Bundesgerichtshof, Urteil vom 30.08.2012, Az. 4 StR 84/12

4. Strafsenat | REWIS RS 2012, 3541

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Gegenstand

Mord: Heimtücke bei latenter Angst vor dem Täter; niedriger Beweggrund bei Tötung eines Menschen zur Verhinderung der Festnahme


Tenor

1. Auf die Revisionen der Nebenkläger wird das Urteil des [X.] vom 25. Oktober 2011 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte wegen versuchten Totschlags in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, verurteilt worden ist; insofern bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen jedoch aufrechterhalten;

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil im verbleibenden Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit zwei Fällen der gefährlichen Körperverletzung schuldig ist.

3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

4. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die hierdurch den [X.] im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

5. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel der Nebenkläger, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen versuchten Totschlags in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Ferner hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis von zwei Jahren festgesetzt. Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte und beide Nebenkläger Revision eingelegt. Der Angeklagte hat eine Verfahrens- und die allgemeine Sachrüge erhoben. Die Nebenkläger streben eine Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Mordes an. Das Rechtsmittel des Angeklagten ist unbegründet. Die Revisionen der Nebenkläger haben den aus der Urteilsformel ersichtlichen Erfolg.

2

I. Nach den Feststellungen unterhielt der Angeklagte über mehrere Jahre eine außereheliche Beziehung zu der in [X.]wohnenden Nebenklägerin    [X.]  . Aus der Beziehung sind drei Kinder hervorgegangen. Im Lauf des Jahres 2010 beendete    [X.]   die konfliktreich gewordene Beziehung. Der Angeklagte vermochte das Beziehungsende nicht zu akzeptieren und erschien regelmäßig in der Wohnung der Nebenklägerin, weil er sie noch immer als seine Lebensgefährtin ansah und davon ausging, dass sie zu ihm gehöre ([X.]). Nachdem er am 11. Dezember 2010 gegenüber    [X.]   tätlich geworden war, wurde er von der herbeigerufenen Polizei der Wohnung verwiesen und ihm ein Rückkehrverbot auferlegt. Gleich nach der Abfahrt der Polizei suchte er    [X.]   wieder auf und drohte, ihr den Kopf abzuschlagen ([X.]). Da    [X.]   bei dem Angeklagten einige [X.] zuvor eine Schusswaffe gesehen hatte, bekam sie nun soviel Angst, dass sie sich von ihrem Onkel, dem Zeugen     [X.], abholen ließ und bei ihm das Wochenende verbrachte ([X.] 8). Nach den [X.] bezog sie eine eigene Wohnung in B.   , die ihr    [X.]vermittelt hatte. Sie lebte noch immer in großer Angst vor dem Angeklagten, der zwar nicht wusste, wo sie wohnte, aber regelmäßig Kontakt zu    [X.]aufnahm, um ihren Wohnort zu erfahren ([X.] 8).

3

Im Januar 2011 kam es auf Veranlassung des Angeklagten zu einer Sitzung eines sog. Ältesten- oder Familienrates aus Mitgliedern der Familie des Angeklagten und der Familie von     [X.]   . Dabei erhob der Angeklagte den Vorwurf, dass    [X.]seine Kinder entführt und ihm die Frau weggenommen habe.    [X.]   und die Kinder gehörten zu ihm und hätten zu tun, was er wünsche ([X.] 10). Nachdem     [X.]   vor dem Ältestenrat darauf bestanden hatte, von dem Angeklagten getrennt zu leben, entschied der Ältestenrat, dass     [X.]nicht schuldhaft gehandelt habe und der Angeklagte die Trennung von     [X.]   akzeptieren müsse. Der Angeklagte reagierte hierauf mit einer Äußerung, die von der Nebenklägerin     [X.]   zutreffend so verstanden wurde, dass er etwas so Schlimmes mit ihr anstellen werde, dass er sich auch „gleich selbst wegmachen könne“ ([X.] 11).

4

Für    [X.]   entwickelte sich nun eine Phase erheblicher Angst. Sie lebte in der Hoffnung, dass der Angeklagte nicht wusste, wo sie wohnte. Tatsächlich war dem Angeklagten lediglich bekannt, dass    [X.]   in der Nähe der Wohnung ihres Onkels     [X.]in B.     lebte. Er bestreifte daher mit seinem Pkw die Gegend um die Wohnung des    [X.]und hielt Ausschau. Dabei fiel sein Fahrzeug Nachbarn und Angehörigen von    [X.]    auf ([X.] 12). Auch rief der Angeklagte regelmäßig bei    [X.]an und ließ ihn von anderen Leuten in aggressiver Weise nach der Adresse von     [X.]   befragen. Dabei gelang es ihm nicht, die genaue Adresse zu erfahren ([X.] 12). Nachdem    [X.]   von den Nachstellungen des Angeklagten erfahren und von ihm eine [X.] mit einer Todesdrohung erhalten hatte, rechnete sie stets damit, dass der Angeklagte sie „irgendwann einmal erwischen“ würde. Sie konnte deshalb nicht mehr angstfrei vor die Tür treten und schränkte ihre Lebensführung erheblich ein ([X.] 12).

5

Im März 2011 kam der Bruder von    [X.]  , der Nebenkläger    [X.]    , aus [X.] nach [X.], weil er hier Asyl beantragen wollte. Dazu hielt er sich ab dem 1. April 2011 in der Wohnung von    [X.]   in B.   auf.

6

Am 2. April 2011 kauften     [X.]   und    [X.]    gegen 15 Uhr in einem Supermarkt gegenüber der Wohnung von     [X.]   für einen Kindergeburtstag ein. Der Angeklagte wartete zu diesem [X.]punkt in seinem in der Nähe der Einfahrt zum Parkplatz des Supermarktes geparkten Fahrzeug, weil er mit einem Einkauf von    [X.]   rechnete. Als    [X.]   und    [X.]   mit dem beladenen Einkaufswagen den Parkplatz des Supermarktes über die Einfahrt verließen, nahmen sie den Angeklagten nicht wahr.    [X.]   war jedoch noch immer in erheblicher und konkreter Sorge, dass der Angeklagte jederzeit unvermittelt auftauchen und sie überfallen könnte. Diese Sorge war auch    [X.]    bekannt und wurde von ihm [X.] genommen ([X.] 13). Als der Angeklagte     [X.]   und    [X.]     erblickte, fuhr er mit voller Beschleunigung los, um einen Zusammenstoß mit beiden oder wenigstens mit dem Einkaufswagen herbeizuführen. Dabei nahm er Verletzungen von     [X.]   und     [X.]    zumindest billigend in Kauf. Der Zusammenstoß sollte dazu dienen,    [X.]   „so außer Gefecht zu setzen“, dass sie sich gegen den anschließend geplanten Angriff mit einer mitgeführten [X.] nicht mehr wehren oder davonlaufen konnte. Wenige Sekunden vor dem Zusammenstoß bemerkte    [X.]    das rasch näher kommende Fahrzeug und erkannte den Angeklagten. Er warnte deshalb sofort seine Schwester. Eine Flucht war jedoch nicht mehr möglich. Der von dem Angeklagten gesteuerte Pkw stieß mit einer Geschwindigkeit von mindestens 35 km/h gegen den Einkaufswagen.    [X.]   und     [X.]     wurden durch den Zusammenprall mit dem Pkw zu Boden geschleudert, nachdem zunächst einer von beiden auf die Motorhaube des Fahrzeugs aufgeladen worden war ([X.] 14).

7

Der Angeklagte verließ sogleich sein Fahrzeug und lief mit der entsicherten Pistole auf     [X.]   zu, um sie zu töten. Die nur leicht verletzte Nebenklägerin sprang auf und versuchte laut schreiend zu flüchten. Als sich    [X.]    dem Angeklagten in den Weg stellte, wurde er von ihm mit der Pistole zu Boden geschlagen. Der Angeklagte lief    [X.]   nach, wobei er ihr zu verstehen gab, dass er sie jetzt töten werde. Als der Angeklagte die sich zwischen mehreren Fahrzeugen verbergende     [X.]   eingeholt hatte, schlug er ihr von hinten mit der Waffe auf den Kopf und drückte sie zu Boden. Anschließend richtete er die Pistole auf ihre rechte Halsseite und betätigte mit Tötungsabsicht „einer Hinrichtung gleich“ den Abzug ([X.] 15). Das Projektil drang tief in den [X.] von     [X.]   ein, zerstörte den vierten Halswirbelkörper und blieb schließlich auf der linken Seite hinter der [X.] stecken ([X.] 16).    [X.]   stürzte zu Boden und blieb wimmernd liegen.

8

Als der Angeklagte unmittelbar nach dem Schuss auf     [X.]   zu seinem Auto laufen wollte ([X.] 15), wurde er von dem seiner Schwester zu Hilfe eilenden    [X.]    in einen Zweikampf verwickelt, in dessen Verlauf der Angeklagte    [X.]     direkt unterhalb des rechten Auges in den Kopf schoss, wobei er zumindest billigend in Kauf nahm, auch ihn zu töten ([X.] 15). Das Projektil zerstörte das Mittelgesicht und verursachte unter anderem eine Orbitabodenfraktur, eine ausgedehnte und dislozierte Kieferhöhlenfraktur, eine klaffende Jochbeinfraktur sowie ein Netzhautödem. Nachdem     [X.]    den Angeklagten losgelassen hatte und dieser nun tatsächlich zu seinem Auto laufen konnte ([X.] 25), ergriff er mit seinem Auto die Flucht. Hierbei ging es ihm ausschließlich darum, den [X.] – wie von vorneherein geplant – so schnell wie möglich zu verlassen, um einer Festnahme durch die zahlreich vorhandenen Zeugen zu entgehen ([X.] 16). Er rechnete damit, dass beide Nebenkläger an den erlittenen Schusswunden versterben würden. Dies war ihm wenigstens gleichgültig ([X.] 17 und 25).

9

II. Zur Revision der Nebenklägerin   [X.]

Die Revision der Nebenklägerin     [X.]   hat Erfolg, weil die Erwägungen, mit denen das [X.] einen versuchten [X.] und einen versuchten Mord aus niedrigen Beweggründen verneint hat, rechtlicher Überprüfung nicht standhalten.

1. Das [X.] hat das Vorgehen des Angeklagten nicht als heimtückisch im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB bewertet, weil die Nebenklägerin infolge der früheren Drohungen und Nachstellungen des Angeklagten jederzeit mit einem Übergriff rechnete. Dies habe dazu geführt, dass sie in der [X.] nicht mehr arglos gewesen sei ([X.] 30). Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das [X.] von einem zu engen Begriff der Heimtücke ausgegangen ist.

a) [X.] handelt, wer die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit seines Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. [X.] ist das Opfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 1. März 2012 – 3 [X.], Rn. 20; Urteil vom 9. September 2003 – 5 [X.], [X.], 14, 16; Urteil vom 9. Januar 1991 – 3 [X.], [X.]R § 211 Abs. 2 Heimtücke 13; Urteil vom 4. Juli 1984 – 3 [X.], [X.]St 32, 382, 383 f.). [X.] tötet auch, wer sein ahnungsloses Opfer zunächst nur mit [X.] angreift, dann aber unter bewusster Ausnutzung des Überraschungseffekts unmittelbar zur Tötung übergeht und es dem Opfer nicht mehr möglich ist, sich Erfolg versprechend zur Wehr zu setzen, sodass die hierdurch geschaffene Situation bis zur Tötungshandlung fortdauert ([X.], Urteil vom 1. März 2012 – 3 [X.], Rn. 20; Urteil vom 16. Februar 2012 – 3 [X.], Rn. 20; Beschluss vom 19. Juni 2008 – 1 [X.], [X.], 29, 30; Urteil vom 27. Juni 2006 – 1 [X.], [X.], 502, 503; Urteil vom 9. Dezember 1986 – 1 StR 596/86, [X.]R § 211 Abs. 2 Heimtücke 3). [X.] der Täter seinem ahnungslosen Opfer auf, um an dieses heranzukommen, kommt es nicht mehr darauf an, ob und wann es die von dem ihm gegenübertretenden Täter ausgehende Gefahr erkennt ([X.], Urteil vom 12. Februar 2009 – 4 [X.], [X.], 264). Eine auf früheren Aggressionen beruhende latente Angst des Opfers hebt seine [X.]igkeit erst dann auf, wenn es deshalb im Tatzeitpunkt mit Feindseligkeiten des [X.] rechnet ([X.], Urteil vom 9. September 2003 – 5 [X.], [X.], 14, 16; Urteil vom 20. Oktober 1993 – 5 StR 473/93, [X.]St 39, 353, 368). Die Rechtsprechung hat daher auch bei Opfern, die aufgrund von bestehenden Konfliktsituationen oder früheren Bedrohungen dauerhaft Angst um ihr Leben haben, einen Wegfall der [X.]igkeit erst dann in Betracht gezogen, wenn für sie ein akuter Anlass für die Annahme bestand, dass der ständig befürchtete schwerwiegende Angriff auf ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit nun unmittelbar bevorsteht (vgl. [X.], Urteil vom 9. September 2003 – 5 [X.], [X.], 14, 15;  Urteil vom 10. Februar 2010 – 2 StR 503/09, [X.], 450, 451).

b) Nach den Feststellungen hatte die Nebenklägerin    [X.]   den in seinem Pkw wartenden Angeklagten bis wenige Sekunden vor der Tat nicht bemerkt. Ihre Befürchtung, der Angeklagte werde sie „irgendwann einmal erwischen“, beruhte auf vorangegangenen, zum Teil mehrere Monate zurückliegenden Todesdrohungen und dem Wissen um Nachstellungen des Angeklagten im Umfeld ihrer Wohnung. Umstände, die zu einer auf die [X.] bezogenen Aktualisierung und Konkretisierung dieser Befürchtung geführt haben, lassen sich den Feststellungen nicht entnehmen. Die Tatsache, dass die Nebenklägerin von dem auf ihr Leben gerichteten Angriff getroffen wurde, als sie mit ihrem gefüllten Einkaufswagen das belebte Gelände eines Supermarktes verließ, legt die Annahme nahe, dass sie sich jedenfalls in diesem Moment keines konkreten Angriffs von Seiten des Angeklagten versah und in einer hilflosen Situation überrascht wurde. Nach dem mit [X.] geführten überraschenden Angriff mit dem Pkw war der Nebenklägerin zwar noch eine kurze Flucht möglich, doch vermochte sie sich aufgrund der Kürze der ihr verbleibenden Reaktionszeit dem mit Tötungsvorsatz nachsetzenden Angeklagten nicht mehr zu entziehen oder wirkungsvolle Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

2. Das Vorliegen niedriger Beweggründe hat das [X.] mit der Begründung abgelehnt, dass der Angeklagte zwar vornehmlich aus Wut über das Verlassenwerden gehandelt habe, doch lasse sich nicht feststellen, dass die Tat aus schlechthin unverständlichen und verachtenswerten Motiven heraus begangen worden sei ([X.] 30 f.). Diese Ausführungen lassen eine sachlich rechtliche Überprüfung nicht zu und geben Anlass zu der Besorgnis, dass wichtige Umstände der Tat und zur Motivation des Angeklagten nicht berücksichtigt worden sind.

a) Aus niedrigen Beweggründen tötet, wer sich maßgeblich von einem oder mehreren Handlungsantrieben leiten lässt, die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb verwerflich sind (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 25. Juli 1952 – 1 StR 272/52, [X.]St 3, 132; Urteil vom 24. Mai 2012 – 4 [X.], Rn. 17). Ob dies der Fall ist, muss im Einzelfall auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren Faktoren beurteilt werden, die für die Motivbildung von Bedeutung waren (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 24. Mai 2012 – 4 [X.], Rn. 17; Urteil vom 16. Februar 2012 – 3 [X.], Rn. 10; Urteil vom 14. Dezember 2000 – 4 StR 375/00, [X.], 228, 229). Beruht die Tötung auf Gefühlsregungen wie Wut, Zorn oder Verärgerung, denen jedermann mehr oder weniger stark erliegen kann, kommt es für die Beurteilung auf die zugrunde liegende Gesinnung des [X.] an (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 10. Januar 2006 – 5 [X.], [X.], 1008, 1011; Urteil vom 14. Oktober 1987 – 3 [X.], [X.]R § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 8; MüKo-StGB/[X.] § 211 Rn. 71).

b) Das [X.] hat sich mit der Grundhaltung des Angeklagten, die seiner Wut über das Verlassenwerden zugrunde lag, nicht erkennbar auseinandergesetzt. Auch im Übrigen fehlt es an der erforderlichen Gesamtwürdigung. Nach den Feststellungen ging der Angeklagte davon aus, dass die Nebenklägerin zu ihm gehöre und – wie auch die gemeinsamen Kinder – zu tun habe, was er wünsche. Ihren Trennungswunsch ignorierte er ebenso, wie ein polizeiliches Rückkehrverbot und die Entscheidung des seinem Kulturkreis angehörenden Ältestenrates, den er zuvor selbst als Autorität angerufen hatte. Der direkte Tötungsvorsatz und die „hinrichtungsgleiche“ Tatausführung deuten darauf hin, dass es dem Angeklagten vornehmlich darum ging, seine Wut in einer Bestrafung der Nebenklägerin abzureagieren. Bei dieser Sachlage hätte erörtert werden müssen, ob die tatauslösende Gefühlsregung des Angeklagten auf einer Grundhaltung beruhte, die durch eine ungehemmte Eigensucht, exklusive Besitzansprüche und eine unduldsame Selbstgerechtigkeit gekennzeichnet ist. Eine solche Grundhaltung steht nach allgemeiner sittlicher Bewertung auf tiefster Stufe (vgl. [X.], Urteil vom 25. Juli 1952 – 1 StR 272/52, [X.]St 3, 132, 133; Beschluss vom 20. August 1996 – 4 [X.], [X.]St 42, 226, 227; Urteil vom 16. Februar 2012 – 3 [X.], Rn. 11).

III. Zur Revision des [X.]   [X.]

1. Die Revision des [X.]    [X.]    hat Erfolg, weil das [X.] bei der Prüfung einer versuchten Tötung aus niedrigen Beweggründen im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB ein nach den Feststellungen naheliegendes als niedrig zu bewertendes Tatmotiv nicht erörtert hat.

a) Ein niedriger Beweggrund kann auch gegeben sein, wenn sich der Täter zur Tötung eines Menschen entschließt, um sich einer berechtigten Festnahme zu entziehen und ungehindert entkommen zu können. Dieser Tatantrieb muss in aller Regel ebenso beurteilt werden, wie die in § 211 Abs. 2 StGB ausdrücklich hervorgehobene Verdeckungsabsicht, weil es dem Täter in beiden Fällen darum geht, sich seiner Verantwortung für begangenes Unrecht unter Inkaufnahme des Todes eines Menschen zu entziehen ([X.], Urteil vom 14. Juli 1970 – 1 StR 68/70, [X.] 1971, 722 bei [X.]; Urteil vom 14. Oktober 1987 – 3 [X.], [X.]R § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 8; vgl. auch [X.], Urteil vom 23. Dezember 1998 – 3 [X.], [X.], 74, 75; Urteil vom 14. Juli 1988 – 4 [X.], [X.]R § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 11; MüKo-StGB/[X.], § 211 Rn. 78; LK-StGB/Jähnke, 11. Aufl., § 211 Rn. 25).

b) Nach den Feststellungen wurde der Angeklagte nach dem Schuss auf die Nebenklägerin     [X.]   durch den Nebenkläger     [X.]     daran gehindert, unverzüglich mit seinem Auto zu fliehen. Als er sich aus dieser Lage mit dem Schuss in das Gesicht des [X.] befreit hatte, verließ er – wie von vorneherein geplant – fluchtartig den [X.]. Danach hätte sich das [X.] mit der Frage befassen müssen, ob sich der Angeklagte den Fluchtweg mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz freigeschossen und deshalb bei der Abgabe des zweiten Schusses aus einem niedrigen Beweggrund gehandelt hat.

2. Einen versuchten [X.] hat das [X.] im Ergebnis zutreffend verneint. Der Nebenkläger    [X.]     war nach den Feststellungen im [X.]punkt der Schussabgabe auf ihn weder arg- noch wehrlos. Der anfängliche Überraschungseffekt wirkte nicht mehr fort.

IV. Zur Revision des Angeklagten

Die Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte einen Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 250 Satz 1 StPO) geltend macht, bleibt erfolglos. Dabei kann es dahinstehen, ob der von dem Beschwerdeführer behauptete Verfahrensfehler vorliegt, weil ein Beruhenszusammenhang (§ 337 Abs. 1 StPO) ausgeschlossen werden kann. Das [X.] hat die Angaben des Ersthelfers    [X.].  , die in dem nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verlesenen polizeilichen Vermerk vom 2. April 2011 festgehalten worden sind, zur Stützung des Schuld- oder Strafausspruchs nicht herangezogen. Da sich diese Angaben lediglich auf ein Ereignis nach der Tat (Anfertigung von drei Lichtbildern des Pkw des flüchtenden Angeklagten) beziehen, handelte es sich bei    [X.].   auch nicht um einen „unmittelbaren Tatzeugen“, auf die sich die von dem Beschwerdeführer zur Begründung eines Beruhenszusammenhanges ins Feld geführte allgemeine Formulierung in den Urteilsgründen bezieht. Die Erwägungen, mit denen das [X.] einen strafbefreienden Rücktritt des Angeklagten verneint hat, haben keinen Bezug zu den von     [X.].   gefertigten Lichtbildern.

Die auf die nicht näher ausgeführte Sachrüge erfolgte Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Jedoch war der Schuldspruch zu berichtigen, weil der Angeklagte durch den von ihm herbeigeführten Zusammenstoß beide Nebenkläger verletzt und sich dadurch der gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB in zwei tateinheitlichen Fällen schuldig gemacht hat. § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO steht dem nicht entgegen ([X.], Urteil vom 14. Oktober 1959 – 2 [X.], [X.]St 14, 5, 7). Auch kann ausgeschlossen werden, dass es dem Angeklagten möglich gewesen wäre, sich anders als geschehen zu verteidigen.

V. Die Aufhebung der Verurteilungen wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen entzieht dem [X.] die Grundlage. Die [X.] kann dagegen bestehen bleiben, weil sie allein an die Verurteilung wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB anknüpft.

Soweit das Urteil auf die Revisionen der Nebenkläger aufgehoben worden ist, können die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen bestehen bleiben.

Mutzbauer                           Roggenbuck                       Schmitt

                     Quentin                                [X.]

Meta

4 StR 84/12

30.08.2012

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Essen, 25. Oktober 2011, Az: 22 Ks 11/11

§ 211 Abs 2 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 30.08.2012, Az. 4 StR 84/12 (REWIS RS 2012, 3541)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 3541

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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