Bundesfinanzhof, Urteil vom 18.12.2013, Az. III R 50/11

3. Senat | REWIS RS 2013, 139

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Gegenstand

Kindergeld für einen polnischen Saisonarbeitnehmer


Leitsatz

NV: Die freiwillige Mitgliedschaft eines Selbständigen in der Landwirtschaftlichen Sozialversicherung Polens kann ausreichen, um den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 zu eröffnen und --bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen-- einen Anspruch auf deutsches Differenzkindergeld zu begründen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist [X.] Staatsangehöriger. Er arbeitete von Mai bis September 2005 als Saisonarbeitnehmer in der [X.] ([X.]). Er lebt mit seiner --im Streitzeitraum nicht erwerbstätigen-- Ehefrau und seinem minderjährigen [X.] in [X.]. Dort bezog seine Frau auch [X.] Familienleistungen.

2

Auf seinen Antrag hin setzte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) für den Zeitraum Mai bis September 2005 Kindergeld in Höhe von monatlich 77 € fest. Seine auf die Gewährung des vollen monatlichen Kindergelds gerichtete Klage wies das Finanzgericht ([X.]) ab. Es ging davon aus, dass dem Kläger kein höheres als das von der Familienkasse bereits festgesetzte Kindergeld zustehe. Der dem Grunde nach gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. [X.]. § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bestehende Kindergeldanspruch werde zwar nicht durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften ausgeschlossen. Doch greife wegen des Bezugs [X.] Familienleistungen der Ausschlusstatbestand des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein.

3

Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Ziel, das volle [X.] Kindergeld zu erhalten, weiter. Er rügt, dass die vom [X.] zur Begründung des [X.] herangezogene Vorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gegen [X.]srecht verstößt.

4

Der Kläger beantragt, das [X.]-Urteil aufzuheben und die Familienkasse unter Aufhebung ihres Bescheids vom 14. Februar 2008 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 22. April 2008 sowie in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. April 2008 zu verpflichten, gegenüber dem Kläger Kindergeld für das Kind K für die Monate Mai bis September 2005 in gesetzlicher Höhe von insgesamt 770 € festzusetzen und unter Berücksichtigung der bereits erfolgten hälftigen Festsetzung zu gewähren.

5

Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

6

Der Kläger sei nach den Feststellungen des [X.] weder in [X.] noch in [X.] sozialversichert gewesen, so dass der persönliche Geltungsbereich der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern ([X.] 1408/71), in ihrer durch die Verordnung ([X.]) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 --[X.] 118/97-- (Amtsblatt der Europäischen [X.]en 1997, Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung ([X.] 1408/71), im Streitfall nicht eröffnet gewesen sei. Ob das auch im Hinblick auf seine Ehefrau gelte, lasse sich dem angegriffenen Urteil nicht entnehmen. Es müsse daher auf die spezielle gemeinschaftsrechtliche Konkurrenzregelung in Art. 12 Abs. 2 der [X.] 1408/71 mit der Folge zurückgegriffen werden, dass hälftiges [X.]s Kindergeld festzusetzen sei.

Entscheidungsgründe

7

II. [X.]ie Familienkasse … der [X.] ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der [X.] … --Familienkasse-- eingetreten (s. dazu Beschluss des [X.] --BFH-- vom 3. März 2011 V B 17/10, [X.], 1105, unter II.A.).

III.

8

[X.]ie Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

9

1. [X.]as [X.] ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass ein Kindergeldanspruch des Klägers nach dem EStG jedenfalls wegen der in [X.] bezogenen Leistungen durch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG insgesamt ausgeschlossen wird. Im Streitfall kommt die Gewährung von [X.]ifferenzkindergeld in Betracht. [X.]er [X.] kann aufgrund der vom [X.] getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen, ob ein solcher Anspruch tatsächlich besteht.

a) § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sieht zwar vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind, zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre. [X.]ie Auslegung dieser Vorschrift hat jedoch in den Fällen, in denen der persönliche Anwendungsbereich der [X.] 1408/71 eröffnet und [X.] nach Art. 13 ff. [X.] 1408/71 der nicht zuständige Mitgliedstaat und auch nicht der Wohnmitgliedstaat des betreffenden Kindes ist, unter Beachtung der Anforderungen des Primärrechts der [X.] auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erfolgen (Urteil des Gerichtshofs der [X.] --EuGH-- vom 12. Juni 2012 [X.]/10, [X.]/10, [X.]/[X.], [X.]Entscheidungsdienst 2012, 999). Werden in einem solchen Fall in dem anderen Mitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt, darf der Anspruch auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nur in entsprechender Höhe gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn anderenfalls das Freizügigkeitsrecht des Wanderarbeitnehmers beeinträchtigt wäre.

b) Nach diesen Grundsätzen könnte eine Anspruchsberechtigung des Klägers bestehen.

[X.]as [X.] ist davon ausgegangen, dass der Kläger nicht dem persönlichen Geltungsbereich der [X.] 1408/71 unterliegt, weil er nicht die Voraussetzungen erfüllt, die in ihrem Anhang I Teil I Buchst. [X.] aufgeführt sind. [X.]arauf kommt es indes nach der Rechtsprechung des [X.]s nicht an (BFH-Urteil vom 4. August 2011 III R 55/08, [X.], 316, [X.], 619). [X.]as angegriffene Urteil erweist sich in diesem Punkt auch nicht aus einem anderen Grund als zutreffend. [X.]as [X.] hat zwar festgestellt, dass der Kläger weder in [X.] noch in [X.] sozialversichert sei. [X.]ies widerspricht jedoch der von der [X.] Sozialversicherungsanstalt ([X.]) ausgestellten Bescheinigung vom 22. Mai 2009, deren gesamter Inhalt durch die ausdrückliche Erwähnung im [X.]-Urteil als festgestellt gilt. [X.]anach war der Kläger im Streitzeitraum zwar nicht bei der [X.] sozialversichert, er soll aber freiwillig der [X.] ([X.]) unterlegen haben. [X.]ie freiwillige Mitgliedschaft eines Selbständigen kann ausreichen, um den persönlichen Geltungsbereich der [X.] Nr. 1408/71 zu eröffnen (BFH-Urteil in [X.], 316, [X.], 619). [X.]as [X.] wird daher im zweiten Rechtsgang Feststellungen zum [X.] System der sozialen Sicherheit und zu dem konkreten Versichertenstatus des Klägers insbesondere im Hinblick auf die für Selbständige geltenden Regelungen in Art. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 zu treffen haben. Ist die [X.] 1408/71 einschlägig, was nicht fernliegend erscheint, dann kommt im Hinblick auf die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit als [X.] gemäß Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 14a Nr. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 zwar [X.] Recht zur Anwendung. [X.]ies schließt für sich genommen die Gewährung [X.] ([X.]ifferenz-)Kindergeldes aber nicht aus (BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.], 511, [X.], 1040).

2. [X.]er [X.] weist für den zweiten Rechtsgang außerdem auf Folgendes hin:

a) Ausgangspunkt für die Prüfung des Kindergeldanspruchs des Klägers ist die Frage, ob die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG vorgelegen haben. Wenn § 62 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a EStG nicht eingreift, muss das [X.] prüfen, ob der Kläger gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG kindergeldberechtigt war. [X.]ies setzt voraus, dass der Antragsteller aufgrund eines entsprechenden Antrages vom zuständigen Finanzamt ([X.]) nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde. Maßgeblich ist nach der [X.]srechtsprechung nicht die Antragstellung durch den Steuerpflichtigen, sondern wie er die hierauf erfolgende Reaktion des [X.] in dem maßgeblichen Einkommensteuerbescheid verstehen durfte (s. hierzu im Einzelnen [X.]surteile vom 24. Mai 2012 III R 14/10, [X.], 239, [X.], 897; in [X.], 511, [X.], 1040, und vom 18. Juli 2013 III R 9/09, [X.], 170).

b) Wie das [X.] in der angegriffenen Entscheidung bereits zutreffend entschieden hat, kann ein Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG nur für die Zeiträume entstehen, in denen der Kläger inländische Einkünfte erzielt hat (BFH-Urteile vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, [X.], 327, [X.], 491; in [X.], 511, [X.], 1040, und vom 18. Juli 2013 III R 59/11, [X.], 228). Insoweit hätte das [X.] demnach für den Fall, dass das [X.] den Kläger nach § 1 Abs. 3 EStG behandelt hat, zu prüfen, ob diesem im Streitzeitraum Einkünfte nach § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG i.V.m. § 11 EStG zugeflossen sind.

3. [X.]ie Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 50/11

18.12.2013

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 13. Juli 2011, Az: 15 K 1821/08 Kg, Urteil

§ 1 Abs 3 EStG 2002, § 62 Abs 1 Nr 2 Buchst b EStG 2002, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2002, EStG VZ 2005, Art 1 Buchst a EWGV 1408/71, Art 13 Abs 1 EWGV 1408/71, Art 14a Nr 1 Buchst a EWGV 1408/71

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 18.12.2013, Az. III R 50/11 (REWIS RS 2013, 139)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 139

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