Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 16.10.2007, Az. VI ZR 229/06

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2007, 1435

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[X.] ZR 229/06 vom 16. Oktober 2007 in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja [X.]: nein [X.]R: ja BGB § 823 Aa Ein Arzt im vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst kann bei [X.]n Anzeichen für eine coronare Herzerkrankung (hier: einen akuten Herzinfarkt) zur [X.] (Ausschlussdiagnostik) und damit zur Einweisung des Patienten in ein Krankenhaus verpflichtet sein. [X.], Beschluss vom 16. Oktober 2007 - [X.]/06 - [X.]

LG München I - 2 - Der [X.]. Zivilsenat des [X.] hat am 16. Oktober 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. [X.] und [X.] [X.], [X.], [X.] und [X.] beschlossen: Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] wird das Urteil des 1. Zivilsenats des [X.] vom 19. Okto-ber 2006 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Gegenstandswert: 597.670,58 • Gründe: [X.] Der Beklagte untersuchte den damals 34 Jahre alten Kläger im Rahmen des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes der [X.] am Mittwoch, den 6. März 1996, gegen 8.00 Uhr in dessen Wohnung. Der Klä-ger litt an Durchfall, Erbrechen, Schwindel und Übelkeit. Dem Beklagten wurde über Schmerzen im Brustbereich des [X.] berichtet. Die Ehefrau des [X.] wies den Beklagten darauf hin, dass in der Familie des [X.] eine Herz-1 - 3 - infarktgefährdung bestehe. Eine Messung ergab bei bekanntem Hochdruck ei-nen Blutdruck von 200/130. Der Beklagte verabreichte dem Kläger eine Tablet-te Gelonida sowie 5 mg Nifedipin. Der Kläger erbrach sich nach etwa 15 [X.]. Der Beklagte spritzte dem Kläger deshalb intramuskulär Dolantin. Er diag-nostizierte beim Kläger, der während der Anwesenheit des Beklagten zweimal wegen Durchfalls und Erbrechens die Toilette aufsuchte, einen grippalen Infekt, eine Intercostalneuralgie und Diarrhoe. Die Frage des Beklagten, ob er ins Krankenhaus gehen wolle, verneinte der Kläger. Kurz vor 12.00 Uhr desselben Tages fand die Ehefrau den leblos auf dem Boden liegenden Kläger. Ein herbeigerufener anderer Notarzt führte beim Kläger, bei dem er einen Atem- und Kreislaufstillstand befundet hatte, erfolg-reich Reanimationsmaßnahmen durch. Ein generalisierter hypoxischer [X.] hinterließ jedoch bleibende Beeinträchtigungen. Im Krankenhaus [X.] die Ärzte einen akuten Hinterwandinfarkt fest. 2 Der Kläger ist der Ansicht, der Beklagte habe die Möglichkeit eines Herz-infarkts abklären müssen. Dann wäre der Infarkt vermieden worden und der Hirnschaden nicht eingetreten oder deutlich geringer ausgefallen. Der Kläger verlangt vom Beklagten über den von dessen Haftpflichtversicherung ohne Anerkennung einer Rechtspflicht bezahlten Betrag von 60.000 DM hinaus ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 122.710,05 •, [X.] für Vergangenheit und Zukunft bis zur Vollendung des 65. Lebens-jahres sowie die Feststellung der Ersatzverpflichtung des [X.] für sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden, die aufgrund der fehlerhaften Behandlung entstanden seien. 3 Die Klage hatte keinen Erfolg. Die Berufung des [X.] ist zurückge-wiesen worden. Das Berufungsurteil ist u.a. veröffentlicht in [X.], 203. 4 - 4 - Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Der Kläger hat dage-gen form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt. I[X.] 5 Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg; sie führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. 1. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. 6 a) Das Berufungsgericht durfte das Gutachten E. und das Privatgutach-ten [X.] nicht zur Grundlage seines Urteils machen. Diese Gutachten berücksich-tigten Symptome, die der Kläger am 6. März 1996 nach seinem Prozessvortrag aufwies, nicht erkennbar in der erforderlichen Weise. 7 Nach dem Inhalt des [X.] vom 12. April 2000 hatte der Sachverständige die Schilderungen der Ehefrau des [X.] im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 29. März 2000 zu berücksichtigen. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass das [X.] Gutachten [X.] und der Privatsachverständige [X.] bei Erstellung ihrer Gutachten davon ausgegan-gen wären, der Kläger sei am Morgen des 6. März 1996 schweißgebadet ge-wesen und habe unter Schwindel gelitten, über starke Schmerzen im Nacken- und Brustbereich sowie darüber geklagt, dass er fast keine Luft bekomme. Sie berücksichtigen die Schwindelgefühle und die Atemnot des [X.] nicht in nachvollziehbarer Weise. Schließlich ist der Sachverständige B. im [X.] vom 8. Juli 2004 trotz des Antrags des [X.] im Schriftsatz vom 13. Mai 2003 (Frage 49) nicht darauf eingegangen, ob die genannten 8 - 5 - Symptome in Übereinstimmung mit dem Gutachten D. typisch für einen Herzin-farkt sind. 9 Dadurch, dass das Berufungsgericht diese Gutachten dennoch ausführ-lich selbst gewürdigt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt und die Auslas-sungen und die - in erster Instanz ausdrücklich gerügten - Widersprüche zu den Gutachten D. (vgl. Senat, Urteile vom 3. Dezember 1996 - [X.] ZR 309/95 - [X.], 191, 192; vom 16. Januar 2001 - [X.] ZR 498/99 - VersR 2001, 783, 784) nicht geklärt hat, hat es seinerseits [X.] des entscheidungserhebli-chen Klägervortrags nicht berücksichtigt (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 Alt. 1 ZPO) und damit den Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG fortgesetzt. Das führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache (§ 544 Abs. 7 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das [X.] bei der gebotenen Berücksichtigung der Angaben der Ehefrau des [X.] durch die Sachverständigen zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre. Insbesondere kann die Kausalität der Behandlung für den Schaden des [X.] nach den derzeitigen Feststellungen nicht verneint wer-den. Hätte der Beklagte die [X.] Möglichkeit eines akuten Herzinfarkts als naheliegend berücksichtigen müssen, hätte er sie entweder selbst ausschließen oder den Kläger umgehend in ein Krankenhaus einweisen müssen, damit die für einen Ausschluss erforderlichen Befunde erhoben [X.] wären. Dann wären möglicherweise der Eintritt eines Herz- und Kreislauf-stillstands oder doch die Folge einer hypoxischen Schädigung bei der zu [X.] ordnungsgemäßen Behandlung vermieden worden (vgl. Senat, [X.] 159, 48, 56 f. m.w.[X.]). Seine Würdigung der Gutachten im zu entscheidenden Einzelfall wird das Berufungsgericht daher - gegebenenfalls nach weiterem Vortrag der [X.] - überprüfen und dabei auch die [X.] der Nichtzulassungsbeschwerde 10 - 6 - berücksichtigen können, wonach bislang Feststellungen zu der Frage fehlten, ob die geklagten Schmerzen [X.] waren oder nicht. Auch dem Vortrag, dass die Ehefrau des [X.] hierzu vor der Polizei von dauernden Schmerzen berichtet habe, die sich bei einer bestimmten Haltung des [X.] besserten, wird es nachgehen können. Eine grundlegende Verkennung der Beweislast ist in diesem Zusammenhang nicht ersichtlich. 2. Das Berufungsurteil hat nicht aus einem anderen Grund Bestand (§ 561 ZPO). Entgegen der Ansicht der Beschwerdeerwiderung kann nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht davon ausgegangen werden, dass ein akuter Herzinfarkt des [X.] im Zeitpunkt des Arztbesuchs des Beklagten unwahrscheinlich oder äußerst unwahrscheinlich gewesen sei. Eine solche Wertung würde eine sachkundige Stellungnahme un-ter Berücksichtigung auch des Schweißausbruchs des [X.], seiner Atemnot, der Schwindelgefühle sowie des Schmerzbildes voraussetzen, an der es bis-lang fehlt. 11 3. Ob darüber hinaus weitere Gründe für eine Zulassung der Revision gegeben sind, bedarf keiner abschließenden Erörterung. 12 In der Revision könnte die gerichtliche Entscheidung, ob ein Arzt bei Symptomen, welche u.a. auch auf einen Herzinfarkt hindeuten können, diese mögliche Ursache ausschließen muss, lediglich darauf überprüft werden, ob der Tatrichter die dem Arzt obliegende Pflichtenstellung rechtlich zutreffend erfasst und die für die Beurteilung erforderlichen Umstände vollständig und richtig [X.] hat. Die Entscheidung über die Verletzung einer berufsspezifischen Sorgfaltspflicht durch einen Arzt, ist im Übrigen in erster Linie eine Tatfrage, die sich nach medizinischen Maßstäben richtet (vgl. Senat, Urteil vom 29. November 1994 - [X.] ZR 189/93 - [X.], 659, 660; [X.] - 7 - Kommentar/[X.], [X.]., § 823 [X.]. II Rn. 181; Laufs/[X.], Handbuch des [X.], 3. Aufl., § 99 Rn. 6; [X.]/[X.], Arzthaftungs-recht, 10. Aufl., Rn. 150 ff.; [X.]/[X.], [X.], 5. Aufl., Rn. [X.]). 14 Das Berufungsgericht wird ferner seine Ansicht überprüfen können, der Kläger sei beweisbelastet dafür, dass der Hirnschaden durch einen dringlichen Rat des Beklagten, eine Abklärung im Krankenhaus zu suchen, habe verhindert werden können. Ist [X.] der behauptete Schaden in seiner kon-kreten Ausprägung (vgl. Senat, Urteil vom 21. Juli 1998 - [X.] ZR 15/98 - [X.], 1153, 1154) und damit hier der Herz- und Kreislaufstillstand, ist für die behaupteten Folgen des Stillstands das Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO aus-reichend. Soweit des Berufungsgericht dem Kläger die Beweislast auferlegt [X.], dass die Schädigung in gleicher Weise bei pflichtgemäßem Verhalten des Beklagten erfolgt wäre, begegnet das rechtlichen Bedenken. In einem Fall rechtmäßigen Alternativverhaltens muss der Arzt beweisen, dass der gleiche Schaden auch bei rechtmäßigem Vorgehen eingetreten wäre (vgl. Senat, [X.] vom 2. Februar 1968 - [X.] ZR 115/67 - [X.], 558, 559; vom 15. März 2005 - [X.] ZR 313/03 - [X.], 836, 837; vom 5. April 2005 - [X.] ZR 216/03 - [X.], 942; [X.], [X.] 120, 281, 287). Ein mögliches Infarktrisiko des [X.] aus der Familienanamnese wird das Berufungsgericht nicht gegen die Ansicht der Sachverständigen verneinen können, ohne eigene Sachkunde darzutun. 15 - 8 - 4. Nach allem ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 7 ZPO), das auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden haben wird. 16 [X.] [X.] [X.] [X.] [X.] Vorinstanzen: [X.], Entscheidung vom 18.01.2006 - 9 O 1101/99 - [X.], Entscheidung vom 19.10.2006 - 1 U 2149/06 -

Meta

VI ZR 229/06

16.10.2007

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 16.10.2007, Az. VI ZR 229/06 (REWIS RS 2007, 1435)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2007, 1435

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