Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.06.2010, Az. V ZB 205/09

5. Zivilsenat | REWIS RS 2010, 5992

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Gegenstand

Abschiebehaftverfahren: Erneute Prüfung eines Abschiebungshindernisses durch das Beschwerdegericht


Leitsatz

Das Beschwerdegericht muss unter Berücksichtigung des tatsächlichen Verlaufs des Abschiebeverfahrens prüfen, ob § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG einer Aufrechterhaltung der Haft im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung entgegensteht .

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird - unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen - der Beschluss der 4. Zivilkammer des [X.] vom 6. November 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.], an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, der angibt, [X.] Staatsangehöriger zu sein, und der am 3. Dezember 2008 ohne gültigen Pass und unter Umgehung der Einreise- und Visumsbestimmungen in das [X.] einreiste, ist nach Ablehnung seines Asylantrags seit dem 14. Januar 2009 vollziehbar ausreisepflichtig. Nachdem er untergetaucht war, wurde er am 22. September 2009 anlässlich einer Kontrolle des [X.] in einer Pizzeria in [X.] arbeitend angetroffen und festgenommen.

2

Auf Antrag des Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht am 23. September 2009 die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 22. Dezember 2009 angeordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde ist erfolglos geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der - im Januar 2010 aus der Haft entlassene - Betroffene festzustellen, dass die Anordnung der [X.] rechtswidrig war.

II.

3

Das Beschwerdegericht hält die Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 [X.] für gegeben. Die Regelung in § 62 Abs. 2 Satz 4 [X.] stehe der Inhaftierung des Betroffenen nicht entgegen. Aus den Angaben der für die Abschiebung zuständigen [X.] [X.] ergebe sich, dass eine Abschiebung nach [X.] innerhalb von drei Monaten erfolgen könne. Die von dem Betroffenen demgegenüber angeführten Gerichtsentscheidungen zur regelmäßigen Dauer der Ersatzpapierbeschaffung bei [X.] Behörden gäben nicht die aktuelle Situation wieder. Die Vorführung des Betroffenen bei der [X.] Botschaft sei für die kommende (46.) [X.] vorgesehen, was darauf schließen lasse, dass das [X.] zügig betrieben werde.

III.

4

Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand. Die form- und fristgerecht (§ 71 FamFG) eingelegte Rechtsbeschwerde ist teilweise begründet.

5

1. Die Rechtsbeschwerde ist ungeachtet der Erledigung der Hauptsache durch den Ablauf der angeordneten Haftdauer statthaft (§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG, § 106 Abs. 2 Satz 1 [X.]). Die Vorschrift des § 62 FamFG, nach der das Beschwerdegericht auf Antrag ausspricht, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszuges den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn dieser - wie hier - ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat, ist auf das Rechtsbeschwerdeverfahren entsprechend anzuwenden ([X.], [X.]. v. 25. Februar 2010, [X.]/09 - juris; [X.]. v. 4. März 2010, [X.]/09, juris). Die Rechtsbeschwerde bleibt zulassungsfrei, da sie sich weiterhin gegen einen [X.]uss richtet, durch den eine freiheitsentziehende Maßnahme anordnet worden ist (vgl. [X.], [X.]. v. 25. Februar 2010, [X.]/09, a.a.O.).

6

2. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet, soweit sie darauf gerichtet ist, die Rechtswidrigkeit des die [X.] anordnenden [X.]usses vom 23. September 2009 festzustellen.

7

a) Das Beschwerdegericht hält die Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 [X.] rechtsfehlerfrei für gegeben, da die dem Betroffenen gesetzte Ausreisepflicht abgelaufen ist und er seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde seine Anschrift anzugeben, und weil infolge seines [X.] der begründete Verdacht besteht, er wolle sich der Abschiebung entziehen. Die Rechtsbeschwerde erhebt insoweit auch keine Einwendungen.

8

b) Im Ergebnis nicht zu beanstanden ist ferner die Annahme des [X.], die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Satz 4 [X.], nach der die [X.] unzulässig ist, wenn die Unmöglichkeit der Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate feststeht und dies auf Gründen beruht, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, habe der Anordnung der [X.] nicht entgegengestanden.

9

aa) Seitens des Amtsgerichts ist allerdings verkannt worden, dass für die Anordnung von [X.] nur Raum ist, wenn die Sachverhaltsermittlung und -bewertung ergibt, dass entweder eine Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate prognostiziert oder eine zuverlässige Prognose zunächst nicht getroffen werden kann (vgl. [X.], NJW 2009, 2659, 2660 Rdn. 22 f.; [X.], [X.]. v. 25. März 2010, [X.], juris Rdn. 17). Das Beschwerdegericht hat die notwendige Prognose jedoch nachgeholt und den Fehler des Amtsgerichts dadurch geheilt.

bb) In der Sache lässt die Prognose, eine Abschiebung des Betroffenen innerhalb von drei Monaten habe bei Anordnung der Haft nicht unmöglich erschienen, keinen Rechtsfehler erkennen. Das Beschwerdegericht durfte sich hierzu auf die bundesweite Fallsammlung der [X.] über die Ausstellung von Personalersatzpapieren durch das [X.] Generalkonsulat bzw. die [X.] Botschaft stützen, wonach im [X.] in Einzelfällen eine Abschiebung innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden konnte. Dass es sich hierbei um nur wenige Fälle handelt, ist unschädlich, da die Haftanordnung nur zu unterbleiben hat, wenn feststeht, dass die Abschiebung innerhalb von drei Monaten nicht möglich sein wird (vgl. [X.] JMBl NRW 2007, 177, 178).

Die Prognose des [X.] beruht entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht auf einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Zwar enthalten die Gründe des angefochtenen [X.]usses keine Auseinandersetzung mit dem Schreiben der [X.] Stadt [X.] vom 6. März 2008, welches der Betroffene mit Schriftsatz vom 30. Oktober 2009 vorgelegt hat und in dem es heißt, dass die Passersatzpapierbeschaffung für einen näher bezeichneten [X.] Staatsangehörigen etwa sechs Monate in Anspruch nehmen werde. Da ein Gericht nicht verpflichtet ist, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen, folgt hieraus für sich genommen aber keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Eine solche kann erst festgestellt werden, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass Vorbringen eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung jedenfalls nicht erwogen worden ist (vgl. [X.] NJW-RR 1995, 1033, 1034). Hieran fehlt es. Insbesondere lässt die Feststellung in dem angefochtenen [X.]uss, die statistische Auswertung von Abschiebefällen der [X.] [X.] und [X.] sei unwidersprochen geblieben, nicht den Schluss zu, dass das Gericht das Schreiben der [X.] [X.] vom 6. März 2008 unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG übergangen hat. Da es nicht den der Prognose zugrunde gelegten [X.]raum vom 1. November 2008 bis zum 31. Oktober 2009 betrifft, ist vielmehr davon auszugehen, dass es von dem Beschwerdegericht zwar zur Kenntnis genommen, aber - ebenso wie die von dem Betroffenen vorgelegten Gerichtsentscheidungen - als nicht aussagekräftig angesehen worden ist, weil es nicht aus jüngster [X.] stammt.

3. Die Rechtsbeschwerde ist begründet, soweit der Betroffene die Feststellung erstrebt, dass die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde ihn in seinen Rechten verletzt hat.

a) Ein die Freiheitsentziehung anordnender [X.]uss ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen darauf zu untersuchen, ob der Grund für die Freiheitsentziehung entfallen ist (vgl. § 426 Abs. 1 Satz 1 FamFG sowie [X.], [X.]. v. 25. Februar 2010, [X.]/09, juris Rdn. 27). Vor der Zurückweisung einer Beschwerde, die sich gegen eine [X.]anordnung richtet, müssen deshalb die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 4 [X.] unter Berücksichtigung des im [X.]punkt der Beschwerdeentscheidung erkennbaren Verlaufs des [X.]s erneut geprüft werden. Erscheint eine Abschiebung aus Gründen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, nicht mehr innerhalb von drei Monaten (gerechnet ab Anordnung der [X.]) möglich, darf die Haft nicht aufrechterhalten werden.

Das hat das Beschwerdegericht zwar im Ansatz erkannt. Seine Annahme, es stehe derzeit nicht fest, dass die Abschiebung nicht binnen drei Monaten erfolgen könne, ist angesichts der getroffenen Feststellungen zu dem Verlauf des [X.] aber nicht nachvollziehbar und damit rechtsfehlerhaft. Nachdem bis zu der (geplanten) Vorführung des Betroffenen bei der [X.] Botschaft sieben Wochen vergangen waren, konnte das Beschwerdegericht ohne nähere Sachaufklärung (§ 26 FamFG) nicht annehmen, dass es innerhalb der verbleibenden [X.] von etwa sechs Wochen zu der Ausstellung von [X.]n kommen würde. Wenn das Verfahren, wie das Beschwerdegericht annimmt, von der Ausländerbehörde tatsächlich zügig betrieben worden ist, wäre die lange [X.]spanne von der Inhaftierung des Betroffenen bis zu seiner Vorführung auf Unzulänglichkeiten bei der [X.] Botschaft zurückzuführen. Sie ließe dann erwarten, dass auch die von der Botschaft zu veranlassende Ausstellung der [X.] wochenlang dauern und nicht rechtzeitig vor Ablauf der Drei-Monatsfrist des § 62 Abs. 2 Satz 4 [X.] erfolgen würde. Das Beschwerdegericht war deshalb gehalten aufzuklären, ob angesichts der bereits verstrichenen [X.] im konkreten Fall noch Aussicht bestand, die Abschiebung bis zum 22. Dezember 2009 durchzuführen; sofern dies aus von dem Betroffenen nicht zu vertretenden Gründen nicht möglich erschien, hätte es ihn aus der Haft entlassen müssen.

b) Mit Erfolg macht die Rechtsbeschwerde ferner geltend, dass das Beschwerdegericht rechtsfehlerhaft nicht geprüft hat, ob die [X.] deshalb unverhältnismäßig geworden war, weil das Abschiebeverfahren nicht mit der gebotenen [X.]eunigung betrieben worden ist.

Das aus Art. 2 Abs. 2 GG abzuleitende [X.]eunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen (vgl. [X.]E 46, 194, 195) ist auch schon während des Laufs der Drei-Monatsfrist des § 62 Abs. 2 Satz 4 [X.] zu beachten (vgl. [X.]K 8, 1, 7 für die Untersuchungshaft). Es ist verletzt, wenn die Ausländerbehörde nicht alle notwendigen Anstrengungen unternommen hat, um [X.] zu beschaffen, damit der Vollzug der Abschiebehaft auf eine möglichst kurze [X.] beschränkt werden kann ([X.], [X.], 235, 239). Das Beschwerdegericht darf die [X.] deshalb nur aufrechterhalten, wenn die Behörde die Abschiebung des Betroffenen ernstlich betreibt und zwar, gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, mit der größtmöglichen [X.]eunigung (vgl. BayObLG, [X.]. v. 6. November 1998, [X.] 274/98, juris, Rdn. 9; OLG Schleswig OLGR 2008, 304, 306).

Dass das hier zu beurteilende Verfahren dem [X.]eunigungsgebot gemäß geführt worden ist, musste dem Beschwerdegericht schon deshalb zweifelhaft erscheinen, weil der Betroffene, obwohl er sich seit dem 23. September 2009 in Haft befand, erst im November 2009 der Botschaft vorgeführt werden sollte. Weshalb eine frühere Vorführung unterblieben ist, hätte weiterer Aufklärung (§ 26 FamFG) insbesondere im Hinblick darauf bedurft, dass der Beteiligte zu 2 in seiner Stellungnahme vom 2. November 2009 von einer "Ausreiseberatung" durch erfahrene Mitarbeiter der [X.] und einem in diesem Zusammenhang erforderlichen "Einwirkungszeitraum" spricht. Sollte dies bedeuten, dass der Beteiligte zu 2 die ersten Wochen der Inhaftierung des Betroffenen bewusst nicht genutzt hat, um dessen Abschiebung vorzubereiten, sondern um auf ihn "einzuwirken", wäre dies ein grober Verstoß gegen das [X.]eunigungsgebot und den Zweck der [X.] (vgl. [X.]K 11, 208, 213 f.; OLG Düsseldorf OLGR 2007, 791, 792), welcher zu einer sofortigen Entlassung des Betroffenen aus der Haft hätte führen müssen und darüber hinaus die Feststellung rechtfertigte, dass die bereits vollzogene [X.] den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

IV.

Der angefochtene [X.]uss ist daher aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG). Der [X.] kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da die Beurteilung, ob der Vollzug und die Aufrechterhaltung der [X.] den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat, weitere Sachverhaltsermittlungen erfordert. Die Sache ist daher an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG).

Vorsorglich weist der [X.] darauf hin, dass die Anforderungen an eine vollständige Sachaufklärung im Sinne von § 26 FamFG nicht deshalb herabgesetzt sind, weil nicht mehr die Haftentlassung des Betroffenen, sondern nur die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der ihn betreffenden freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht, und dass eine in tatsächlicher Hinsicht zureichende richterliche Aufklärung es in aller Regel erfordert, die Akten der Ausländerbehörde beizuziehen (vgl. [X.], NJW 2009, 2659, 2660 Rdn. 20).

Krüger                                [X.]Stresemann

                      Czub                                                   [X.]

Meta

V ZB 205/09

10.06.2010

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Bonn, 6. November 2009, Az: 4 T 453/09, Beschluss

§ 62 Abs 2 S 4 AufenthG, § 26 FamFG, § 62 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.06.2010, Az. V ZB 205/09 (REWIS RS 2010, 5992)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 5992

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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