Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 07.05.2013, Az. 2 BvR 1238/12

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2013, 6071

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Grundrechten durch Aufrechterhaltung von Sicherungsverwahrung in Anwendung von § 67d Abs 3 S 1 StGB sowie § 2 Abs 6 StGB - unzureichende fachgerichtliche Feststellungen zum Vorliegen einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten - Anforderungen an Vorliegen einer psychischen Störung iSd § 1 Abs 1 Nr 1 ThUG - unzureichende Prüfung milderer Mittel


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 7. Mai 2012 - 2 Ws 197/12 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Er wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

...

Gründe

1

Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einem sogenannten Altfall im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB.

2

1. Der mehrfach vorbestrafte Beschwerdeführer wurde im März 1994 mit Urteil des [X.] wegen schweren Raubes in zwei Fällen, davon in einem Fall rechtlich zusammentreffend mit sexueller Nötigung, zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Überdies wurde die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Er hatte im einen Fall einer Asylbewerberin ihre Tasche entrissen und ihr dann drohend ein Messer vorgehalten. Bei der anderen Tat - für die eine Einzelstrafe von sieben Jahren verhängt wurde - hatte er eine Frau in ein Gehölz gezerrt und ihre Hände gefesselt. Mit einem Messer hatte er ihr sodann die Hose im Schrittbereich aufgeschnitten, ihr an die Scheide gefasst und dort einen harten Gegenstand eingeführt. Das Menstruationsblut der Geschädigten hatte ihn von weiteren sexuellen Handlungen abgehalten. Der Beschwerdeführer hatte ihr sodann ihre Geldbörse mit etwa 400 DM weggenommen. Bei der Begehung beider, nur zwei Tage auseinander liegenden Taten hatte er sich im [X.]von der gegen ihn wegen vorheriger Delikte verhängten Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt befunden.

3

2. Zur Vorbereitung der Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung wurde im Januar 2012 ein Sachverständigengutachten erstellt, an welchem der Beschwerdeführer nicht mitwirkte. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, deliktanaloge Taten "bis hin zu Vergewaltigungen" seien zu befürchten. Die Wahrscheinlichkeit für Gewalt- und Sexualdelikte liege bei "über 50 %". Im Anhörungstermin erklärte der Sachverständige, die Rückfallwahrscheinlichkeit für einschlägige Delikte "vorwiegend mit Drohungen" liege bei 50 %. Eine psychische Störung könne nach Aktenlage nicht festgestellt werden. Es müsse ein "klinisch erkennbarer Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten" vorliegen, der "auf der individuellen und oft auch auf [X.] mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden ist". Dies sei in den inhaltlich nachvollziehbaren [X.] nicht geprüft worden, so dass sich dieses Kriterium anhand der Aktenlage nicht zuverlässig habe belegen lassen.

4

3. Am 8. März 2012 waren die Freiheitsstrafe sowie zehn Jahre der Sicherungsverwahrung vollstreckt. Unter Hinweis auf die Übergangsregelung im Urteil des [X.] des [X.] vom 4. Mai 2011 (vgl. [X.] 128, 326 ff.) erklärte die auswärtige Strafvollstreckungskammer des [X.] mit dem Sitz in [X.] die Sicherungsverwahrung durch Beschluss vom 12. März 2012 für erledigt. Aus konkreten Umständen in der Person des Beschwerdeführers oder aus seinem Verhalten sei keine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten abzuleiten. Daher könne dahinstehen, ob eine "psychische Störung" vorliege.

5

4. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das [X.] mit angegriffenem Beschluss vom 7. Mai 2012 den landgerichtlichen Beschluss auf und ordnete die weitere Vollziehung der Sicherungsverwahrung an. Es bestehe die aus konkreten Umständen ableitbare Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten. Eine der begangenen Taten sei als besonders schwere Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 4 StGB mit Strafe ab fünf Jahren bedroht und daher als schwerste Sexualstraftat einzustufen. Ferner bestehe eine Rückfallwahrscheinlichkeit von mindestens 50 %, insbesondere da der Beschwerdeführer die Taten während des Freigangs auf dem Rückweg in die Entziehungsanstalt begangen habe. Eine psychische Störung in Form der dis[X.] Persönlichkeitsstörung liege vor, auch wenn sich der Sachverständige diese Diagnose nach der Weigerung des Beschwerdeführers, an der Gutachtenerstattung mitzuwirken, letztlich nicht zugetraut habe.

6

Der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer sieht sich durch den angegriffenen Beschluss in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 20 und Art. 104 GG verletzt. Bei ihm handele es sich um einen "Altfall", so dass er nach der Rechtsprechung des [X.]. 5 und 7 [X.] nach Ablauf von zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung zwingend zu entlassen sei. Auf die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten dürfe es dabei nicht ankommen. Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

7

Ferner macht der Beschwerdeführer die Zahlung von [X.], die ihm wegen seines Status als Sicherungsverwahrter im Mai 2010 nicht hätten auferlegt werden dürfen, und die Festsetzung einer Entschädigungszahlung geltend.

8

1. Das [X.] hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Es führt insbesondere aus, das [X.] sei in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten vorliege. Die durch den Sachverständigen festgestellte "mindestens 50-prozentige Rückfallwahrscheinlichkeit" sei nachvollziehbar. Die Wertung, dass es sich bei den drohenden Straftaten um schwerste Taten handle, sei verfassungsrechtlich nicht angreifbar.

9

2. Der [X.] hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Er ist der Auffassung, die oberlandesgerichtliche Rechtsanwendung halte der verfassungsrechtlichen Nachprüfung noch stand. Das [X.] habe das Vorliegen einer hochgradigen Gefahr für schwerste Gewalt- und Sexualstraftaten willkürfrei angenommen. Da eine besonders hohe Rückfallgefahr festgestellt worden sei, stelle sich die Fortdauer auch dann als verhältnismäßig dar, wenn die drohenden Straftaten innerhalb der Bandbreite schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten eher am unteren Ende anzusiedeln seien. Zudem sei die Annahme einer psychischen Störung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch wenn der Sachverständige nicht sämtliche Elemente einer dis[X.] Persönlichkeitsstörung habe nachweisen können, habe das Gericht das Vorliegen dieser Störung insbesondere unter Bezugnahme auf [X.] festgestellt.

3. [X.] hat dem [X.] ebenso vorgelegen wie das [X.].

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]) und auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende [X.] nach § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] erfüllt sind. Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer einer vor 1999 angeordneten Sicherungsverwahrung über den Zeitraum von zehn Jahren hinaus - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]; vgl. [X.] 128, 326 <399>). Die Verfassungsbeschwerde ist im Wesentlichen offensichtlich begründet.

1. Soweit der Beschwerdeführer die Erstattung von [X.] und die Zahlung einer Entschädigung geltend macht, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, da sie nicht hinreichend substantiiert (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.]) und der Rechtsweg gemäß [ref=7a1ec1f4-c362-44a9-9dc6-0297390a0748]§ 90 Abs. 2 Satz 1 [X.][/ref] nicht erschöpft ist.

2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss zur Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 3 GG. Er genügt den Anforderungen nicht, die sich für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage der verfassungswidrigen, aber für vorläufig weiter anwendbar erklärten Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB aus Nr. III.2.a) des Tenors des Urteils des [X.] des [X.] vom 4. Mai 2011 ([X.] 128, 326 <399>) ergeben.

a) Das [X.] hat - neben anderen Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung - auch § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des [X.] von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 ([X.]) wegen Verstoßes gegen das [X.]. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG erklärt ([X.] 128, 326 f.). Zugleich hat es gemäß § 35 [X.] die Weitergeltung der Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, angeordnet ([X.] 128, 326 <332>). Danach darf § 67d Abs. 3 Satz 1 nur nach Maßgabe einer - insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrenprognose und die gefährdeten Rechtsgüter - strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden ([X.] 128, 326 <406>).

Darüber hinaus hat das [X.] festgestellt, dass § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB - soweit er zur Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus auch bei Verurteilten ermächtigt, deren Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des [X.] von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 ([X.]) begangen wurden - mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar ist ([X.] 128, 326 <331, 332>). In diesen Fällen tritt unter Berücksichtigung der Wertungen der [X.] der legitime gesetzgeberische Zweck, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen, weitgehend hinter das grundrechtlich geschützte Vertrauen in ein Ende der Sicherungsverwahrung nach Ablauf von zehn Jahren zurück (vgl. [X.] 128, 326 <399>). Daher darf gemäß Nr. III.2.a) des Tenors des Urteils des [X.] des [X.] vom 4. Mai 2011 die Fortdauer der Sicherungsverwahrung nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des [X.] und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter ([X.]- [X.]) leidet ([X.] 128, 326 <332>).

Dabei handelt es sich bei dem Begriff der "psychischen Störung" in § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mit den überkommenen Kategorisierungen der Psychiatrie nicht deckungsgleich ist. Ob seine Merkmale im Einzelfall erfüllt sind, haben die Gerichte eigenständig zu prüfen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 15. September 2011 - 2 BvR 1516/11 -, juris, Rn. 39). In den Fällen einer "dis[X.] Persönlichkeitsstörung" kommt es im Rahmen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] entscheidend auf den Grad der objektiven Beeinträchtigung der Lebensführung in [X.] und ethischer Hinsicht an, der anhand des gesamten - auch des strafrechtlich relevanten - Verhaltens des Betroffenen zu bestimmen ist (vgl. [X.], a.a.[X.], Rn. 40).

Darüber hinaus beinhaltet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die Anordnung und Fortdauer der Sicherungsverwahrung als letztes Mittel nur in Betracht kommt, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen nicht ausreichen, um den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit Rechnung zu tragen ([X.] 128, 326 <379>; 70, 297 <314>).

Zwar setzt die Feststellung der dargestellten Voraussetzungen für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung eine wertende richterliche Entscheidung voraus, die das [X.] nicht in allen Einzelheiten nachprüfen kann (vgl. [X.] 70, 297 <314, 315>). Aufgrund des zunehmenden Gewichts des Freiheitsanspruchs erhöhen sich bei langandauernden Unterbringungen aber die Anforderungen an die Wahrheitserforschung (vgl. im Einzelnen [X.] 109, 133 <162 ff.>) und die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte (vgl. [X.] 70, 297 <316>). Daher ist in diesen Fällen im Wege verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die Annahme der Voraussetzungen für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage beruht und dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung Rechnung getragen ist (vgl. [X.] 70, 297 <308 f.>).

b) Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt der Beschluss des [X.]s Nürnberg vom 7. Mai 2012 nicht. Das Gericht legt zwar die Anforderungen, die sich aus Nr. III.2.a) des Tenors des Urteils des [X.] des [X.] vom 4. Mai 2011 für die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ergeben, seiner Entscheidung zugrunde. Die Feststellungen des Gerichts vermögen aber die Annahme einer hochgradigen Gefahr schwerster Sexual- oder Gewaltstraftaten nicht zu rechtfertigen und verletzen dadurch das Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers. Auch im Übrigen trägt der Beschluss den Anforderungen an eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht hinreichend Rechnung.

aa) Hinsichtlich des Vorliegens einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten geht das [X.] in seinem angegriffenen Beschluss davon aus, dass beide Merkmale nicht isoliert voneinander zu betrachten seien. [X.] ein Delikt im Raum, das sich am unteren Rand der Bandbreite bewege, bedürfe es einer besonders hohen Rückfallgefahr. Vorliegend bestehe nach den Feststellungen des Sachverständigen die Gefahr von Straftaten, die in ihrer Intensität den bisher begangenen Delikten entsprechen. Dabei sei insbesondere auf die letzte begangene Tat abzustellen, bei der der Beschwerdeführer ein Messer eingesetzt habe, um sexuelle Handlungen vornehmen zu können. Derartige Taten seien gemäß [ref=d657afc5-eff8-44c9-ae87-4075568f26f1]§ 177 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1 [X.]] mit einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht. Da der Sachverständige eine mindestens 50-prozentige Rückfallwahrscheinlichkeit angenommen habe, liege eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten vor.

Damit lässt das [X.] bereits die von ihm selbst dargelegte Wechselwirkung zwischen Rückfallrisiko und Deliktsschwere außer Betracht. Auch wenn in Fällen des § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB angesichts einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine "schwerste Sexualstraftat" im Sinne der Übergangsregelung des [X.] vom 4. Mai 2011 vorliegen kann, ist zu berücksichtigen, dass es noch schwerere, mit höheren Strafdrohungen verbundene Sexual- und Gewaltdelikte gibt (§§ 176b, 178, 211, § 212 Abs. 2, § 251 StGB). Die sexuelle Nötigung gemäß § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB ist daher allenfalls dem mittleren Bereich der schwersten Taten einzuordnen. Vor diesem Hintergrund hätte aber für das [X.] Veranlassung bestanden, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine Rückfallwahrscheinlichkeit von (mindestens) 50 % ausreicht, um eine "hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten" annehmen zu können. Hierzu verhält sich der angegriffene Beschluss jedoch nicht.

Vor allem aber gibt das Gericht die Feststellungen des Sachverständigen nur unvollständig wieder. Zwar hat er in seinem Gutachten die Wahrscheinlichkeit weiterer Gewalt- und Sexualdelikte mit über 50 % eingestuft. Bei der mündlichen Anhörung hat er demgegenüber nur noch von einer Wahrscheinlichkeit von 50 % gesprochen und diesen Wahrscheinlichkeitsgrad auf "einschlägige Delikte (vorwiegend mit Drohungen)" beschränkt. Unter einschlägigen Delikten versteht der Sachverständige ausweislich seines Gutachtens Handlungen der Körperverletzung bis hin zur Vergewaltigung, aber auch andere Delikte wie Betrug, Diebstahl oder Unterschlagung. Außerdem hat er im Rahmen der mündlichen Anhörung erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit für noch gravierendere Delikte deutlich geringer sei.

Damit rechtfertigen die Feststellungen des Sachverständigen die Annahme einer hochgradigen Gefahr sexueller Nötigungen im Sinne des § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB oder vergleichbar schwerwiegender Straftaten nicht. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerster Sexual- oder Gewaltstraftaten kann weder aus den Ausführungen des Sachverständigen noch aus sonstigen Umständen abgeleitet werden. Eine Fortdauer der Sicherungsverwahrung hätte aber die Feststellung einer hochgradigen Gefahr der Begehung gerade derartiger Straftaten zur Voraussetzung. Insofern beruhen die Feststellungen des [X.]s auf einer unzureichenden tatsächlichen Grundlage. Um eine überwiegende Wahrscheinlichkeit schwerster Sexualstraftaten anzunehmen, hätte es weiterer Sachaufklärung bedurft.

bb) Auch die Annahme des Vorliegens einer "psychischen Störung" im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] begegnet durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Das [X.] nimmt insoweit das Vorliegen einer dis[X.] Persönlichkeitsstörung an.

Im vorliegenden Verfahren hat der Sachverständige erklärt, angesichts der Weigerung des Beschwerdeführers zur Mitwirkung bei der Gutachtenerstellung eine entsprechende Diagnose nicht stellen zu können. Soweit das [X.] stattdessen zur Begründung einer dis[X.] Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers auf die Feststellungen der Vorgutachter zurückgreift, hat der Sachverständige in der mündlichen Anhörung erklärt, dass eine Persönlichkeitsstörung nur festgestellt werden könne, wenn eine Beeinträchtigung der Lebensführung durch einen Symptomkomplex vorliege. Dies sei bei früheren Gutachten aber nicht geprüft worden. Hierzu verhält sich der angegriffene Beschluss nicht.

Des Weiteren begründet das [X.] das Vorliegen einer dis[X.] Persönlichkeitsstörung damit, dass der Beschwerdeführer in seiner Lebensführung in [X.] und ethischer Hinsicht objektiv beeinträchtigt sei, weil er seinen spontanen körperlichen Angriffen gegen Frauen keine willentliche Gegenwehr entgegensetzen könne. Worauf sich diese Annahme gründet, ist nicht ersichtlich. Sie steht im Widerspruch zu den Feststellungen des anlässlich der Begehung der [X.] eingeholten Sachverständigengutachtens, auf das das [X.] sich in seinem Beschluss ebenfalls bezieht. Dort wurde ausdrücklich festgestellt, der Beschwerdeführer unterliege keinem zwanghaften Trieb. Vielmehr sei sein Gewissen nicht ausreichend ausgebildet und er verfüge über ein hohes Maß an Bedenkenlosigkeit. Vor diesem Hintergrund hätte die Annahme einer dis[X.] Persönlichkeitsstörung weiterer Begründung bedurft.

cc) Darüber hinaus verhält der angegriffene Beschluss sich nicht zu der Frage, ob und inwieweit die Möglichkeit bestand, durch Maßnahmen der Führungsaufsicht ein ausreichendes Maß an Kontrolle und Betreuung des Beschwerdeführers zu erreichen.

3. Der Beschluss des [X.]s Nürnberg ist daher aufzuheben. Die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 [X.]).

4. Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 [X.].

Meta

2 BvR 1238/12

07.05.2013

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Nürnberg, 7. Mai 2012, Az: 2 Ws 197/12, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 104 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 2 Abs 6 StGB, § 67d Abs 3 S 1 StGB, § 67d Abs 3 S 2 StGB, § 68a StGB, § 68b StGB, § 177 Abs 4 Nr 1 StGB, § 1 Abs 1 Nr 1 ThUG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 07.05.2013, Az. 2 BvR 1238/12 (REWIS RS 2013, 6071)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 6071

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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