verletzung des Gesetzes bei einem Verstoß gegen die [X.]spflicht des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO auch, wie der Beschwerdeführer meint, damit begründet werden könnte, dass sich der Angeklagte in dem Glauben befunden habe, es hätten [X.] stattgefunden, und ihn eine [X.] möglicherweise von der Abgabe eines Geständnisses abgehalten hätte, und ob ein solches Verständnis des [X.] vom Schutzzweck des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO umfasst wäre, ist letztlich eine Frage des einfachen Rechts. [X.]rechtlich geboten erscheint dieses Verständnis jedenfalls nicht. Insoweit hat das [X.] bereits darauf hingewiesen, dass nach seiner Auslegung des [X.] ein Ausschluss des [X.] auch bei einem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO ausnahmsweise dann in Betracht kommt, wenn zweifelsfrei feststeht, dass es keinerlei Gespräche gegeben hat, in denen die Möglichkeit einer Verständigung im Raum stand (vgl. [X.] 133, 168 <223 f., Rn. 98>), und dass diese Auslegung mit der Verfassung in Einklang steht (vgl. [X.] 133, 168 <229 ff., Rn. 108 ff.>).

6. Ein Beruhen der Revisionsentscheidung auf dem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG scheidet nicht schon deshalb aus, weil der [X.] die auf eine Verletzung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Verfahrensrüge möglicherweise auch bei Bejahung einer aus dieser Vorschrift folgenden [X.]spflicht als unzulässig angesehen hätte. Von einem Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf einer Grundrechtsverletzung ist bereits dann auszugehen, wenn sich nicht ausschließen lässt, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung des verletzten Grundrechts zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Welche Darlegungsanforderungen der [X.] bei Bejahung einer [X.]spflicht an den Vortrag des Revisionsführers gestellt hätte und ob er hiernach die auf eine Verletzung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Verfahrensrüge für zulässig erachtet hätte, kann durch das [X.] nicht beurteilt werden. Denkbar wäre es gewesen, keine über den - bereits im Fehlen jeglicher Mitteilung liegenden - Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO hinausreichenden Anforderungen an die Darstellung des [X.] zu stellen und im Freibeweisverfahren aufzuklären, ob Gespräche stattgefunden haben, in denen die Möglichkeit einer Verständigung im Raum stand (so im Ergebnis [X.], Beschluss vom 3. September 2013 - 1 StR 237/13 -, juris, Rn. 4 ff.). Ebenso hätte, einem Vorschlag des [X.] in der Stellungnahme zur vorliegenden [X.]beschwerde folgend, verlangt werden können, dass die Revisionsbegründung mitteilt, über welche Kenntnisse und Hinweise bezüglich etwaiger [X.] der Revisionsverteidiger und der Angeklagte - gegebenenfalls nach zumutbarer Einholung entsprechender Auskünfte beim Instanzverteidiger (vgl. BVerfGK 6, 235 <237 f.>) - verfügen. Auch wenn es sich dabei um eine Ausnahme von dem revisionsrechtlichen Grundsatz handeln mag, dass der Revisionsführer zur [X.]frage nicht vorzutragen braucht, geht es hierbei doch letztlich um eine Frage des einfachen Rechts, über die das [X.] nicht zu entscheiden hat.

V.

Soweit die [X.]beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird, wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] von einer Begründung abgesehen.

VI.

Mit der Entscheidung in der Hauptsache erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

VII.

Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

2 BvR 2400/13

26.08.2014

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BGH, 17. September 2013, Az: 5 StR 258/13, Beschluss

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26.08.2014, Az. 2 BvR 2400/13 (REWIS RS 2014, 3305)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 3305


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 5 StR 258/13

Bundesgerichtshof, 5 StR 258/13, 25.02.2015.

Bundesgerichtshof, 5 StR 258/13, 17.09.2013.


Az. 2 BvR 2400/13

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 2400/13, 29.01.2015.

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 2400/13, 26.08.2014.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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