Bundessozialgericht, Beschluss vom 20.10.2010, Az. B 13 R 511/09 B

13. Senat | REWIS RS 2010, 2197

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Amtsermittlungspflicht - Beweisantrag eines nicht anwaltlich vertretenen Beteiligten


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 22. Oktober 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger begehrt eine höhere Altersrente unter Berücksichtigung von Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten im Wege eines Überprüfungsverfahrens.

2

Der im Jahre 1936 geborene Kläger ist der leibliche Vater von 12 Kindern. Sechs der im Zeitraum von 1965 bis 1980 geborenen Kinder stammen aus erster Ehe mit der Ehefrau [X.] Aus der zweiten Ehe mit [X.] gingen im Zeitraum von 1982 bis 1993 sechs weitere Kinder hervor. Die Ehen wurden im Jahre 1980 und 1997 geschieden. Nur für drei der in zweiter Ehe geborenen Kinder wurde die elterliche Sorge auf den Kläger übertragen.

3

Seit 1.4.2002 bezieht der Kläger Altersrente (anfänglicher monatlicher Zahlbetrag 40,56 [X.]). Auf seinen Überprüfungsantrag von Juni 2008 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Rentenbescheids vom [X.] ab, weil Kindererziehungs- bzw Berücksichtigungszeiten für alle 12 Kinder bei den geschiedenen Ehefrauen des [X.] berücksichtigt worden waren (Bescheid vom 18.9.2008). Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 4.12.2008, Gerichtsbescheid des [X.] vom 29.4.2009).

4

Das [X.] hat die Berufung des [X.] am [X.] ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten könnten dem Kläger nicht zugeordnet werden, weil er seine Kinder weder allein noch überwiegend erzogen habe. Dies ergebe sich aus seinem Vorbringen und aus den urkundlichen Feststellungen im ersten Scheidungsverfahren. [X.] sich der überwiegende Erziehungsanteil eines Elternteils nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad feststellen (non liquet) oder würden - wie hier - in etwa gleichwertige [X.] behauptet, werde die [X.] gemäß § 56 Abs 2 Satz 8 [X.] der Mutter zugeordnet. Diese Gesetzeslage sei auch verfassungskonform.

5

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde (Begründung vom [X.]) rügt der Kläger Verfahrensfehler und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

6

Das [X.] habe gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) verstoßen, weil es den Beweisantrag, die geschiedenen Ehefrauen als Zeugen über den Anteil des [X.] an der Kindererziehung zu vernehmen, übergangen habe. Das [X.] habe ferner über die Berufung nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen. Zu diesem Zeitpunkt habe kein wirksames Einverständnis des [X.] (§ 124 Abs 2 SGG) mehr vorgelegen. Dadurch sei sein Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt worden (Art 103 Abs 1 GG, § 128 Abs 2, § 124 Abs 1 und 2, § 62 SGG).

7

           

Im Übrigen hält der Kläger folgende Rechtsfrage für grundsätzlich bedeutsam iS von § 160 Abs 2 [X.] SGG:

"Verstoßen die Bestimmungen der §§ 56 Abs. 2, 57, 249 Abs. 1, 300 [X.] in ihrer derzeitigen Fassung und Auslegung durch die [X.] gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und 4, Art. 14 Abs. 1 GG und sind deshalb unwirksam, weil die darin geregelte rentenrechtliche Berücksichtigung von [X.]en in der konkreten Ausgestaltung des Gesetzes Eltern von Kindern bei ihrer Altersversorgung im Vergleich zu [X.] benachteiligt?"

8

II. Auf die Beschwerde des [X.] war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

9

1. Der Kläger hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und auch im Ergebnis zutreffend die Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) gerügt (§ 160 Abs 2 [X.] SGG).

Der Verfahrensmangel liegt vor.

Der Kläger rügt zu Recht, dass das [X.] seinem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Das [X.] durfte über die Berufung des [X.] nicht entscheiden, ohne den Beweisantrag des [X.] im [X.] vom [X.]: "Der Kläger beantragt mündlich zu verhandeln und die geschiedenen Ehefrauen [X.] und [X.] zu laden oder sie ersatzweise schriftlich zu der bestrittenen Erziehungszeit zu befragen" ([X.] 6 letzter Abs [X.]-Akte) zu berücksichtigen. Hierbei handelt es sich um einen formgerechten Beweisantrag, der den gesetzlichen Anforderungen entspricht (vgl § 118 Abs 1 SGG iVm §§ 373 ff ZPO). Der ausdrücklichen Benennung eines Beweisthemas (von "Tatsachen, über welche die Vernehmung der Zeugen stattfinden soll") bedurfte es nicht, hatte doch der Kläger die entsprechenden Tatsachenbehauptungen im genannten Schriftsatz hinreichend verdeutlicht (Versorgung von Haushalt und der ersten drei Kinder in der Ehe mit [X.]., überwiegende Versorgung der ersten drei Kinder in der Ehe mit [X.]). Aus dem weiteren Gang des Verfahrens ergibt sich nicht, dass der Kläger an diesem schriftsätzlich gestellten Antrag nicht mehr festhalten wollte. Im Gegenteil, mit Schriftsatz vom 30.6.2009 hat er auf die Schwierigkeit hingewiesen, als nicht anwaltlich vertretener Kläger ordnungsgemäße Anträge zu formulieren ([X.] 26 [X.]-Akte). Die späteren Schriftsätze, mit denen der Kläger jeweils seine "Texte Absichten und Anträge noch einmal neu oder besser, ergänzend formuliert" hat (vom 30.6.2009 und vom [X.]), halten jeweils am materiellen Begehren fest und folgerichtig damit auch an der beantragten Beweiserhebung.

Dem steht nicht die Rechtsprechung des BSG entgegen, wonach ein Beweisantrag bis zuletzt aufrechterhalten sein muss, sei es, dass der Antrag in der mündlichen Verhandlung gestellt bzw in Bezug genommen worden ist, das Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung mit einem entsprechenden Vorbehalt versehen wurde oder das [X.] den Beweisantrag in seinem Urteil wiedergegeben hat. Diese Rechtsprechung geht von einem rechtskundig bzw anwaltlich vertretenen Beteiligten aus (stRspr - vgl [X.]-1500 § 124 [X.] S 4 f; [X.] 4-1500 § 160 [X.] Rd[X.]; [X.] 4-1500 § 160 [X.]3 Rd[X.]1).

Das [X.] hätte sich - ausgehend von seiner Rechtsansicht - gedrängt sehen müssen, dem Beweisantrag des [X.] aus dem [X.] vom [X.] nachzugehen.

Einer der Ausnahmefälle, der es erlaubt hätte, auf die Vernehmung der vom Kläger benannten Zeugen zu verzichten, ist nicht gegeben. Solche Ausnahmefälle sind dann anzunehmen, wenn es auf die unter Beweis gestellten Tatsachen nicht ankommt, diese bereits erwiesen sind oder das Beweismittel ungeeignet oder unerreichbar ist (vgl Senatsurteil vom [X.] - B 13 RJ 59/00 R - [X.] 3-2200 § 1248 [X.]7 S 72 f; BSG vom 16.5.2007 - [X.]b [X.]/06 B - Juris Rd[X.]0; BSG vom 28.5.2008 - B 12 KR 2/07 B - Juris Rd[X.]1). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

Auf die vom Kläger beantragte Zeugenvernehmung zum Umfang bzw zur Höhe seines tatsächlichen Anteils an der Kindererziehung kommt es schon deshalb entscheidungserheblich an, weil demjenigen die [X.]en zuzuordnen sind, der das Kind überwiegend erzogen hat, wenn mehrere Elternteile das Kind erzogen haben und eine anderslautende Erklärung der Eltern nicht vorliegt (§ 56 Abs 2 Satz 9 und Satz 3 [X.]).

Entgegen der Auffassung des [X.] war eine Beweisaufnahme nicht deshalb entbehrlich, weil "Aus dem gesamten Vorbringen des [X.] folgt, dass er selbst nur von einem hälftigen Erziehungsanteil ausgeht; dies findet seine Bestätigung in seinem Begehren, nur die hälftige Erziehungszeit angerechnet haben zu wollen". Nach Ansicht des [X.] sei dann die Erziehungszeit der Mutter nach der [X.] von § 56 Abs 2 Satz 8 [X.] zuzuordnen ([X.] Entscheidungsgründe [X.]). Dieser Vortrag lässt sich allerdings nicht dem Schriftsatz des [X.] vom 30.6.2009 entnehmen, weil er dort gerade den Beweisantrag, "die Zuordnung der streitbaren Erziehungszeit zu den Müttern … zu prüfen", wiederholt ([X.] 33, letzter Abs [X.]-Akte) und ausdrücklich vorgetragen hat, in beiden Ehen jeweils die ersten drei Kinder allein oder überwiegend versorgt zu haben.

Wenn die bei der Erziehung zusammenwirkenden Eltern eine Erklärung über die Zuordnung der [X.] - wie hier - gemäß § 56 Abs 2 Satz 3 [X.] nicht abgegeben haben, bleibt es bei dem Grundsatz des § 56 Abs 2 Satz 9 [X.], wonach die [X.] demjenigen zuzuordnen ist, der das Kind - nach objektiven Gesichtspunkten betrachtet - überwiegend erzogen hat. Das Maß der jeweiligen Zuwendung der Elternteile zu ihrem Kind ist vom Versicherungsträger bzw vom Gericht zu ermitteln. Nur dann, wenn sich dabei überwiegende Erziehungsanteile eines Elternteils nicht im erforderlichen Beweisgrad feststellen lassen (non liquet), sondern die [X.] nach objektiven Maßstäben in etwa gleichgewichtig sind, wird die [X.] nach der [X.] des § 56 Abs 2 Satz 8 [X.] der Mutter zugeordnet ([X.]-2600 § 56 [X.]0 S 47; [X.], 171, 176 ff = [X.] 3-2200 § [X.]; vgl auch Senatsurteil vom 17.4.2008 - [X.] 4-2600 § 56 [X.] Rd[X.]1). Die Grundregel des § 56 Abs 2 Satz 9 [X.] gilt nach § 300 Abs 1 [X.] auch für Sachverhalte und Ansprüche, die - wie hier - bereits vor dem Inkrafttreten der Norm ([X.]) vorlagen. Sie wurde durch die Übergangsvorschrift des § 249 [X.] ergänzt (vgl Senatsurteil vom 17.4.2008 - [X.] 4-2600 § 56 [X.] Rd[X.]2 mwN).

Soweit das [X.] anstelle dessen davon ausgeht, dass der Kläger - entgegen seiner Behauptung - die in den Jahren 1965, 1966 und 1969 geborenen Kinder in den ersten Lebensjahren weder überwiegend noch allein erzogen habe, weil der Betreuungsanteil des [X.] in den ersten Monaten nach der Geburt eines Kindes im Vergleich zur Mutter gewöhnlich niedriger sei und der Kläger aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit schon nicht in der Lage gewesen sein dürfte, Kinder dieser Altersstufe zu versorgen ([X.] Entscheidungsgründe [X.]), handelt es sich um eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung.

Das [X.] wird daher die beantragte Zeugenvernehmung nachholen müssen. Die angefochtene Entscheidung kann auch auf diesem Verfahrensmangel beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass das [X.] nach Vernehmung der geschiedenen Ehefrauen zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] SGG vorliegen. Zur Vermeidung von weiteren Verfahrensverzögerungen macht der Senat von der ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.

2. Der Senat kann daher offenlassen, ob der formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) gerügte Verfahrensmangel der Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 128 Abs 2, § 124 Abs 1 und 2, § 62 SGG) vorliegt. Es könnte zweifelhaft sein, ob im Entscheidungszeitpunkt ein wirksames Einverständnis gemäß § 124 Abs 2 SGG noch vorlag, oder ob sich in diesem Zeitpunkt die Prozesslage wesentlich geändert hatte, mit der Folge, dass dem Verzicht auf mündliche Verhandlung die Grundlage entzogen worden war (vgl BSG [X.] 4-1500 § 124 [X.] RdNr 7; [X.] 3-1500 § 124 [X.] mwN). Hierfür könnte sprechen, dass sich der Kläger im Zeitpunkt der Entscheidung des [X.] offensichtlich in einem Irrtum befand, als er nach Eingang der vom [X.] eingeholten Probeberechnung der [X.] (in Form eines "Rentenbescheids" vom 14.7.2009, der [X.] eine laufende Altersrente von monatlich 247,88 [X.] auswies) schriftsätzlich ein "Anerkenntnisurteil" beantragt hat, weil er die Probeberechnung - objektiv unzutreffend - für ein Teilanerkenntnis der [X.] hielt. Das [X.] hat jedenfalls dieses Missverständnis bei dem nicht anwaltlich vertretenen Kläger vor Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung nicht ausgeräumt. Es hat sogar noch beim Kläger angefragt, ob er nunmehr beantrage, die Beklagte zur Zahlung einer monatlichen Altersrente (in Höhe von 1800 [X.]) zu verurteilen und ab wann die Altersrente beansprucht werde ([X.] 65 RS [X.]-Akte).

3. Da die Beschwerde bereits aus den dargelegten Gründen erfolgreich ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Rechtssache auch - wie zusätzlich geltend gemacht - grundsätzliche Bedeutung hat; denn selbst bei Annahme einer grundsätzlichen Bedeutung und Zulassung der Revision wäre voraussichtlich mit einer Zurückverweisung zu rechnen (vgl BSG vom 30.4.2003 - [X.] [X.] 203/02 B - Juris Rd[X.]0 mwN).

4. Das [X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 13 R 511/09 B

20.10.2010

Bundessozialgericht 13. Senat

Beschluss

Sachgebiet: R

vorgehend SG Stuttgart, 29. April 2009, Az: S 21 R 98/09

§ 103 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 20.10.2010, Az. B 13 R 511/09 B (REWIS RS 2010, 2197)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 2197

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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