Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.04.2022, Az. AK 13/22

3. Strafsenat | REWIS RS 2022, 2542

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Gegenstand

Mitgliedschaftliche Beteiligung an einer ausländischen terroristischen Vereinigung: Einstufung von Jabhat al-Nusra als terroristische Vereinigung


Tenor

Die Untersuchungshaft hat [X.].

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den [X.] findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

1

Der Beschuldigte befindet sich seit dem 6. Oktober 2021 aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 27. September 2021 ([X.]) ununterbrochen in Untersuchungshaft.

2

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich als Mitglied an der [X.]" beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB. Der Beschuldigte soll sich Anfang 2013 der [X.] angeschlossen und sich für diese bis 2014 mitgliedschaftlich beteiligt haben, indem er einen Kampfverband geführt, einen Kontrollposten besetzt und an mindestens zwei Gefechten teilgenommen habe.

II.

3

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

4

1. Der Beschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.

5

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

6

aa) Die "[X.]" ("Jabhat al-nusra li-ahli ash-sham" [Hilfsfront für das Volk [X.]]) wurde Ende 2011 von [X.] und anderen [X.] Mitgliedern der seinerzeitigen [X.] im [X.]" ([X.]) im Auftrag deren Anführers [X.] in [X.] gegründet und sollte als Ableger der [X.] Organisation im Nachbarland operieren. Die Gründung wurde im Januar 2012 in einem im [X.] veröffentlichten Video bekannt gegeben. Zwischen den zwei Gruppierungen kam es im April 2013 zum Bruch, als [X.] die [X.] [X.] und [X.] im neu ausgerufenen "[X.] im [X.] und Großsyrien" ([X.]G) verkündete. [X.] wies dies als Anführer der [X.] zurück, betonte die Eigenständigkeit seiner Gruppierung und legte den Treueeid auf [X.] der [X.], [X.], ab; die [X.] fungierte danach als Regionalorganisation von [X.] in [X.].

7

Ziel der [X.] war der Sturz des [X.] in [X.], das sie durch einen [X.] Staat auf der Grundlage ihrer eigenen Interpretation der Scharia ersetzen wollte. Darüber hinaus erstrebte sie die "Befreiung" des historischen Großsyrien, das heißt [X.]s einschließlich von Teilen der südlichen [X.], des [X.], [X.], [X.] und der palästinensischen Gebiete. Diese Ziele verfolgte die Vereinigung mittels militärischer Operationen, aber auch durch Sprengstoffanschläge, Selbstmordattentate, Entführungen, gezielte Tötungen von Angehörigen des [X.] Militär- und Sicherheitsapparats und nicht am Konflikt beteiligten Zivilisten. Insgesamt werden der Gruppierung mehr als 2.000 Anschläge zugerechnet, bei denen mindestens 10.000 Menschen getötet wurden.

8

Die [X.] war militärisch-hierarchisch organisiert. Dem Anführer [X.] war ein aus fünf bis sechs Personen gebildeter [X.] zugeordnet. Unterhalb dieser Führungsebene standen die Kommandeure der insgesamt aus mehreren Tausend Personen bestehenden kämpfenden Einheiten, die ihrerseits in die vor Ort agierenden Kampfgruppen untergliedert waren. Ihre militärische Ausbildung erhielten die Kämpfer in einem verzweigten Netz von Trainingslagern. Daneben gab es Hinweise auf sogenannte "[X.]" in den von der Organisation kontrollierten Gebieten, die religiöse Angelegenheiten regelten und den Aufbau eines eigenen Justiz- und Verwaltungssystems vorantrieben. Für ihre Öffentlichkeitsarbeit bediente sie sich einer eigenen Medienstelle, über die sie im [X.] Verlautbarungen, Operationsberichte und [X.] verbreitete. Darüber hinaus unterhielt sie ein Netzwerk von "Korrespondenten" in [X.], die ihre Berichte über Twitter-Kanäle veröffentlichten.

9

bb) Der Beschuldigte schloss sich Anfang 2013 der [X.] an und leistete in seiner Heimatstadt [X.]gegenüber deren Anführer einen Treueeid. Er führte im Weiteren einen aus 19 bis 30 Personen bestehenden Kampfverband. Dabei trug er einen schwarzen Kampfanzug und ein Stirnband mit dem [X.] Glaubensbekenntnis auf schwarzem Untergrund. Bewaffnet war er unter anderem mit einer Pistole sowie einer Machete; er befehligte einen Geländewagen mit einer auflaffetierten 23-Millimeter-Maschinenkanone. Daneben sicherte er das Gebiet von [X.]unter anderem durch die Besetzung von Kontrollposten und nahm an Gefechten gegen Einheiten des "[X.]es" sowohl im Winter 2013/2014 zur Rückeroberung der Erdölquellen in der Ortschaft as.      als auch im Jahr 2014 in der Nähe der Ortschaft [X.].       teil.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen in dem Haftbefehl Bezug genommen.

b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der [X.]" beruht auf den Ergebnissen entsprechender Strukturermittlungen des [X.], die sich insbesondere auf islamwissenschaftliche Gutachten, umfangreiche Auswerteberichte des [X.] und Behördenerklärungen stützen.

Die Handlungen des Beschuldigten ergeben sich aus zahlreichen Aussagen von Zeugen, einem im [X.] veröffentlichen Video, auf dem der Beschuldigte einer Ansprache eines weiteren Anführers vor einem Gefecht folgt, aus der Auswertung einer Sprachnachricht, wonach der "[X.]" sein Haus "übernommen" und seine Auslieferung verlangt habe sowie aus Erkenntnissen einer Fahrzeuginnenraumüberwachung, nach denen der Beschuldigte einem Zeugen über den abgeleisteten Treueid und seine Teilnahme an Kampfhandlungen in [X.] berichtet.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl und die Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 18. März 2022 verwiesen.

c) In rechtlicher Hinsicht ergibt sich hieraus Folgendes:

aa) Der Beschuldigte hat sich mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB). Die [X.] erfüllt die Voraussetzungen für eine Vereinigung nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB, und zwar sowohl unter Zugrundelegung des früher nach der Rechtsprechung des [X.] maßgeblichen Vereinigungsbegriffs (siehe dazu etwa [X.], Urteile vom 20. März 1963 - 3 StR 5/63, [X.]St 18, 296, 299 f.; vom 14. August 2009 - 3 [X.], [X.]St 54, 69 Rn. 123) als auch nach der Legaldefinition des § 129 Abs. 2 i.V.m. § 129a Abs. 1 StGB in der seit dem 22. Juli 2017 gültigen Fassung. Ob der Beschuldigte darüber hinaus weitere Straftatbestände, etwa Waffendelikte, verwirklichte, ist für die Frage der [X.] derzeit ohne Belang.

bb) [X.] ist anwendbar. Dies folgt für die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland jedenfalls aus § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB, da der Beschuldigte im Inland festgenommen wurde und ein Auslieferungsverkehr mit [X.] derzeit nicht stattfindet (vgl. [X.], Beschluss vom 6. Oktober 2016 - AK 52/16, juris Rn. 35 ff.).

cc) Das [X.] hat die Ermächtigung zur Verfolgung von Straftaten, die durch Mitglieder oder Unterstützer der [X.]" begangen werden, erteilt.

2. Es besteht jedenfalls der im Haftbefehl angenommene Haftgrund der [X.] nach § 112 Abs. 3 StPO auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung (s. [X.], Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.).

Der Beschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dem mithin gegebenen Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Zwar leben zwei Frauen und acht Kinder mit ihm in [X.]. Jedoch liegen keine Anhaltspunkte vor, dass er hier bereits darüber hinaus sozial und beruflich eingebunden ist. Auch verfügt er ausweislich der Erkenntnisse aus der Auswertung der bei ihm sichergestellten Mobiltelefone über zahlreiche Kontakte in [X.] in [X.] und der [X.]. Daneben wird die Fluchtgefahr durch den Umstand verstärkt, dass gegen ihn ein weiterer Haftbefehl des [X.] vom 28. September 2021 wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung und der Geldwäsche erlassen wurde und insoweit Überhaft notiert ist (Az. 139 [X.] 552 Js 6/20 - 10/21).

Vor diesem Hintergrund ist eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) nicht erfolgversprechend. Unter den genannten Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die [X.].

Auf den am 6. Oktober 2021 in der Wohnung des Beschuldigten sichergestellten Mobiltelefonen sind über 4.000 Kontakte, über 10.000 Audiodateien großteils in Form von Sprachnachrichten, mehr als 28.000 Bild- und 1.300 Videodateien sowie 32 Benutzerkonten nebst fünf unterschiedlicher E-Mail-Adressen festgestellt worden. Da sämtliche Dokumente, Text- und Sprachnachrichten in [X.] verfasst sind, ist die Hinzuziehung eines Dolmetschers erforderlich gewesen. Die Auswertung dieser umfangreichen Daten hat - entgegen dem Vorbringen des Verteidigers - zeitnah am 11. Oktober 2021 begonnen und ist Anfang März 2022 abgeschlossen worden. Daneben hat das [X.] seit der Festnahme des Beschuldigten über 40 Zeugen im gesamten [X.] vernommen. Eine Abtrennung von einzelnen Tatvorwürfen - wie vom Verteidiger zur vermeintlichen Verfahrensbeschleunigung vorgeschlagen - scheidet angesichts des [X.] schon aus Rechtsgründen aus.

Derzeit werden weitere Videodateien ausgewertet. Daneben ist die Vernehmung eines zusätzlichen Zeugen geplant, mit dem sich der Beschuldigte über den von ihm geleisteten Treueid und seine Kampfhandlungen unterhalten haben soll und dessen Vernehmung zuvor nicht möglich gewesen ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat ferner mitgeteilt, dass in Kürze Anklage erhoben werde.

Insgesamt ist danach das Verfahren ausreichend gefördert worden.

4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der [X.]lgemeinheit andererseits derzeit nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Schäfer                      [X.]

Meta

AK 13/22

19.04.2022

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

§ 129 Abs 2 StGB, § 129a Abs 1 Nr 1 StGB, § 129b Abs 1 S 1 StGB, § 129b Abs 1 S 2 StGB, § 129b Abs 2 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.04.2022, Az. AK 13/22 (REWIS RS 2022, 2542)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2542

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Fortdauer von Untersuchungshaft: Dringender Tatverdacht der Beteiligung an der ausländischen terroristischen Vereinigung "Jabhat Fath al-Sham"; …


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