Bundesfinanzhof, Urteil vom 12.09.2013, Az. III R 60/11

3. Senat | REWIS RS 2013, 2877

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Gegenstand

Kindergeld für einen entsandten polnischen Arbeitnehmer


Leitsatz

NV: Ist Deutschland nach den Bestimmungen der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 der nicht zuständige Mitgliedstaat und auch nicht der Wohnmitgliedstaat des betreffenden Kindes, dann ist die Konkurrenz zu Ansprüchen, die im zuständigen Mitgliedstaat bestehen, nach nationalem Recht zu lösen. Bei der Auslegung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sind die Anforderungen des Primärrechts der Union auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu beachten. Werden daher in einem solchen Fall in dem anderen Mitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt, dann darf der Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG gemäß § 65 Abs.1 Satz 1 Nr. 2 EStG nur in entsprechender Höhe gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden.

Tatbestand

1

I. Der [X.]läger und Revisionskläger ([X.]läger) ist [X.] Staatsangehöriger. Er arbeitete in den Zeiträumen vom 5. Juli bis 14. August 2004, vom 1. September 2004 bis 4. Februar 2005 und vom 4. Oktober bis 11. November 2006 im Auftrag seines [X.] Arbeitgebers in der [X.] ([X.]). In [X.] ist er abhängig beschäftigt und sozialversichert. Der [X.]läger lebt mit seiner nicht erwerbstätigen Ehefrau und seinen vier [X.]indern W, geb. am 7. [X.]ai 1985, [X.], geb. am 26. November 1988, [X.], geb. am 7. Dezember 1989, und [X.], geb. am 26. Juli 1991, in [X.]. Dort bezog er auch [X.] Familienleistungen. Lediglich für die beiden älteren [X.]inder W und [X.] erfolgten in den Jahren 2006 und 2007 keine Zahlungen mehr, weil diese [X.]inder die nach [X.]m Recht maßgebliche Altersgrenze überschritten beziehungsweise die Schule beendet hatten.

2

Seinen Antrag auf Festsetzung von [X.]indergeld lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) ab. Während der Einspruch erfolglos blieb, gab das Finanzgericht ([X.]) der [X.]lage zu einem geringen Teil statt. Es ging davon aus, dass eine [X.]indergeldberechtigung gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. [X.]. § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nur für solche [X.]onate bestanden habe, in denen der [X.]läger Einkünfte in [X.] erzielt habe. Der dem Grunde nach bestehende [X.]indergeldanspruch werde zwar nicht durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften ausgeschlossen. Doch greife wegen des Bezugs [X.] Familienleistungen der Ausschlusstatbestand des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein. Weil die [X.]inder W und [X.] in den [X.]onaten Oktober und November 2006 in [X.] nicht mehr berücksichtigungsfähig gewesen seien, sei insoweit [X.] [X.]indergeld zu gewähren.

3

[X.]it seiner Revision verfolgt der [X.]läger sein Ziel, in der fraglichen Zeitspanne ganzjährig [X.]indergeld für alle seine [X.]inder zu erhalten, weiter. Er rügt, dass das [X.] § 1 Abs. 3 EStG unzutreffend angewandt habe. Er sei nicht lediglich in den Zeiträumen seiner inländischen Beschäftigung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig i.S. des § 1 Abs. 3 EStG anzusehen. Vielmehr gelte die Fiktion der unbeschränkten Steuerpflicht für den gesamten Veranlagungszeitraum. Daher sei er dem Grunde nach ganzjährig i.S. des § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG anspruchsberechtigt. Die vom [X.] zur Begründung des [X.] herangezogene Vorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG verstoße gegen Gemeinschaftsrecht und könne die Abweisung seiner [X.]lage nicht rechtfertigen. Es sei daher eine [X.]lagestattgabe unter Abzug der in [X.] erhaltenen Familienleistungen geboten.

4

Der [X.]läger beantragt, das [X.]-Urteil "insoweit aufzuheben, als dass die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 02.03.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17.06.2010 weiter verpflichtet wird, gegenüber dem [X.]läger [X.]indergeld für die [X.]inder W, [X.], [X.] und [X.] für den Zeitraum [X.]ai 2004 bis einschließlich Dezember 2006 in gesetzlicher Höhe festzusetzen und zu gewähren".

5

Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

6

Der [X.]läger habe für die Zeiträume seiner Entsendung weiterhin den [X.] Rechtsvorschriften unterlegen. Da [X.] Familienleistungen tatsächlich gewährt worden seien, könne auch aus den Grundsätzen der [X.] des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) kein [X.] [X.]indergeldanspruch hergeleitet werden.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Familienkasse … der [X.] ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der [X.] … --Familienkasse-- eingetreten (s. dazu Beschluss des [X.] --[X.]-- vom 3. März 2011 V B 17/10, [X.], 1105, unter II.A.).

III.

8

Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

9

1. Das [X.] ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass ein Kindergeldanspruch des [X.] nach dem EStG jedenfalls wegen der in [X.] bezogenen Leistungen durch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG insgesamt ausgeschlossen wird.

a) § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sieht zwar vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind, zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre. Die Auslegung dieser Vorschrift hat jedoch in den Fällen, in denen der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern ([X.] Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung ([X.]) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 --[X.] Nr. 118/97-- (Amtsblatt der Europäischen [X.]en 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung eröffnet und [X.] nach Art. 13 ff. [X.] Nr. 1408/71 der nicht zuständige Mitgliedstaat und auch nicht der Wohnmitgliedstaat des betreffenden Kindes ist, unter Beachtung der Anforderungen des Primärrechts der [X.] auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erfolgen (EuGH-Urteil vom 12. Juni 2012 [X.]/10, [X.]/10 Hudzinski/[X.], [X.]Entscheidungsdienst 2012, 999). Werden in einem solchen Fall in dem anderen Mitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt, darf der Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nur in entsprechender Höhe gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn anderenfalls das Freizügigkeitsrecht des Wanderarbeitnehmers beeinträchtigt wäre.

b) Im Streitfall hat das [X.] offengelassen, ob der persönliche Geltungsbereich der [X.] Nr. 1408/71 eröffnet ist (s. hierzu im Einzelnen Senatsurteile vom 4. August 2011 III R 55/08, [X.], 316, [X.], 619; vom 19. April 2012 III R 87/09, [X.], 150; vom 5. Juli 2012 III R 76/10, [X.], 87) und ob gemäß Art. 13 ff. der [X.] Nr. 1408/71 [X.] Recht zur Anwendung gelangt. Diese Fragen können indes nicht offenbleiben, weil [X.] nach den vorstehend aufgeführten Grundsätzen § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG einem sich aus §§ 62 ff. EStG ergebenden Anspruch auf [X.] ([X.] nicht entgegensteht.

2. Für die im zweiten Rechtsgang vorzunehmende Prüfung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) aa) Ausgangspunkt für die Prüfung des Kindergeldanspruchs des [X.] ist die Frage, ob die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG vorgelegen haben. Soweit die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a EStG nicht vorgelegen haben, muss das [X.] prüfen, ob der Kläger gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG kindergeldberechtigt war. Dies setzt voraus, dass der Antragsteller aufgrund eines entsprechenden Antrages vom zuständigen Finanzamt ([X.]) nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde. Maßgeblich ist nach der Senatsrechtsprechung nicht die Antragstellung durch den Steuerpflichtigen, sondern die Reaktion des [X.] auf den Antrag (s. hierzu im Einzelnen Senatsurteile vom 24. Mai 2012 III R 14/10, [X.], 239, [X.], 897; vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.], 511, und vom 18. Juli 2013 III R 9/09, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt).

Im Streitfall hat das [X.] lediglich festgestellt, dass der Kläger für die fraglichen Jahre Anträge i.S. des § 1 Abs. 3 EStG gestellt hat. Dies reicht aber nicht aus. Ob das [X.] hierauf überhaupt und wenn ja, in welcher Weise reagiert hat, bleibt offen. Es kann daher z.B. nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger möglicherweise nach § 1 Abs. 1 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig veranlagt wurde.

bb) Entgegen der Auffassung des [X.] kann ein Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG nur für die Zeiträume entstehen, in denen der Kläger inländische Einkünfte erzielt hat. Insoweit hat sich der Senat dem Urteil des V. Senats des [X.] vom 24. Oktober 2012 V R 43/11 ([X.]E 239, 327, [X.], 491) angeschlossen, wonach eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG nicht automatisch eine Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG für das gesamte Kalenderjahr begründet (Senatsurteile in [X.], 511, und vom 18. Juli 2013 III R 59/11, [X.]E 242, 228).

Insoweit hätte das [X.] demnach für den Fall, dass das [X.] den Kläger nach § 1 Abs. 3 EStG behandelt hat, zu prüfen, ob diesem im Streitzeitraum Einkünfte nach § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG i.V.m. § 11 EStG zugeflossen sind.

b) Sollte sich danach nach nationalem Recht ein Kindergeldanspruch ergeben, wäre zu prüfen, nach welchen Regelungen die Konkurrenz zwischen dem Kindergeldanspruch nach §§ 62 ff. EStG und den in [X.] bezogenen Familienleistungen aufzulösen ist. Insoweit verweist der Senat insbesondere auf die Senatsentscheidungen in [X.], 316, [X.], 619; in [X.], 511 und vom 13. Juni 2013 III R 10/11 ([X.], 562).

Meta

III R 60/11

12.09.2013

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 13. Juli 2011, Az: 15 K 2520/10 Kg, Urteil

§ 1 Abs 3 EStG 2002, § 62 Abs 1 Nr 2 Buchst b EStG 2002, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2002, Art 13 EWGV 1408/71, EStG VZ 2005, EStG VZ 2006

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 12.09.2013, Az. III R 60/11 (REWIS RS 2013, 2877)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 2877

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