Bundessozialgericht, Beschluss vom 26.06.2014, Az. B 2 U 75/14 B

2. Senat | REWIS RS 2014, 4524

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Recht auf ein faires Verfahren - Mündlichkeitsgrundsatz - Antrag auf Terminsverlegung - erheblicher Grund - subjektive Sicht - Mandatsentziehung wegen Vertrauensverlust - Falschberatung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 28. Februar 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Arbeitsunfalles und die Gewährung einer Verletztenrente. Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom [X.]). Hiergegen hat die Klägerin Berufung zum [X.] eingelegt.

2

Im Berufungsverfahren hat der Vorsitzende des 8. Senats des [X.] Termin zur mündlichen Verhandlung auf "Freitag, den 28.02.2014, 10:00 Uhr" bestimmt. Mit Schreiben vom [X.] hat die bevollmächtigte [X.] ([X.]) beantragt, den Termin zu verlegen, weil der Sachbearbeiter wegen eines Trauerfalls in der Familie verhindert sei und die Klägerin die Vertretung durch einen anderen Bevollmächtigten nicht wünsche. Der [X.] hat daraufhin per Telefax vom [X.] den [X.] abgelehnt, denn der Klägerin sei die Vertretung durch einen anderen Sozialrechtsreferenten der [X.] zumutbar. Mit Schreiben vom [X.] entzog die Klägerin der [X.] das Mandat. Da sie eine Falschauskunft erhalten habe und einige fachliche Fragen nicht hinreichend beantwortet worden seien, habe sie kein Vertrauen mehr. Mit weiterem Schreiben vom selben Tag beantragte die Klägerin unter Hinweis auf einen Vertrauensverlust erneut die Verlegung des [X.]. Der [X.] lehnte mit Telefax vom [X.] auch diesen Antrag ab, weil sich dem Vorbringen der Klägerin ein Verlegungsgrund nicht entnehmen lasse. Auf das weitere Schreiben der Klägerin vom [X.], mit dem die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und wiederum die Verlegung beantragt worden war, hat das [X.] am selben Tag mitgeteilt, dass über die Prozesskostenhilfe in der mündlichen Verhandlung entschieden werde und es bei der Ablehnung des [X.]s verbleibe.

3

Das [X.] hat in Abwesenheit der Klägerin die mündliche Verhandlung durchgeführt und anschließend die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es [X.] ausgeführt, die Kündigung eines Mandats einen Tag vor einem schon länger anberaumten Gerichtstermin könne nur ausnahmsweise eine Terminverlegung rechtfertigen. Ein irreparabler Vertrauensverlust sei nicht widerspruchsfrei dargelegt worden (Urteil vom 28.2.2014).

4

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin als Verfahrensfehler [X.] die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.

5

Sie beantragt,

        

die Revision zuzulassen.

6

Die Beklagte hat sich nicht geäußert.

7

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

8

Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) iVm dem [X.] auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG) und dem Grundsatz der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 [X.]G) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann. Ob diese zur Kennzeichnung des [X.] überhaupt notwendig waren (vgl B[X.] vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - [X.] 4-1750 § 227 [X.] RdNr 7 mwN), kann daher offenbleiben.

9

Der Entscheidung des [X.] liegt ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G zugrunde. Das Berufungsgericht hat das Grundrecht der Klägerin auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es das angegriffene Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung verkündet hat, obwohl sie weder daran teilgenommen hat noch ordnungsgemäß vertreten war. Daher ist die Entscheidung aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 [X.]G).

Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 [X.]G, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Dieser Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Sowohl die in Art 6 Abs 1 der [X.] als auch im Falle eines - wie hier - vom [X.] erlassenen [X.] nach § 153 Abs 1 und 4 [X.]G grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs. Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl B[X.] vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - [X.] 3-1500 § 153 [X.] mwN; [X.] vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - [X.]E 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägungen miteinbezogen wird ([X.] vom 19.7.1967 - 2 BvR 639/66 - [X.]E 22, 267, 274 und vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - [X.]E 96, 205, 216 f). Bei einem Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben oder nicht, Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung selbst zu äußern (B[X.] vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - [X.] 4-1750 § 227 [X.] RdNr 8).

Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung umfasst auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist (§ 227 Abs 1 ZPO iVm § 202 [X.]G). Liegt ein erheblicher Grund vor, ist das Gericht zur Terminverlegung verpflichtet, ein Ermessen ist ihm nicht eingeräumt. Das Recht auf rechtliches Gehör ist daher auch dann verletzt, wenn das Bestehen eines erheblichen Grundes zu Unrecht verneint wird (B[X.] vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 - [X.] 4-1750 § 227 [X.] RdNr 8). Das ist hier der Fall. Die Klägerin hat Umstände glaubhaft dargetan, die dem [X.] Anlass zur Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung geben mussten.

Ein erheblicher Grund für eine Terminänderung liegt zwar nicht schon dann vor, wenn ein Beteiligter wegen einer Mandatsentziehung in der mündlichen Verhandlung voraussichtlich nicht vertreten sein wird. Entscheidend ist vielmehr, ob die Beendigung der [X.] selbst auf einem erheblichen Grund beruht, weil es dem Beteiligten nicht mehr zugemutet werden konnte, sich von seinem früheren Bevollmächtigten auch weiterhin vertreten zu lassen (BVerwG vom [X.] - 7 [X.]/98 - juris Rd[X.] mwN). Ein solcher Grund ist bei der Klägerin darin zu erblicken, dass nach ihrer Überzeugung das Vertrauen in eine angemessene Prozessvertretung durch die [X.] erschüttert war. Die Klägerin hat mit ihrem [X.] geltend gemacht, dass Mitarbeiter der [X.] ihr eine Falschauskunft gerade wegen der [X.] vor dem [X.] erteilt hätten und nicht in der Lage gewesen seien, einige fachliche Fragen zu beantworten. Die wegen dieser Umstände von der Klägerin angenommene Einschätzung, es fehle an einem die Fortsetzung der Prozessvertretung tragenden Vertrauensverhältnis, erscheint jedenfalls nachvollziehbar und glaubhaft. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass zur Sicherstellung effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) an die Beurteilung der Frage, ob der Beteiligte zumutbar auf seinen bisherigen Prozessbevollmächtigten verwiesen werden kann, keine übermäßig strengen Maßstäbe angelegt werden dürfen. Es kommt vielmehr darauf an, ob sich - wie hier - die Sachlage aus Sicht des Beteiligten (subjektiv) so darstellen konnte, dass das Vertrauensverhältnis zu seinem Bevollmächtigten erschüttert war, weil er sich nicht hinreichend sachgerecht vertreten fühlen durfte (B[X.] vom 11.12.2002 - B 6 KA 8/02 R - juris RdNr 25). Die zur Begründung ihrer [X.] aufgezeigten Umstände lassen die Unzufriedenheit der Klägerin mit der Tätigkeit der [X.] erkennen und rechtfertigen jedenfalls deren subjektive Annahme eines Vertrauensverlustes.

Der Senat verkennt nicht, dass die [X.] erst zwei Tage vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung beendet worden ist. Allein aus diesem Verhalten kann aber nicht geschlossen werden, dass die Klägerin mit der Mandatsentziehung und den [X.]n den Rechtsstreit rechtsmissbräuchlich hätte verzögern wollen. Auch sonstige Umstände, die Verzögerungstendenzen erkennen ließen, sind nicht ersichtlich.

Wird einem Beteiligten das rechtliche Gehör dadurch versagt, dass es ihm nicht ermöglicht wird, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, so ist davon auszugehen, dass dies für eine aufgrund dieser Verhandlung ergangene Entscheidung ursächlich geworden ist (B[X.] vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - [X.] 4-1750 § 227 [X.] RdNr 7 mwN). Gründe, welche die Ursächlichkeit des gerügten [X.] der Verletzung des rechtlichen Gehörs für das angefochtene Urteil ausschließen könnten, sind nicht ersichtlich.

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vor, kann auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen werden (§ 160a Abs 5 [X.]G). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 2 U 75/14 B

26.06.2014

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Reutlingen, 4. Februar 2013, Az: S 8 U 2412/12, Gerichtsbescheid

§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 1 GG, § 124 Abs 1 SGG, § 202 SGG, § 227 Abs 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 26.06.2014, Az. B 2 U 75/14 B (REWIS RS 2014, 4524)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 4524

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 BvR 1621/94

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