Bundesfinanzhof, Urteil vom 20.03.2014, Az. V R 45/11

5. Senat | REWIS RS 2014, 6860

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Gegenstand

Kindergeld für einen aus Polen nach Deutschland entsandten Saisonarbeitnehmer


Leitsatz

NV: Ein inländischer Kindergeldanspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Polen als Wohnsitzstaat im Hinblick auf die Gewährung von Familienleistungen nach der VO Nr. 1408/71 der an sich zuständige Mitgliedstaat ist.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist [X.] Staatsangehöriger, der zusammen mit seiner Ehefrau und seinem am 15. Januar 1992 geborenen Kind P von 2004 bis 2007 einen Wohnsitz in [X.] hatte. In den [X.]räumen vom 10. Mai 2004 bis 30. September 2004, vom 14. März 2005 bis 13. März 2006 und vom 3. Juli 2006 bis 2. Juli 2007 entsandte ihn sein [X.] Arbeitgeber ins Inland. In seiner Eigenschaft als ([X.]) Arbeitnehmer führte er im Inland von seinem Arbeitgeber zu erfüllende Werkverträge aus. Während dieser [X.] war er ausschließlich in [X.] sozialversichert.

2

Am 16. Juni 2008 stellte der Kläger einen Antrag auf Kindergeld. Diesen lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) durch Bescheid vom 17. Juli 2008 ab. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

3

Mit der dagegen erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Anspruchsbegehren weiter. Er beantragte, die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für den [X.]raum von Mai 2004 bis Dezember 2007 (Streitzeitraum) in Höhe von insgesamt 6.776 € zu gewähren (154 € für 44 Monate).

4

Das Finanzgericht ([X.]) wies die Klage durch Urteil vom 24. Oktober 2011  1 K 2298/08 ab. Zur Begründung führte es u.a. aus, dass der Kläger während des [X.] lediglich einen Anspruch auf Familienleistungen nach [X.] Recht habe. Er unterliege dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung [X.] 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern (Amtsblatt der Europäischen [X.]en --ABl[X.]-- 1997 Nr. L 149, S. 2) in ihrer durch die Verordnung ([X.]) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl[X.] 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und konsolidierten Fassung (im Folgenden: [X.] Nr. 1408/71). Soweit wegen Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der [X.] Nr. 1408/71 kollisionsrechtlich Familienleistungen nach [X.] Rechtsvorschriften zu gewähren seien, komme ein Anspruch auf Familienleistungen nach inländischen Vorschriften nicht in Betracht. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des Urteils des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) vom 20. Mai 2008 [X.]/06, [X.] (Slg. 2008, [X.]), weil die dort entschiedene Fallkonstellation nicht auf entsandte Arbeitnehmer übertragbar sei, deren Familien im [X.] (hier: [X.]) verblieben.

5

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts.

6

Er führt im Wesentlichen aus, dass das [X.] den maßgeblichen Vorschriften des Unionsrechts eine rechtsnormverkürzende Wirkung beimesse, wenn es wegen der Rechtszuständigkeit [X.]s für Familienleistungen einen inländischen Kindergeldanspruch ausschließe.

7

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] vom 24. Oktober 2011  1 K 2298/08 sowie die Einspruchsentscheidung vom 19. August 2008 und den Ablehnungsbescheid vom 17. Juli 2008 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für den Streitzeitraum in Höhe von insgesamt 6.776 € festzusetzen.

8

Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

Das [X.] hat die Klage zu Unrecht mit der Begründung abgewiesen, dass ein inländischer Kindergeldanspruch schon deshalb ausgeschlossen sei, weil [X.] nach der [X.] 1408/71 der zuständige Mitgliedstaat für die Gewährung von Familienleistungen sei. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen kann der Senat keine abschließende Entscheidung treffen. Im zweiten Rechtsgang wird das [X.] die fehlenden Tatsachenfeststellungen nachzuholen haben.

1. Im Revisionsverfahren war zwischen den Beteiligten unstreitig, dass der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der [X.] 1408/71 eröffnet ist. [X.] ist nach Art. 14 Nr. 1 Buchst. a, Art. 73 der [X.] 1408/71 die Rechtszuständigkeit des [X.] ([X.]) für Familienleistungen begründet, während die [X.] ([X.]) als Beschäftigungsmitgliedstaat im Hinblick auf die Gewährung von Familienleistungen der nicht zuständige Mitgliedstaat ist.

Die Rechtszuständigkeit [X.]s nach Art. 14 Nr. 1 Buchst. a, Art. 73 der [X.] 1408/71 hat aber --anders als vom [X.] angenommen-- nicht zur Folge, dass ein möglicherweise nach § 62 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bestehender inländischer Kindergeldanspruch deshalb ausgeschlossen wird. Denn die ausschließliche Rechtszuständigkeit [X.]s nach der VO Nr. 1408/71 entfaltet keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats ([X.]). Der [X.] des [X.] ([X.]) hat seine gegenteilige Ansicht aufgegeben (vgl. dazu [X.]-Urteile vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.]E 241, 511, [X.], 1040, unter II.2.; zustimmend [X.]-Urteile vom 11. Juli 2013 VI R 68/11, [X.]E 242, 206, und vom 5. September 2013 XI R 52/10, [X.]/NV 2014, 33, Rz 29). Der erkennende Senat hat sich --im Hinblick auf die [X.] in [X.]. 2008, [X.], Rdnr. 33 und vom 12. Juni 2012 [X.]/10, [X.]/10, [X.] und [X.] ([X.]/Entscheidungsdienst 2012, 999, [X.]. 56 f.)-- der geänderten Auffassung aus den im Urteil des [X.] in [X.]E 241, 511, [X.], 1040, unter II.2. genannten Gründen angeschlossen (vgl. [X.]-Urteil vom 30. Januar 2014 V R 38/11, juris).

2. Die Vorentscheidung ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen und war deshalb aufzuheben.

3. Die Sache ist nicht spruchreif. Sie ist deshalb zur Nachholung der fehlenden Feststellungen an das [X.] zurückzuverweisen.

a) Das [X.] wird im zweiten Rechtsgang festzustellen haben, ob der Kläger im Streitzeitraum möglicherweise einen Anspruch auf inländisches Kindergeld (§§ 62 Abs. 1, 63 EStG) hatte.

aa) Hinsichtlich eines Kindergeldanspruchs nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG wird das [X.] zu prüfen haben, ob der Kläger im Zeitraum von Mai 2004 bis Juli 2007 einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte. Etwaige für diese Veranlagungszeiträume (2004 bis 2007) ergangene Einkommensteuerbescheide entfalten für die kindergeldrechtliche Beurteilung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts keine Bindungswirkung (vgl. z.B. [X.]-Urteil vom 20. März 2013 XI R 37/11, [X.]E 240, 394, unter II.2.b).

Im Zusammenhang mit einem Wohnsitz i.S. des § 8 der Abgabenordnung ([X.]) weist der Senat darauf hin, dass ein Steuerpflichtiger gleichzeitig mehrere Wohnsitze haben kann und diese auch im Inland und Ausland belegen sein können. Ohne Bedeutung ist dabei, welcher Wohnsitz den Mittelpunkt der Lebensinteressen bildet (vgl. z.B. [X.]-Urteile vom 10. August 1983 I R 241/82, [X.]E 139, 261, [X.] 1984, 11, juris Rz 16, und vom 10. April 2013 I R 50/12, [X.]/NV 2013, 1909, unter [X.], m.w.N.).

Im Zusammenhang mit einem gewöhnlichen Aufenthalt i.S. des § 9 Satz 1 [X.] im Inland weist der Senat darauf hin, dass das [X.] den Sachverhalt insbesondere unter dem Gesichtspunkt des zeitlich zusammenhängenden Aufenthalts von mehr als sechs Monaten zu prüfen haben wird (§ 9 Satz 2 [X.]; vgl. hierzu z.B. [X.]-Urteile vom 22. Juni 2011 I R 26/10, [X.]/NV 2011, 2001, unter [X.], und vom 7. April 2011 III R 89/08, [X.]/NV 2011, 1324, unter II.2.).

Auch bei Vorliegen eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ist zu beachten, dass sich der Kindergeldanspruch danach richtet, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld im jeweiligen Monat vorlagen (vgl. [X.]-Urteil vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, [X.]E 239, 327, [X.], 491, Rz 13).

bb) Soweit ein Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht in Betracht kommt, wird das [X.] hinsichtlich eines möglicherweise bestehenden Kindergeldanspruchs nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG festzustellen haben, ob der Kläger einen Antrag nach § 1 Abs. 3 EStG gestellt hatte und für die Kalenderjahre 2004 bis 2007 entsprechend zur Einkommensteuer veranlagt wurde. Denkbar wäre auch, dass der Kläger aus anderen Gründen als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 EStG) oder aber als beschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde (vgl. zur Beiziehung der [X.] [X.]-Urteil vom 18. Juli 2013 III R 59/11, [X.]E 242, 228, Rz 45 f. und 49).

Der Senat weist darauf hin, dass bei einer möglichen Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG der Kindergeldanspruch nur in den Monaten des betreffenden Kalenderjahrs bestehen kann, in denen der [X.] inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt hat (vgl. [X.]-Urteile in [X.]E 239, 327, [X.], 491, Rz 17; vom 18. April 2013 VI R 70/11, [X.]/NV 2013, 1554, Rz 11 und 14, und in [X.]E 242, 228, Rz 19 ff., m.w.N.). In diesem Zusammenhang wird das [X.] festzustellen haben, zu welchem Zeitpunkt dem Kläger die Einkünfte nach § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG i.V.m. § 11 EStG zugeflossen sind (vgl. [X.]-Urteile in [X.]E 239, 327, [X.], 491, Rz 33; in [X.]E 242, 228, Rz 50, und vom 5. September 2013 XI R 26/12, juris, Rz 33). Auf die Mitwirkungspflicht des [X.] wird hingewiesen (vgl. dazu [X.]-Urteil in [X.]E 242, 228, Rz 24).

b) Soweit die Feststellungen des [X.] im zweiten Rechtsgang eine Kindergeldberechtigung des [X.] ergeben sollten, wird das [X.] weiter zu prüfen haben, in welcher Höhe bereits gewährte oder zu gewährende [X.] Familienleistungen auf das Kindergeld anzurechnen sind (Differenzkindergeld). Eine etwaige Konkurrenzsituation mit [X.]n Familienleistungen in den betreffenden Monaten des [X.] wäre entweder nach den vorrangigen unionsrechtlichen Antikumulierungsregelungen oder --soweit diese nicht einschlägig sein sollten-- nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG aufzulösen (vgl. dazu [X.]-Urteil vom 18. Juli 2013 III R 51/09, [X.]/NV 2013, 1973, Rz 19 f.).

4. [X.] folgt aus § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

V R 45/11

20.03.2014

Bundesfinanzhof 5. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 24. Oktober 2011, Az: 1 K 2298/08, Urteil

§ 1 Abs 3 EStG 2002, § 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2002, § 62 Abs 1 Nr 2 Buchst b EStG 2002, § 8 AO, § 9 AO, Art 14 Nr 1 Buchst a EWGV 1408/71, Art 73 EWGV 1408/71, EStG VZ 2005, EStG VZ 2006, EStG VZ 2007

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 20.03.2014, Az. V R 45/11 (REWIS RS 2014, 6860)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 6860

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