Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25.10.2012, Az. 1 BvR 901/11

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2012, 1967

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung der Meinungsfreiheit (Art 5 Abs 1 S 1 GG) durch ungerechtfertigte fachgerichtliche Einstufung einer Äußerung als Tatsachenbehauptung - hier: Kritische Auseinandersetzung mit Ärzteliste eines Nachrichtenmagazins - unzureichende Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs sowie der Intention der beanstandeten Äußerung - fachgerichtliche Auslegung der beanstandeten Äußerung nicht hinreichend begründet


Tenor

Das Urteil des [X.] vom 1. März 2011 - 18 U 2992/10 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein zivilgerichtliches Urteil, durch das dem Beschwerdeführer eine Äußerung untersagt wird. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit.

2

1. Der Beschwerdeführer und Beklagte des Ausgangsverfahrens besteht aus etwa 40 Mitgliedern und verteilt in unregelmäßigen Abständen per E-mail, auch an ca. 40 Nicht-Mitglieder, das Mitgliedermagazin "[X.]". Das Magazin ist überschrieben mit den Worten: "[X.] reden: Direkt die unverblümte Wahrheit sagen, jemandem ohne Zurückhaltung ungeschminkt die Meinung sagen."

3

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die [X.] Verlag GmbH, veröffentlichte in der Ausgabe 22/2009 vom 25. Mai 2009 des von ihr verlegten Magazins "[X.]" eine Titelgeschichte zum Thema Implantologie. Auf dem Titelblatt hieß es: "Große [X.]-Ärzteliste - 115 empfohlene Spezialisten". In dem Artikel war diese Liste abgedruckt, die unter anderem den Zahnarzt B. aus K. enthielt, der auch Vizepräsident der [X.] ist. Die Liste war Ergebnis einer Recherche, bei der unter anderem ein an Zahnärzte verschickter Fragebogen verwandt wurde. In dem Fragebogen wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass im Rahmen einer neuen Firmenkooperation mit dem Gesundheitsportal [X.] auch angeboten werden könne, die Leistungen der Zahnärzte auf Wunsch patientengerecht im [X.] zu präsentieren.

4

In dem [X.]-Artikel heißt es auf Seite 66:

5

Rund 7000 Implantologen hat [X.] in Zusammenarbeit mit der [X.], der [X.], Kiefer- und Gesichtschirurgie, der [X.], der [X.], dem [X.], dem [X.] tätigen Zahnärzte in [X.], sowie der [X.] angeschrieben. Redakteure ermittelten aus den über 6400 Empfehlungen anhand von Interviews und der Angaben aus den wissenschaftlichen Fragebögen die bundesweiten Top-Ärzte für Implantologie unter den [X.], Oralchirurgen und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen.

6

Die Ausgabe 3/09 vom 24. Juni 2009 des [X.] "[X.]" beschäftigt sich mit dieser [X.]-Ärzteliste. Unter anderem heißt es dort:

7

[X.]-Vize [[X.]] in Werbeaffäre verstrickt

8

Der Vizepräsident der [X.], seines Zeichens auch Vorsitzender eines [X.], steht auf einer [X.]-Liste der 115 angeblich besten Implantologen [X.]. Die Redaktion rief wohl im Vorfeld bei vielen [X.] an und bot einen Platz auf dieser Liste - unter welchen Voraussetzungen auch immer - an. Der [X.]-Vize behauptet, dass seine Teilnahme an der ganzen Aktion im Vorfeld mit der [X.]  [[X.]] abgesprochen gewesen sei. Dem widerspricht nun der Präsident der [X.]: "…die [X.] hat damit nichts zu tun, außer, dass sie dem [X.] bestimmte "Berufsbezeichnungen" und Begriffe erklärt hat, bzw. auf einschlägige [X.]seiten verwiesen hat. Dabei war der [X.] nicht bekannt, dass der [X.] den jetzt veröffentlichten Artikel plant". … Wir meinen: ein hochrangiger Standesvertreter, der seine eigenen wirtschaftlichen Interessen und die Interessen seines Fachverbandes vor das Wohl der von ihm vertretenen [X.] Zahnärzte stellt, sollte zum Rücktritt aufgefordert werden.

9

Die Klägerin ist der Auffassung, dieser Artikel behaupte, dass Voraussetzung für die Aufnahme in die Ärzteliste eine entgeltliche Leistung gewesen sei. Eine derartige Behauptung verletze sie in ihrem Unternehmenspersönlichkeitsrecht. Sie begehrt Unterlassung der Äußerung:

Die Redaktion rief wohl im Vorfeld bei vielen [X.] an und bot einen Platz auf dieser Liste - unter welchen Voraussetzungen auch immer - an.

2. Das [X.] wies die Klage ab. Es qualifiziert die Äußerung im Gesamtzusammenhang als Meinungsäußerung. Eine konkrete Aussage, dass die Aufnahme in die Ärzteliste nur entgeltlich erfolge, lasse sich aus der angegriffenen Passage nicht herauslesen. Durch die sich aus dem Fragebogen ergebende Verquickung von redaktioneller Arbeit mit mittelbar verfolgtem wirtschaftlichem Interesse einer Beteiligungsgesellschaft sei die Äußerung des Beklagten von der Meinungsfreiheit gedeckt.

3. Auf die Berufung der Klägerin hob das [X.] das Urteil mit angegriffenem Urteil auf und verurteilte den Beschwerdeführer zur Unterlassung der streitgegenständlichen Äußerung. Es qualifiziert die Äußerung als Tatsachenbehauptung, deren Wahrheit der beweisbelastete Beschwerdeführer nicht bewiesen habe. Die Äußerung verunglimpfe die Klägerin, so dass sie in ihrem "allgemeinen Persönlichkeitsrecht" verletzt sei. Die Äußerung sei "ins Blaue hinein" getätigt. Der Beschwerdeführer könne sich nicht auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB berufen, weil er bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht habe davon ausgehen können, dass die Behauptung richtig gewesen sei. Denn nach dem eigenen Vorbringen des Beschwerdeführers hätten seine Recherchen ergeben, dass die telefonischen Angebote nicht von der Klägerin ausgegangen seien, sondern von einer beauftragten Vermittlungsagentur.

Das [X.] ließ die Revision nicht zu und setzte den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 6.000 € fest.

4. In seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts auf Meinungs- und Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG. Das [X.] habe die Textpassage zu Unrecht als Tatsachenbehauptung eingeordnet. Dass es sich vielmehr um eine Meinungsäußerung handele, ergebe sich aus dem Gesamtzusammenhang. Das [X.] interpretiere hier eine völlig harmlose Textpassage in einem Mitgliederforum, das gerade einmal an 40 bis 80 Personen versandt werde, und in dem es üblich sei, Meinungen auszutauschen beziehungsweise Kritik zu üben, als "[X.]" der Klägerin.

5. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat sich zu der Verfassungsbeschwerde geäußert und hält sie für unbegründet. Die [X.] hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen.

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]).

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, ohne ausdrücklich zwischen Werturteil und Tatsachenbehauptung zu unterscheiden (vgl. [X.] 85, 23 <31>). Tatsachenbehauptungen werden durch die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit charakterisiert (vgl. [X.] 94, 1 <8>) und sind der Überprüfung mit Mitteln des Beweises zugänglich. Meinungen sind im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen durch das Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder [X.] geprägt (vgl. [X.] 85, 1 <14>).

Die Behauptung einer Tatsache fällt in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit, soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen ist (vgl. [X.] 94, 1 <7>). Daher endet der Schutz der Meinungsfreiheit für Tatsachenbehauptungen erst dort, wo sie zu der verfassungsrechtlich vorausgesetzten Meinungsbildung nichts beitragen können. Das [X.] geht deswegen davon aus, dass die erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptung nicht vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst wird. Wahre Aussagen müssen in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind. Das gilt auch für Äußerungen, in denen tatsächliche und wertende Elemente einander durchdringen. Bei der Abwägung fällt dann die Richtigkeit des tatsächlichen [X.], der dem Werturteil zugrunde liegt, ins Gewicht (vgl. [X.] 94, 1 <8>). Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder [X.] Charakter anzusehen sind (vgl. [X.] 85, 1 <14>).

Maßgeblich für die Deutung einer Äußerung ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat (vgl. [X.] 93, 266 <295 f.>). Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht und von den erkennbaren Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt. Die isolierte Betrachtung eines umstrittenen Äußerungsteils wird den Anforderungen an eine tragfähige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht (vgl. [X.] 54, 129 <137>; 93, 266 <295>; 94, 1 <9>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 12. Mai 2009 - 1 BvR 2272/04 -, NJW 2009, [X.] - "durchgeknallter Staatsanwalt").

Die Einstufung einer Äußerung als Werturteil oder Tatsachenbehauptung durch die Fachgerichte wird wegen ihrer Bedeutung für den Schutzumfang des Grundrechts sowie für die Abwägung mit kollidierenden Rechtsgütern vom [X.] nachgeprüft (vgl. [X.] 94, 1 <8 f.>).

2. Gemessen hieran begegnet es durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das [X.] die streitgegenständliche Textpassage aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit herausfallen lassen hat.

Das [X.] verengt seine Urteilsbegründung auf die Frage des [X.] der Aussage, ob die Redaktion des "[X.]" selbst oder aber eine Vermittlungsagentur bei [X.] angerufen habe. Dies betrifft zwar isoliert eine Tatsachenfrage, die dem Beweis zugänglich ist. Jedoch wird diese Fokussierung auf die Frage, wer genau angerufen hat, dem Rechtstreit nicht gerecht. Denn Gegenstand des von der Klägerin geführten Verfahrens ist nach ihrem den Streitgegenstand bestimmenden Antrag die Frage, ob sie dadurch in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt wird, dass der Beschwerdeführer behauptet, sie habe die Listenplätze entgeltlich angeboten. Insoweit aber hätte es ausgehend von der in Streit stehenden Äußerung einer genaueren Deutungsanalyse bedurft, deren Anforderungen die angegriffene Entscheidung nicht erfüllt. Das [X.] hätte prüfen müssen, ob eine solche Aussage dem Text überhaupt zu entnehmen ist, und, falls dies der Fall ist, ob dem eine Tatsachenbehauptung oder ein Werturteil zugrunde liegt. Es hätte sich auch mit der Gesamtaussage des Artikels (Kritik am Vizepräsidenten der [X.]) beschäftigen und dabei das Anliegen des Magazins "[X.]" (Bewertung von Sachverhalten mit Bezug zur Berufstätigkeit der Zahnärzteschaft) und die Intention der beanstandeten Äußerung (Kritik an der Zusammensetzung der Ärzteliste) berücksichtigen müssen. Es ist jedenfalls nicht aus sich heraus erkennbar, dass es für die Deutung der streitgegenständlichen Äußerung bei gebotener Gesamtsicht entscheidend auf den konkret Anrufenden ankommt. Sofern das [X.] die Frage als maßgeblich ansieht, ob die Redaktion selbst oder aber eine Agentur die Anrufe getätigt hat, müsste es folglich darlegen, warum hieraus die von der Klägerin gerügte Aussage folgt und dies eine Verletzung deren Persönlichkeitsrechts begründet. Hierbei kommt ohnehin allenfalls eine Verletzung ihres Unternehmenspersönlichkeitsrechts in Betracht. Der Entscheidung des [X.]s ist zu alledem jedoch nichts zu entnehmen.

3. Das besondere Gewicht der Grundrechtsverletzung ist durch die Verkennung des durch die Meinungsfreiheit gewährten Schutzes indiziert (vgl. [X.] 90, 22 <25>).

4. Die angegriffene Entscheidung beruht auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass das [X.] bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen wird.

5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

6. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für die Verfassungsbeschwerdeverfahren beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 [X.].

Meta

1 BvR 901/11

25.10.2012

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG München, 1. März 2011, Az: 18 U 2992/10, Urteil

Art 5 Abs 1 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 823 Abs 1 BGB, § 1004 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25.10.2012, Az. 1 BvR 901/11 (REWIS RS 2012, 1967)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 1967

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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