Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 21.03.2023, Az. 1 BvR 1620/22

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2023, 1982

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Willkürverbots (Art 3 Abs 1 GG) durch nicht nachvollziehbare fachgerichtliche Auslegung des Begriffs der "unbilligen Härte" iSd § 29 Abs 3 BAföG - hier: Anrechnung eines Erbteils von einem Zwölftel am von weiteren Familienmitgliedern bewohnten Haus ohne Berücksichtigung des mit einer Zwangsversteigerung verbundenen finanziellen Verlustes


Tenor

1. Der Bescheid des [X.] vom 9. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. April 2021 - jeweils Förderungsnummer: (…) -, das Urteil des [X.] vom 18. Oktober 2021 - 3 K 1214/21.F - und der Beschluss des [X.] vom 21. Juli 2022 - 10 A 2170/21.Z - verletzen den Beschwerdeführer in Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil des [X.] und der Beschluss des [X.] werden aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

2. Das [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein verwaltungsgerichtliches Verfahren um die Ablehnung von Leistungen nach dem [X.] ([X.]) wegen der Anrechnung von Vermögen.

2

Der Beschwerdeführer beantragte im November 2020 die Bewilligung von Leistungen nach dem [X.] ([X.]) für ein im Wintersemester 2020/21 aufgenommenes Studium. Er hat an einem Einfamilienhaus in ungeteilter [X.] einen Erbanteil von einem Zwölftel, den er neben seiner Mutter und seinen beiden [X.] nach dem Tod des [X.] erlangt hat. Das Einfamilienhaus weist eine Wohnfläche von 161 qm auf und wird nach den Feststellungen des angegriffenen Urteils des [X.] von seiner Mutter, seinen beiden [X.] und ihm selbst bewohnt. Die Behörde hat den Wert des Erbanteils des Beschwerdeführers mit 26.219 Euro angesetzt.

3

Der Widerspruch des Beschwerdeführers gegen den Ablehnungsbescheid für den Bewilligungszeitraum November 2020 bis September 2021 wurde unter anderem mit der Begründung zurückgewiesen, eine wirtschaftliche Unverwertbarkeit des "Miteigentumsanteils" sei nicht gegeben. Sollte kein Einvernehmen über eine Auseinandersetzung der [X.] zu erzielen sein, könne die Zwangsversteigerung betrieben werden.

4

Die gegen diese Entscheidungen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht unter anderem mit folgender Begründung ab: Der Erbanteil des Beschwerdeführers könne nicht gemäß § 29 Abs. 3 [X.] zur Vermeidung unbilliger Härten anrechnungsfrei bleiben. Zwar könne eine unbillige Härte auch bei wirtschaftlicher Unverwertbarkeit vorliegen. Eine solche sei hier jedoch nicht gegeben. Dabei könne dahinstehen, ob für den Beschwerdeführer tatsächlich keine Möglichkeit bestehe, den Erbanteil zu beleihen oder an seine Mutter zu veräußern. Auch greife der Einwand des Beschwerdeführers nicht durch, dass seine Mutter zu einer einvernehmlichen Aufhebung der [X.] nicht bereit sei. Davon könne der Einsatz öffentlicher Mittel trotz vorhandenen Vermögens nicht abhängig gemacht werden, zumal über den Erbanteil als Ganzes auch ohne Zustimmung des Miterben verfügt werden könne. Umstände, die wegen unzumutbarer Konsequenzen für die Miterben als gleichsam moralisches Hindernis für eine Verwertung empfunden würden, erfüllten nicht den Tatbestand einer unbilligen Härte. Anhaltspunkte dafür, dass sich das Einfamilienhaus nicht zu einem angemessenen Preis veräußern ließe, seien weder ersichtlich noch vorgetragen.

5

Der [X.] [X.]hof lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung ab. Die Annahme des [X.], der Erbanteil des Beschwerdeführers an dem Hausgrundstück sei wirtschaftlich verwertbar, begegne keinen ernstlichen Zweifeln. Insbesondere stelle es keine unbillige Härte im Sinne des § 29 Abs. 3 [X.] dar, dass der Beschwerdeführer sich aus moralischen Gründen an einer Verwertung gehindert sehe, weil er diese nur unter Inkaufnahme eines innerfamiliären Konflikts erreichen könne. Die Vermeidung eines innerfamiliären Konflikts sei lediglich ein außerrechtliches, sittlich-moralisches Argument, das im Hinblick auf die grundsätzliche Nachrangigkeit der Ausbildungsförderung und den Ausnahmecharakter der über den Freibetrag hinausgehenden Anrechnungsfreistellung keine unbillige Härte begründen könne.

6

Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Entscheidungen in seinen Grundrechten aus Art. 3 Abs. 1 GG und dem Willkürverbot, Art. 6 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verletzt. Im Übrigen verstoße die Anrechnung seiner Halbwaisenrente nach § 23 Abs. 4 Nr. 1 [X.] gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Es fehlten Feststellungen dazu, dass eine Verwertung des [X.] auch tatsächlich möglich gewesen wäre. Seine Mutter sowie seine beiden jüngeren Brüder, die noch die Schule besuchten, seien nicht bereit, die [X.] mit dem Ziel einer Veräußerung des gemeinsam bewohnten Familienhauses aufzuheben. Sie seien finanziell auch nicht in der Lage, seinen Erbanteil am Wohngrundstück auszulösen. Die Gerichte verstießen gegen den Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG, wenn sie ihn stattdessen auf eine Verwertung im Wege der Zwangsversteigerung des [X.] verwiesen. Dadurch würde das Familienleben zerstört, weil nicht nur er selbst, sondern auch seine Mutter und seine Brüder ihre Wohnstatt verlören. Er müsse damit rechnen, dass dann seine Familie künftig nicht mehr mit ihm zusammenwohnen wolle. Hinzu komme, dass bei einer solchen Verwertung nur Niedrigpreise erzielt werden könnten. Ihm stehe ohnehin nur ein Zwölftel des [X.] zu.

7

Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen. Das [X.] Ministerium der Justiz, das [X.] Ministerium für Wissenschaft und Kunst sowie das vom Ausgangsverfahren begünstige Studentenwerk hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

8

Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der geltend gemachten Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG zulässig und begründet. Ihre Annahme ist zur Durchsetzung dieses Grundrechts angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt und die Verfassungsbeschwerde ist insoweit offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]). Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die Handhabung des einfachen Rechts deutet auf einen leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen hin (vgl. [X.] 90, 22 <25>).

9

1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen mit ihrer Annahme, dass keine unbillige Härte im Sinne des § 29 Abs. 3 [X.] wegen der Vermögensanrechnung des Erbteils von einem Zwölftel an dem Hausgrundstück der Familie vorliege, den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung als Willkürverbot.

Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den konkreten Fall sind zwar Sache der dafür zuständigen Gerichte und daher der Nachprüfung durch das [X.] grundsätzlich entzogen; ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt jedoch unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot in Betracht (vgl. [X.] 74, 102 <127>; stRspr). Ein solcher Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Von einer willkürlichen Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. [X.] 4, 1 <7>; 74, 102 <127>; 83, 82 <84>; 87, 273 <278 f.>; 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>; stRspr). Dieser Maßstab gilt auch für die verfassungsrechtliche Überprüfung der von den Fachgerichten vorgenommenen Beweiswürdigung und der von ihnen getroffenen tatsächlichen Feststellungen (vgl. [X.] 4, 294 <297>; 96, 189 <203>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 23. März 2020 - 2 BvR 1615/16 -, Rn. 43 m.w.N.).

In den angegriffenen Entscheidungen wird letztlich maßgeblich darauf abgestellt, es sei dem Beschwerdeführer zumutbar, die Auseinandersetzung der [X.] zu betreiben und seinen Erbanteil von einem Zwölftel im Wege der Zwangsversteigerung des [X.] zu verwerten. Diese Annahme ist ausgehend von der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung der Härtefallregelung des § 29 Abs. 3 [X.] nicht mehr nachvollziehbar. Danach stellt auch die Anrechnung wirtschaftlich nicht verwertbaren Vermögens eine unbillige Härte dar (vgl. BVerwGE 88, 303 <307 f.> m.w.N.; [X.], Urteil vom 7. Juli 2011 - 12 S 2872/10 -, Rn. 24 f. m.w.N.). Ein wirtschaftliches Verwertungshindernis kann auch die Notwendigkeit begründen, Vermögen im Wege der Zwangsversteigerung eines [X.] einzusetzen, weil dabei regelmäßig ein erheblicher wirtschaftlicher Verlust entsteht (vgl. [X.], Beschluss vom 12. Januar 2012 - 12 C 11.1343 -, Rn. 28; [X.], Urteil vom 15. Mai 2006 - 11 K 2940/05 -, Rn. 25; VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 5. Juli 2002 - 15 [X.]/02 -, Rn. 9; [X.], Beschluss vom 13. März 2008 - 5 K 2552/07 -, Rn. 51 ff.; ebenso [X.], in: [X.], [X.], 5. Aufl., § 29 Rn. 15 [April 2016] m.w.N.). Die angegriffenen Entscheidungen enthalten hierzu keine Feststellungen noch wird die Frage eines wirtschaftlichen Verlustes im Falle der Zwangsversteigerung überhaupt aufgegriffen. Stattdessen nimmt das Verwaltungsgericht trotz der unterstellten Notwendigkeit einer Zwangsversteigerung an, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass sich das hier in Rede stehende Einfamilienhaus nicht zu einem angemessenen Preis verkaufen lasse. Das ist schlichtweg unverständlich.

Darüber hinaus lassen die angegriffenen Entscheidungen bei der Anwendung der Härtefallregelung des § 29 Abs. 3 [X.] völlig unberücksichtigt, dass die Mutter und die beiden Brüder des Beschwerdeführers zu einer voraussichtlich unwirtschaftlichen Verwertung ihres Anteils am gemeinsam bewohnten Hausgrundstück gezwungen würden, obwohl sie nicht zum Einsatz ihres Vermögens verpflichtet sind, um dem Beschwerdeführer ein Studium zu ermöglichen (§ 11 Abs. 2 Satz 1 [X.]). Dies ist umso weniger nachvollziehbar, als dem Beschwerdeführer mit nur einem Zwölftel ein im Verhältnis zu seinen Angehörigen nur geringer Anteil am Hausgrundstück von dementsprechend auch nur begrenztem Wert zusteht (vgl. [X.], Beschluss vom 12. Januar 2012 - 12 C 11.1343 -, Rn. 28).

2. Danach ist festzustellen, dass der Bescheid des [X.] vom 9. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. April 2021, das Urteil des [X.] Frankfurt am Main vom 18. Oktober 2021 und der Beschluss des [X.]n [X.]hofs vom 21. Juli 2022 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Das Urteil des [X.] und der Beschluss des [X.]hofs sind aufzuheben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.]).

3. Das Urteil des [X.] und der Beschluss des [X.]hofs sind aufzuheben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.]).

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1620/22

21.03.2023

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 21. Juli 2022, Az: 10 A 2170/21.Z, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, §§ 26ff BAföG, § 11 Abs 1 BAföG, § 11 Abs 2 S 1 BAföG, § 26 BAföG, § 29 Abs 3 BAföG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 21.03.2023, Az. 1 BvR 1620/22 (REWIS RS 2023, 1982)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 1982 NJW 2023, 1876 REWIS RS 2023, 1982

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