Bundesfinanzhof, Urteil vom 13.06.2013, Az. III R 63/11

3. Senat | REWIS RS 2013, 5032

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

(Pflicht zur Prüfung eines ausländischen Anspruchs auf kindergeldähnliche Leistungen bei Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG - Ermittlungspflichten des FG im Rahmen dieser Prüfung - Keine ausschließende Sperrwirkung des Art. 13 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 1408/71)


Leitsatz

1. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG verpflichtet das FG im Grundsatz, eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, ob für ein Kind ein Anspruch auf Gewährung dem Kindergeld vergleichbarer Leistungen nach ausländischem Recht besteht .

2. Bei dieser Prüfung hat es das maßgebende ausländische Recht gemäß § 155 FGO i.V.m. § 293 ZPO von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen .

3. Den für die Subsumtion unter das maßgebliche ausländische Recht entscheidungserheblichen Sachverhalt hat das FG unter Beachtung der erweiterten Mitwirkungspflichten des Klägers nach § 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 AO von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen .

Tatbestand

1

I. Im Revisionsverfahren ist streitig, ob dem Kläger und [X.] (Kläger) Kindergeld für seinen minderjährigen [X.] ([X.]) und seine minderjährige [X.]ochter ([X.]) für den Zeitraum [X.]eptember 2006 bis August 2009 ([X.]treitzeitraum) in voller Höhe nach dem [X.]inkommensteuergesetz ([X.][X.]tG) zusteht.

2

Der Kläger, ein [X.] [X.]taatsangehöriger, betrieb seit November 2004 einen Gewerbebetrieb im Inland. [X.]r bewohnte eine Zweizimmerwohnung in [X.]. [X.]eine [X.]hefrau lebte mit [X.] und [X.] in [X.]. [X.]ie war dort nicht berufstätig. Im Juni 2007 beantragte der Kläger Kindergeld für seine beiden Kinder. Aus einer während des Verwaltungsverfahrens eingereichten Bescheinigung der [X.] [X.]ozialversicherungsbehörde (ZU[X.]) ging hervor, dass der Kläger dort nicht versichert sei. [X.]r war in [X.] privat kranken- und rentenversichert.

3

Weiter ging aus dem teilweise übersetzten Vordruck [X.] 411 des [X.] [X.]rägers vom 8. [X.]eptember 2008 hervor, dass die [X.]hefrau des [X.] ab dem 16. November 2004 keinen Anspruch auf Familienleistungen habe, weil sie in [X.] nicht berufstätig gewesen sei. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familien-kasse) setzte mit [X.] vom 11. Februar 2009 Kindergeld zugunsten des [X.] für den Zeitraum ab Januar 2005 für [X.] und [X.] in jeweils hälftiger Höhe des gesetzlichen Anspruchs fest.

4

Hiergegen legte der Kläger [X.]inspruch ein. [X.]s wurde ein [X.] des Gemeindesozialamts [X.] vom 8. August 2008 vorgelegt, aus dem hervorging, dass ein Bewilligungsbescheid vom 16. November 2004, der der [X.]hefrau des [X.] [X.] Familienleistungen für [X.] und [X.] zugesprochen habe, aufgehoben worden sei. Zur Begründung wurde auf die Geltung der gesetzlichen Bestimmungen über die Koordinierung der [X.]ozialleistungssysteme und die berufliche [X.]ätigkeit des [X.] seit 2004 in [X.] verwiesen.

5

Mit [X.]chreiben vom 13. Mai 2009 wies die Familienkasse die [X.] Behörde darauf hin, dass der Kläger kein Beschäftigter i.[X.]. der Verordnung ([X.]WG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der [X.]ysteme der sozialen [X.]icherheit auf Arbeitnehmer und [X.]elbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), sei, weil er in [X.] nur privat versichert sei. Zudem wurde erfragt, ob der [X.]hefrau des [X.] bei Antragstellung ein Anspruch auf [X.] Familienleistungen zugestanden hätte. In dem am 25. [X.]eptember 2009 bei der Familienkasse eingegangenen Antwortschreiben (Vordruck [X.] 001) führte die [X.] Behörde mit Blick auf die fehlende [X.]rwerbstätigkeit der [X.]hefrau des [X.] aus, dass [X.] zur Zahlung der Familienleistungen verpflichtet sei. Die Familienkasse wies den [X.]inspruch mit [X.]ntscheidung vom 20. November 2009 als unbegründet zurück.

6

Mit der hiergegen erhobenen Klage begehrte der Kläger Kindergeld für [X.] und [X.] für den Zeitraum Januar 2005 bis [X.]eptember 2009 in voller Höhe. Das Finanzgericht ([X.]) gab der Klage mit dem in Deutsches [X.]teuerrecht/[X.]ntscheidungsdienst 2012, 799 veröffentlichten Urteil für den Zeitraum [X.]eptember 2006 bis August 2009 statt; im Übrigen wies es die Klage als unbegründet ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass im [X.]treitfall ausschließlich [X.] Kindergeldrecht anwendbar sei. Die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 [X.][X.]tG seien gegeben. Für den Zeitraum Januar 2005 bis August 2006 sowie den Monat [X.]eptember 2009 scheide jedoch eine Bewilligung in voller Höhe aus, weil für diese Zeiten ein Anspruch auf kindergeldähnliche Leistungen nach [X.]m Recht bestanden habe (§ 65 Abs. 1 [X.]atz 1 Nr. 2 [X.][X.]tG). Hingegen stehe dem Kläger für den Zeitraum [X.]eptember 2006 bis August 2009 das Kindergeld nach dem [X.][X.]tG in voller Höhe zu, weil während dieses Zeitraums kein solcher Anspruch nach [X.]m Recht existiert habe.

7

Mit der Revision macht die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung des § 65 Abs. 1 [X.]atz 1 Nr. 2 [X.][X.]tG geltend. Das [X.] habe rechtsfehlerhaft angenommen, nach § 155 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) i.V.m. § 293 der Zivilprozessordnung (ZPO) zur Prüfung des [X.] Rechts verpflichtet gewesen zu sein. [X.]s sei zu dem [X.]rgebnis gekommen, im Zeitraum [X.]eptember 2006 bis August 2009 habe kein Anspruch auf [X.] Familienleistungen bestanden. Bejahte man eine solche Prüfungspflicht des [X.], bestünde eine solche auch für die Familienkasse im Verwaltungsverfahren. Anderenfalls wäre sie in solchen Fällen einem Prozess- und Kostenrisiko ausgesetzt.

8

Zur Prüfung eines Anspruchs auf [X.] Familienleistungen bedürfe es vertiefter Kenntnisse. [X.]o werde nach Art. 5 Nr. 1 des in [X.] für die Gewährung von Kindergeld maßgeblichen Gesetzes über Familienleistungen vom 28. November 2003 ([X.]) Kindergeld gezahlt, "(...) soweit das Familieneinkommen pro Familienmitglied oder das [X.]inkommen der Person in Ausbildung höchstens 504 [X.] beträgt". Nach Art. 3 Nr. 2 [X.] werde als Familieneinkommen definiert "(...) das durchschnittliche monatliche [X.]inkommen der Familienmitglieder im Kalenderjahr, das dem [X.] vorangeht". Die Definition des [X.]inkommens sei wiederum in Art. 3 Nr. 1 [X.] enthalten. Diese Vorschrift bestehe aus den Buchst. a bis c, wobei der Buchst. c 26 Unterpunkte umfasse. Die grundlegende [X.]inkommensdefinition finde sich in Art. 3 Nr. 1 Buchst. a [X.], der wie folgt laute: "Als [X.]inkommen gelten nach Abzug der an andere Personen zu zahlenden Unterhaltsbeiträge: [X.]innahmen, die nach allgemeinen Regeln mit der [X.]inkommenssteuer zu versteuern sind, vermindert um Werbungskosten, geschuldete [X.]inkommenssteuer, nicht den Werbungskosten angerechnete [X.]ozialversicherungsbeiträge sowie Krankenversicherungsbeiträge (...)." Nach Art. 3 Nr. 10 [X.] gelte als [X.] "(...) der Zeitraum vom 1. [X.]eptember bis 31. August des nachfolgenden Kalenderjahres, für den der Anspruch auf Familienleistungen festgelegt wird". Aufgrund der Komplexität der dargestellten Vorschriften sei es für die Beklagte nicht möglich, eine umfassende [X.] [X.]inkommensberechnung durchzuführen. [X.]ine solche Verpflichtung sehe das Gesetz nicht vor. [X.]ie lasse sich auch nicht dem § 65 Abs. 1 [X.]atz 1 Nr. 2 [X.][X.]tG entnehmen. Abgesehen davon wäre sie nicht umsetzbar. Vielmehr sei es Aufgabe des [X.], durch geeignete Mittel (z.B. durch den Vordruck [X.] 411) nachzuweisen, dass im Ausland kein Anspruch auf vergleichbare Leistungen bestehe. Diese Vordrucke und die Zusammenarbeit mit ausländischen [X.]taaten wären überflüssig, wenn die Prüfung von möglichen ausländischen Ansprüchen durch die Familienkasse selbst erfolgen müsse.

9

Im Übrigen hätten auch bereits verschiedene [X.] entschieden, dass in solchen Fällen den Kläger eine erhöhte Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung ([X.]) treffe. Danach sei es weder Aufgabe der Familienkasse noch des [X.] fest-zustellen, ob bei entsprechender Antragstellung Leistungen im Ausland zu zahlen wären. [X.]s liege vielmehr in der [X.]phäre des [X.] zu belegen, dass dem nicht so sei.

Die Familienkasse beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit der Zeitraum [X.]eptember 2006 bis August 2009 betroffen ist.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der [X.]enat entscheidet mit [X.]inverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 [X.]O).

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 [X.]O). Das [X.] hat zu Recht entschieden, dass dem Kläger ein Kindergeldanspruch nach dem [X.]StG in voller Höhe zusteht.

1. Die Familienkasse ... der [X.] ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der [X.] eingetreten (s. Urteil des [X.] --[X.]-- vom 22. August 2007 [X.], [X.], 533, [X.], 109, unter II.1.).

2. Die Familienkasse wendet sich mit ihrer Revision gegen die Vorentscheidung, soweit dem Klagebegehren für den Zeitraum September 2006 bis August 2009 stattgegeben wurde. Auch wenn die Familienkasse mit Schriftsatz vom 25. August 2011 unbeschränkt Revision eingelegt hat, geht aus der Revisionsbegründung vom 5. Oktober 2011 hervor, dass sich ihr Rechtsmittel nur gegen das stattgebende [X.]rkenntnis richtet. In der durch die Revisionsbegründung erfolgten [X.]inschränkung des [X.] ist keine teilweise Rücknahme der Revision zu sehen (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 120 Rz 56 a.[X.]., m.w.N.).

3. Nach den den [X.] bindenden Feststellungen des [X.] (s. § 118 Abs. 2 [X.]O) lagen die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch des [X.] nach § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 1 Satz 3 [X.]StG vor. Damit stand dem Kläger im Grundsatz der Kindergeldanspruch in voller Höhe (s. § 66 [X.]StG) zu.

4. Sollte im Streitfall --wie vom [X.] entschieden-- § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.]StG anwendbar sein, wäre die [X.]ntscheidung des [X.], nach der dem Kläger für den Streitzeitraum Kindergeld in voller Höhe zusteht, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.]StG wird Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt, für das Leistungen zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.]StG genannten Leistungen vergleichbar sind. Bei Prüfung dieser Vorschrift sind folgende Grundsätze zu beachten:

a) § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.]StG verpflichtet das [X.], eine eigene [X.]ntscheidung darüber zu treffen, ob für ein Kind ein Anspruch auf Gewährung dem Kindergeld vergleichbarer Leistungen nach ausländischem Recht besteht. Diese Prüfungspflicht --die im Übrigen auch bereits für die Familienkasse besteht-- ergibt sich ohne Weiteres aus dem eindeutig formulierten Wortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.]StG.

aa) Der Tatbestand des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.]StG ist erfüllt, wenn entweder kindergeldähnliche Leistungen nach ausländischem Recht zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären. Für die Tatbestandsverwirklichung ist daher im Grundsatz ausreichend, dass ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die entsprechende Leistung nach ausländischem Recht besteht ([X.] vom 27. November 1998 VI B 120/98, [X.] 1999, 614). Dabei ist auch unerheblich, ob dieser Anspruch der nach [X.] Recht kindergeldberechtigten Person oder einem Dritten zusteht ([X.] in [X.] 1999, 614).

§ 65 [X.]StG sieht bei Durchführung dieser Prüfung für die [X.] und Familienkassen keine [X.]rleichterungen vor. Insbesondere wurde die Sonderregelung des § 8 Abs. 2 Satz 3 des Bundeskindergeldgesetzes in der Fassung vom 31. Januar 1994 --[X.] a.[X.] ([X.], 168) nicht in das [X.]StG übernommen, nach der die Zahlung des gemäß § 8 Abs. 2 [X.] a.F. zu gewährenden [X.] zwischen einer ausländischen Leistung und dem Kindergeld versagt werden konnte, wenn die ausländische Leistung nicht beantragt wurde und die Feststellung der anderen Leistung der [X.] erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde.

bb) Die Prüfung eines materiell-rechtlichen Anspruchs nach ausländischem Recht hätte jedoch zu unterbleiben, wenn hierüber bereits eine ausländische Behörde für den Streitzeitraum entschieden haben sollte und dem Bindungswirkung für die [X.] Behörden und Gerichte zukäme. Bei Vorliegen einer negativen [X.]ntscheidung (Ablehnung) mit Bindungswirkung ließe sich die Auffassung vertreten, dass keiner der in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.]StG genannten Tatbestände erfüllt sei.

Höchstrichterlich ist die Frage, ob aus derartigen [X.]ntscheidungen eine Bindungswirkung resultiert, noch nicht abschließend geklärt und bedarf auch im Streitfall keiner Klärung (s. dazu unter [X.]; eine solche unter dem Gesichtspunkt der sogenannten [X.] bejahend [X.] Münster, Urteil vom 18. Oktober 2011  15 K 2883/08 Kg, [X.]ntscheidungen der Finanzgerichte --[X.][X.]-- 2012, 140, mit [X.]. [X.]; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 65 [X.]StG Rz 6; [X.], in: [X.][X.], [X.]StG, § 65 Rz A 22; so unter Umständen auch [X.] in [X.] 1999, 614, zu einer positiven Bestätigung). Geklärt ist hingegen, dass eine Bindung von negativen [X.]ntscheidungen nicht existieren kann, wenn diese auf der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts beruhen ([X.]-Urteil vom 13. August 2002 VIII R 54/00, [X.], 204, [X.] 2002, 869) oder bei Antragstellung gegenüber der ausländischen Behörde unzutreffende bzw. unvollständige Tatsachenangaben gemacht worden sind ([X.]-Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 67/01, [X.] 2002, 1294).

Daneben kann sich eine Bindungswirkung auch aus Bescheinigungen ergeben, die in Durchführung der [X.] Nr. 1408/71 von den zuständigen Trägern ausgestellt werden (Urteil des Gerichtshofs der [X.] --[X.]uGH-- vom 26. Januar 2006 [X.]-2/05, [X.], [X.]. 2006, [X.]. 18 ff.). [X.]ine solche Wirkung ist daher z.B. auch dann in Betracht zu ziehen, wenn zur Anwendung des Art. 76 der [X.] Nr. 1408/71 und des Art. 10 der Verordnung ([X.]) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der [X.] Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der [X.]n Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern ([X.] Nr. 574/72), das [X.] nach dem Vordruck [X.] 411 durchgeführt wird.

b) Sollte es danach bei einer Prüfungspflicht des [X.] verbleiben, hat es das maßgebende ausländische Recht gemäß § 155 [X.]O i.V.m. § 293 ZPO und den zugrundeliegenden Sachverhalt unter Beachtung der erweiterten Mitwirkungspflichten des [X.] (§ 76 Abs. 1 Satz 4 [X.]O i.V.m. § 90 Abs. [X.]) von Amts wegen zu ermitteln.

aa) [X.]ntgegen der Ansicht der Familienkasse ist es Aufgabe des [X.] als Tatsacheninstanz, das maßgebende ausländische Recht gemäß § 155 [X.]O i.V.m. § 293 ZPO von Amts wegen zu ermitteln ([X.]-Urteil vom 15. März 1995 I R 14/94, [X.][X.] 177, 263, [X.] 1995, 502, unter [X.]; s. dazu auch Urteil des [X.] vom 19. Juli 2012  10 [X.] 2/12, Neue Juristische Wochenschrift 2012, 3461; Urteil des [X.] --BGH-- vom 30. April 1992 IX ZR 233/90, [X.], 151, unter [X.]). [X.]s ist nicht Aufgabe des [X.], die Regelungen über das ausländische Recht (im [X.]inzelnen) darzulegen (a.A. [X.] Münster, Urteil vom 14. Dezember 2010  1 K 4131/07 Kg, [X.][X.] 2011, 718).

Wie das [X.] das ausländische Recht ermittelt, steht in seinem pflichtgemäßen [X.]rmessen ([X.]-Urteil vom 19. Dezember 2007 I R 46/07, [X.] 2008, 930). Dabei lassen sich die Anforderungen an Umfang und Intensität der [X.]rmittlungspflicht des Tatrichters nur in sehr eingeschränktem Maße generell-abstrakt bestimmen. An die [X.]rmittlungspflicht werden umso höhere Anforderungen zu stellen sein, je komplexer oder je fremder das anzuwendende Recht im Vergleich zum eigenen ist. Gleiches wird man annehmen müssen, wenn die Beteiligten die ausländische Rechtspraxis detailliert und kontrovers vortragen (s. zum Ganzen auch [X.] in [X.], 151, unter [X.]). Der Umstand, dass das ausländische Recht ggf. sehr komplex ist, kann das [X.] von dieser [X.]rmittlungspflicht nicht entbinden. [X.]ine [X.]ntscheidung nach den Grundsätzen der Feststellungslast ist in diesem Bereich nicht möglich; die ausländischen Rechtssätze werden zu keinen Tatsachen.

bb) Von der von Amts wegen durchzuführenden [X.]rmittlung ausländischen Rechts ist die [X.]rmittlungspflicht des [X.] hinsichtlich des zugrundeliegenden Sachverhalts zu unterscheiden.

Das [X.] ist als Tatsacheninstanz gemäß § 76 Abs. 1 [X.]O von Amts wegen verpflichtet, den Sachverhalt unter Ausschöpfung aller zur Verfügung stehender Beweismittel zu erforschen. Die Beteiligten haben bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken und [X.]rklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben (§ 76 Abs. 1 Satz 2 [X.]O). Bei einem Sachverhalt, der sich auf Vorgänge im Ausland bezieht, trifft den Steuerpflichtigen nach § 76 Abs. 1 Satz 4 [X.]O i.V.m. § 90 Abs. [X.] eine erhöhte Aufklärungs- und Beweismittelbeschaffungspflicht. Diese erweiterte Mitwirkungspflicht umfasst auch den (außer[X.]) Bereich der [X.] ([X.] vom 15. Dezember 2005 IX B 131/05, [X.] 2006, 904; [X.] in [X.]/[X.]/[X.] --[X.]--, § 76 [X.]O Rz 120). Zu beachten bleibt jedoch, dass auch die erweiterte Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. [X.] auf Tatsachen beschränkt bleibt.

cc) Sollte sich danach im finanzgerichtlichen Verfahren keine --ggf. Bindungswirkung besitzende-- negative [X.]ntscheidung bzw. Bescheinigung einer ausländischen Behörde über das Nichtbestehen eines Anspruchs auf ausländische Familienleistungen beibringen lassen (z.B. wegen fehlender Antragstellung im Ausland), darf das [X.] nicht bereits deswegen zu Lasten des [X.] unterstellen, es habe ein Anspruch nach ausländischem Recht bestanden. Insbesondere kann von dem Kläger selbst unter Beachtung seiner erweiterten Mitwirkungspflichten nicht erwartet werden, aus Gründen der [X.] stets im Ausland einen Antrag auf Familienleistungen zu stellen. [X.]ine solche Betrachtung liefe dem Wortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.]StG zuwider, der --gerade unabhängig von einer Antragstellung-- auf das bloße Bestehen eines materiell-rechtlichen Anspruchs abstellt. Abgesehen davon lässt sich eine solche Verschärfung der Nachweispflicht auch nicht dem § 90 Abs. [X.] entnehmen.

c) Die Vorentscheidung entspricht --jedenfalls im [X.]rgebnis-- diesen Maßstäben:

Das [X.] hat im Streitfall eine Bindungswirkung aus den vorliegenden Vordrucken [X.] 411 vom 8. September 2008 und [X.] 001 vom 17. September 2009 sowie dem Bescheid des Gemeindesozialamts [X.] vom 8. August 2008 abgelehnt und von Amts wegen das maßgebliche [X.] Recht sowie den zugrunde zu legenden Sachverhalt ermittelt. Dabei kann für das Revisionsverfahren die Frage nach einer Bindungswirkung unbeantwortet bleiben. Diesen [X.]ntscheidungen/Bescheinigungen lässt sich allenfalls entnehmen, dass kein Anspruch auf [X.] Familienleistungen bestanden hat. Zum gleichen [X.]rgebnis führt die vom [X.] durchgeführte Prüfung des [X.]n Rechts, die --bei Annahme einer fehlenden Bindungswirkung-- einer revisionsrechtlichen Nachprüfung standhält.

aa) Der [X.] wäre an die Feststellungen des [X.] zum [X.]n Recht gebunden (§ 118 Abs. 2 [X.]O).

(1) [X.]ine Revision kann nicht darauf gestützt werden, die Vorentscheidung beruhe auf der fehlerhaften Anwendung ausländischen Rechts; das ausländische Recht gehört nicht zum Bundesrecht i.S. des § 118 Abs. 1 [X.]O. Vielmehr sind die Feststellungen zu Bestehen und Inhalt des ausländischen Rechts für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend (§ 155 [X.]O i.V.m. § 560 ZPO). Sie sind revisionsrechtlich wie Tatsachenfeststellungen zu behandeln (z.B. [X.]-Urteil in [X.] 2002, 1294; Lange in [X.], § 118 [X.]O Rz 65 f.; [X.] in [X.]/Gosch, [X.]O § 118 Rz 38). Allerdings entfällt die Bindungswirkung, soweit die erstinstanzlichen Feststellungen auf einem nur kursorischen Überblick über die zu behandelnde Materie beruhen (s. dazu [X.]surteil vom 4. August 2011 III R 36/08, [X.] 2012, 184, unter [X.]b aa, m.w.N.). In diesem Fall liegt ein materieller Mangel der Vorentscheidung vor ([X.] in [X.]/ Gosch, [X.]O § 118 Rz 38.2). Im Übrigen ist aufgrund einer entsprechenden Verfahrensrüge --in gewissen [X.] die Frage nachprüfbar, ob das [X.] bei der [X.]rmittlung des ausländischen Rechts gegen seine prozessrechtliche [X.]rmittlungspflicht (§ 155 [X.]O i.V.m. § 293 ZPO) verstoßen hat (s. dazu [X.]-Urteil in [X.] 2008, 930).

(2) [X.]ine solche Verfahrensrüge hat die Familienkasse jedoch nicht erhoben. Vielmehr hat sie sich --wie bereits im erstinstanzlichen [X.] gegen die vom [X.] vorgenommene Auslegung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.]StG gewendet, nach der es Aufgabe des [X.] oder bereits der Familienkasse sei, über einen Anspruch nach ausländischem Recht zu entscheiden.

(3) Die Bindungswirkung entfiele auch nicht deshalb, weil die erstinstanzlichen Feststellungen auf einem nur kursorischen Überblick über die zu behandelnde Materie beruhten (s. dazu [X.]surteil in [X.] 2012, 184, unter [X.]b aa, m.w.N.). Hiervon könnte mit Blick auf den Umfang der vom [X.] gemachten Feststellungen zum ausländischen Recht nicht ausgegangen werden. So hat das [X.] insbesondere folgende Feststellungen zum [X.]n Recht getroffen:

In [X.] seien ab dem 1. Mai 2004 das Familiengeld, Betreuungsleistungen und Unterstützungsleistungen für die Geburt eines Kindes als Familienleistungen eingeführt worden. Dabei sei nur das Familiengeld dem Kindergeld vergleichbar. Der Inhalt der [X.]n Regelungen über Familienleistungen ergebe sich aus dem FamLstgG-PL ([X.]. 2255). Danach sei Voraussetzung für die Gewährung von Familiengeld, dass das Familieneinkommen pro Kopf 504 PLN (bzw. 583 PLN bei einem behinderten Kind) nicht übersteige. [X.] für die Festsetzung sei der Zeitraum vom 1. September bis 31. August des nachfolgenden Jahres, für den der Anspruch auf Familienleistungen festgesetzt werde (Art. 3 Nr. 10 FamLstgG-PL). Maßgeblich sei nicht das Familieneinkommen während des [X.]s, sondern das durchschnittliche monatliche [X.]inkommen der Familienmitglieder im Kalenderjahr, das dem [X.] vorangehe (Art. 3 Nr. 2 FamLstgG-PL). Danach ergebe sich für eine vierköpfige Familie für den [X.] September 2006 bis August 2007 ein maßgeblicher Grenzbetrag 2005 in Höhe von 6.017,76 €, für den [X.] September 2007 bis August 2008 ein maßgeblicher Grenzbetrag 2006 in Höhe von 6.203,04 € und für den [X.] September 2008 bis August 2009 ein maßgeblicher Grenzbetrag 2007 in Höhe von 6.399,84 €.

Daneben hat das [X.] bereits in der Aufklärungsanordnung vom 11. Januar 2011 ausgeführt, dass maßgeblich für die [X.]rmittlung des [X.]inkommens alle [X.]innahmen der Familienmitglieder (unabhängig davon, ob steuerbar oder steuerfrei, auch Sozialleistungen verschiedenster Art) seien. Hiervon seien abzusetzen: Unterhaltszahlungen an Dritte, Werbungskosten, geschuldete [X.]inkommensteuer sowie Sozialversicherungs- und Krankenkassenbeiträge.

bb) In tatsächlicher Hinsicht hat das [X.] die [X.]innahmen und Abzugsbeträge ([X.]inkommensverhältnisse) des [X.] und seiner [X.]hefrau aus den [X.]inkommensteuerbescheiden für 2005 bis 2007 entnommen. An die diesen Besteuerungsgrundlagen zugrundeliegenden --nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen-- tatsächlichen Verhältnisse der Jahre 2005 bis 2007 wäre der [X.] ebenfalls gebunden (s. § 118 Abs. 2 [X.]O).

cc) Hierauf hat das [X.] das [X.] Recht angewendet. [X.]s kam zu dem [X.]rgebnis, dass die jeweiligen Familieneinkommen der Jahre 2005 bis 2007 die nach dem [X.]n Recht maßgeblichen Grenzbeträge 2005 bis 2007 erheblich überschreiten würden. Sollten dem [X.] hierbei Fehler bei der Anwendung des [X.]n Rechts unterlaufen sein, wären diese nicht revisibel.

5. Sollte im Streitfall hingegen der den § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.]StG verdrängende Art. 10 der [X.] Nr. 574/72 anwendbar sein, stünde dem Kläger das begehrte Kindergeld ebenfalls zu. [X.]s verbliebe schon deshalb bei der alleinigen Zahlungsverpflichtung [X.], weil kein materiell-rechtlicher Anspruch auf [X.] Familienleistungen bestünde.

6. Schließlich wäre der Kindergeldanspruch auch dann nicht ausgeschlossen, wenn der Kläger bei eröffnetem persönlichen Geltungsbereich der [X.] Nr. 1408/71 nach den Art. 13 ff. dieser Verordnung nicht den [X.], sondern "nur" den [X.]n Rechtsvorschriften unterliegen würde (s. Art. 13 Abs. 1 Satz 1 der [X.] Nr. 1408/71).

Die vom [X.] früher in ständiger Rechtsprechung vertretene unionsrechtliche Sperrwirkung des Art. 13 Abs. 1 Satz 1 der [X.] Nr. 1408/71, die eine Anwendung der [X.] Kindergeldvorschriften (§§ 62 ff. [X.]StG) ausschließe, besteht gerade nicht (s. dazu auch [X.]surteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.][X.] 241, 511). Dies ergibt sich aus den [X.]uGH-Urteilen in den Rechtssachen [X.] ([X.]uGH-Urteil vom 20. Mai 2008 [X.]-352/06, [X.]. 2008, [X.]) sowie [X.] und [X.] ([X.]uGH-Urteil vom 12. Juni 2012 [X.]-611/10, [X.]-612/10, Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht --Z[X.]SAR-- 2012, 475). Auch wenn diese Urteile zur Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.] --A[X.]UV--) ergangen sind, im Streitfall hingegen die Ausübung der Niederlassungsfreiheit (Freizügigkeit der Selbständigen; Art. 49 A[X.]UV) in Rede steht, ist kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, einen Selbständigen --bei eröffnetem persönlichen Geltungsbereich der [X.] Nr. 1408/71-- anders zu behandeln als einen Arbeitnehmer. So hat der [X.]uGH in den genannten Urteilen die fehlende unionsrechtliche Sperrwirkung nicht nur auf die Art. 45 ff. A[X.]UV (Arbeitnehmerfreizügigkeit) gestützt, sondern auch auf den ersten [X.]rwägungsgrund der [X.] Nr. 1408/71, nach dem die Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Regelungen über [X.] Sicherheit zur Freizügigkeit von Personen gehören und zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen sollen ([X.]uGH-Urteile in [X.]. 2008, [X.] Rdnr. 30; in Z[X.]SAR 2012, 474 Rdnr. 47). Dieser Zweck trifft bei eröffnetem persönlichen Geltungsbereich gleichermaßen auf Arbeitnehmer und Selbständige zu. Hiervon ausgehend soll der unzuständige Staat nicht gehindert werden, nach seinem Recht Familienleistungen zu gewähren ([X.]uGH-Urteile in [X.]. 2008 [X.], Rdnr. 31; in Z[X.]SAR 2012, 474 [X.]. 48, 51).

Meta

III R 63/11

13.06.2013

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Nürnberg, 1. August 2011, Az: 3 K 2003/2009, Urteil

§ 90 Abs 2 AO, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2002, § 40 Abs 2 FGO, § 76 Abs 1 FGO, § 118 Abs 1 FGO, § 155 FGO, § 293 ZPO, § 560 ZPO, Art 13 Abs 1 S 1 EWGV 1408/71, Art 10 EWGV 574/72, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2009, EStG VZ 2006, EStG VZ 2007, EStG VZ 2008, EStG VZ 2009, § 118 Abs 2 FGO, § 62 EStG 2002, § 62ff EStG 2002, § 62 EStG 2009, § 62ff EStG 2009, Art 45 AEUV, Art 49 AEUV

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 13.06.2013, Az. III R 63/11 (REWIS RS 2013, 5032)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 5032

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

III R 10/11 (Bundesfinanzhof)

(Bindung des BFH an die Feststellungen des FG zu Bestehen und Inhalt ausländischen Rechts bei …


III R 4/13 (Bundesfinanzhof)

(Kindergeld - Bindung des BFH an die Feststellungen des FG zum ausländischen Recht bei Prüfung …


XI R 10/13 (Bundesfinanzhof)

Polnische Zulage für Alleinerziehende als anzurechnende Familienleistung bei der Gewährung von (Differenz-) Kindergeld


III R 21/12 (Bundesfinanzhof)

(Kindergeld - Wohnsitz einer natürlichen Person i.S. des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG …


III R 34/18 (Bundesfinanzhof)

Koordinierung von Kindergeldansprüchen zwischen zwei EU-Staaten


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.