Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 12.11.2021, Az. 1 BvR 576/19

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2021, 1116

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Unzulässige Verfassungsbeschwerde einer britischen LLP gegen die Versagung von Einsicht in Strafakten gem §§ 406e, § 475 StPO zwecks Geltendmachung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche - unzureichende Darlegungen zur Grundrechtsberechtigung der beschwerdeführenden britischen Personengesellschaft - zudem Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde mangels Antrags auf Aktenbeiziehung im Zivilprozess


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

I.

1

Die in [X.]/[X.] ansässige Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Versagung von Einsicht in die Akten eines Strafverfahrens gemäß § 406e StPO und § 475 StPO, in dem gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden und den Finanzvorstand der [X.] [X.] wegen Verdachts der Marktmanipulation nach den Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes ermittelt wurde. Die Beschwerdeführerin - ein Hedgefonds - sieht sich durch diese Marktmanipulation geschädigt. Daher betreibt sie mit weiteren ausländischen Hedgefonds eine zivilrechtliche Schadensersatzklage gegen die [X.] [X.].

2

Mit Blick auf diese Schadensersatzklage begehrten die Beschwerdeführerin und die weiteren klagenden Hedgefonds bereits einmal erfolglos Einsicht in die Strafakten und erhoben gegen die Versagung von Akteneinsicht Verfassungsbeschwerde. Mit Nichtannahmebeschluss vom 9. Dezember 2015 - 1 BvR 2449/14 - erkannte die [X.] des [X.] in dem fachgerichtlich zugrunde gelegten engen Verständnis des Begriffs des Verletzten im Sinne des § 406e StPO keinen Willkürverstoß. Auch stellte die Kammer keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren fest. Es sei jedenfalls keine strukturell begründete [X.] von solchem Gewicht vorgetragen, dass diese nur durch Akteneinsicht behoben werden und so einen verfassungsunmittelbaren Informationsbeschaffungsanspruch durch die Stellen der Strafrechtspflege zur Förderung eines Zivilrechtsstreits begründen könnte. Vor diesem Hintergrund könne im Übrigen dahinstehen, inwiefern die damaligen Beschwerdeführerinnen, die ihren Sitz überwiegend außerhalb der [X.] hätten, grundrechtsberechtigt seien.

3

Nachdem im Jahr 2015 eine weitere Anklage gegen die beiden Vorstände der [X.] [X.] erhoben wurde und die Richtlinie 2014/104/[X.] des [X.] und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der [X.] - Kartellschadensersatzrichtlinie - ([X.], [X.]) in [X.] trat, erneuerten die Beschwerdeführerin und die weiteren die [X.] [X.] auf Schadensersatz verklagenden Hedgefonds ihr Akteneinsichtsgesuch. Gegen die neuerliche Versagung von Akteneinsicht wendet sich mit der vorliegenden Verfassungsbeschwerde nur noch die in [X.]/[X.] ansässige Beschwerdeführerin. Sie rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte auf Schutz des Eigentums, auf ein faires Verfahren, auf Bindung der rechtsprechenden Gewalt an Gesetz und Recht und auf [X.] sowie einen Verstoß gegen das Willkürverbot.

II.

4

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

5

1. Beschwerdeführer müssen ihren Vortrag ergänzen, wenn sich die Sach- und Rechtslage nach Ablauf der Beschwerdefrist ändert (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 8. Juni 2021 - 1 BvR 2771/18 -, Rn. 57). Danach hätte die Beschwerdeführerin substantiiert dartun müssen, ob und inwieweit sie nach dem Austritt des [X.] aus der [X.] in der Folge des vollzogenen Abkommens über den Austritt des [X.] und Nordirland aus der [X.] und der [X.] vom 30. Januar 2020 ([X.], [X.]) hinsichtlich der von ihr geltend gemachten Grundrechtsverletzungen überhaupt noch grundrechtsberechtigt ist. Das ist nicht geschehen.

6

2. Die Verfassungsbeschwerde wahrt auch nicht die Anforderungen der Subsidiarität im weiteren Sinne.

7

a) Die Anforderungen der Subsidiarität beschränken sich nicht darauf, nur die zur Erreichung des unmittelbaren [X.] förmlich eröffneten Rechtsmittel zu ergreifen, sondern verlangen, alle Mittel zu nutzen, die der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abhelfen können. Damit soll erreicht werden, dass das [X.] nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weitreichende Entscheidungen treffen muss, sondern zunächst die für Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts primär zuständigen Fachgerichte die Sach- und Rechtslage aufgearbeitet haben (vgl. auch zum Folgenden [X.], Beschluss des [X.] vom 8. Juni 2021 - 1 BvR 2771/18 -, Rn. 68 f.).

8

Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert deshalb grundsätzlich, vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. [X.]E 134, 106 <115 Rn. 27>; 142, 268 <280, Rn. 44>; 149, 407 <410, Rn. 8>). Das gilt auch, wenn zweifelhaft ist, ob ein entsprechender Rechtsbehelf statthaft ist und im konkreten Fall in zulässiger Weise eingelegt werden kann (vgl. [X.]E 128, 90 <99>). Offensichtlich sinn- und aussichtslose fachgerichtliche Rechtsbehelfe müssen dagegen auch unter Berücksichtigung der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht erhoben werden (vgl. [X.]E 123, 148 <172>; 126, 1 <18>). Zu den zu ergreifenden prozessualen Möglichkeiten zählen auch prozessuale Anregungen (vgl. [X.]E 81, 22 <27 f.>) und die Stellung geeigneter Beweisanträge (vgl. [X.]E 81, 97 <102 f.>). Das [X.] hat in diesem Zusammenhang die Stellung förmlicher Beweisanträge verlangt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 2. November 2001 - 2 BvR 1098/00 -, Rn. 12 ff.) und die Verfassungsbeschwerde im Falle eines unterlassenen Beweisantrags an dem Grundsatz der Subsidiarität scheitern lassen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 23. September 1987 - 2 BvR 814/87 -, juris, Rn. 3; Beschluss der [X.] des [X.] vom 19. Februar 1992 - 1 BvR 1935/91 -, juris, Rn. 8 f.; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 21. August 1996 - 2 BvR 1304/96 -, juris, Rn. 10; Beschluss der [X.] des [X.] vom 23. Juli 1998 - 1 BvR 2419/97 -, juris, Rn. 2; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 6. September 2005 - 2 BvR 10/05 -, juris, Rn. 16).

9

b) Nach diesen Maßgaben hätte es der Beschwerdeführerin oblegen, in dem sachnäheren bereits anhängigen Zivilprozess auf die Beiziehung (von Bestandteilen) der Strafakten hinzuwirken (vgl. dazu [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 6. März 2014 - 1 BvR 3541/13 u.a. -). Hierzu haben mit § 273 Abs. 2 Nr. 2, § 142 Abs. 1 beziehungsweise § 432 ZPO jeweils in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 477 Abs. 4 StPO a.F. (jetzt § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO), § 49b OWiG zivilprozessuale Möglichkeiten grundsätzlich zur Verfügung gestanden (vgl. [X.], Beschluss vom 26. November 2013 - [X.] VAs 116 - 120/13 u.a. -, juris; [X.], Beschluss vom 14. Juli 2015 - [X.] 55/14 -, juris, Rn. 25; vgl. auch [X.] in: [X.]/[X.]/Lahme, Kartellrechtliche Schadensersatzklagen, 2. Aufl. 2021, [X.], Rn. 31 ff.; [X.]/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, § 13, Rn. 101 ff.). Auf diese zivilprozessualen Möglichkeiten ist die Beschwerdeführerin in den angegriffenen Entscheidungen zudem hingewiesen worden. Mit diesen Hinweisen setzt sie sich jedoch nicht auseinander. Sie legt insbesondere nicht dar, dass und warum das zivilprozessuale Hinwirken auf die Beiziehung (von Bestandteilen) der Strafakten offensichtlich sinn- oder aussichtslos sei. Für eine Unzumutbarkeit des Verweises auf die genannten zivilprozessualen Möglichkeiten ist auch nichts ersichtlich. Der von der Beschwerdeführerin eingewandten Kartellschadensersatzrichtlinie und den Umsetzungsvorschriften der [X.] vom 1. Juni 2017 ([X.], [X.]416) ist nichts anderes zu entnehmen.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]G abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 576/19

12.11.2021

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG Stuttgart, 4. Februar 2019, Az: 11 Qs 1/19, Beschluss

§ 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, EURL 104/2014, § 474 Abs 1 StPO, § 477 Abs 4 StPO vom 17.08.2017, § 479 Abs 4 S 2 StPO vom 20.11.2019, § 479 Abs 4 S 3 StPO vom 20.11.2019, § 142 Abs 1 ZPO, § 273 Abs 2 Nr 2 ZPO, § 432 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 12.11.2021, Az. 1 BvR 576/19 (REWIS RS 2021, 1116)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 1116

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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