11. Senat | REWIS RS 2015, 5356
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Polnische Zulage für Alleinerziehende als anzurechnende Familienleistung bei der Gewährung von (Differenz-) Kindergeld
NV: Bei der Gewährung von (Differenz-)Kindergeld an eine im Inland nichtselbständig tätige "Wanderarbeitnehmerin" ist auch eine nach polnischem Recht gewährte Zulage für Alleinerziehende zu berücksichtigen .
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 30. Januar 2013 15 K 47/09 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
I. [X.]ie Beteiligten streiten um die Zahlung von Kindergeld für den [X.]raum September 2006 bis August 2007 (Streitzeitraum) für das minderjährige Kind A.
[X.]ie verwitwete Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist [X.] Staatsangehörige und lebt seit September 2006 in [X.] Ihre Tochter lebte seit dem 20. November 2006 in ihrem Haushalt. [X.]ie Klägerin war nach ihren Angaben in der [X.] vom 21. April 2006 bis 20. Juli 2006 bei der [X.]n Firma [X.], in der [X.] ([X.]) als Altenpflegerin beschäftigt. [X.]. einer Bescheinigung des Referats für Familienleistungen des Amtes der Stadt [X.] ([X.]) bezog die Klägerin in der [X.] vom 1. Mai 2004 bis 31. August 2007 Familienleistungen in Form von Familienbeihilfe in Höhe von 64 [X.] monatlich, Zulage für Alleinerziehende von 170 [X.] monatlich und einen einmaligen Zuschuss für den Schulbeginn von 100 [X.].
[X.]ie Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) setzte zunächst mit Bescheid vom 19. [X.]ezember 2007 ab September 2007 Kindergeld in Höhe von monatlich 154 € fest. Für den Streitzeitraum lehnte sie den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld mit Bescheid vom 15. Mai 2008 ab.
Gegen den Ablehnungsbescheid legte die Klägerin fristgerecht Einspruch ein. Noch bevor die Familienkasse eine Entscheidung über den Einspruch getroffen hatte, erhob die Klägerin eine Klage mit dem Begehren, die Familienkasse zu verpflichten, ihr Kindergeld in Höhe von insgesamt 1.848 € für den Streitzeitraum zu gewähren. Während des Klageverfahrens erließ die Familienkasse am 13. November 2008 einen als "Abhilfebescheid" bezeichneten Änderungsbescheid, in dem sie der Klägerin für den streitigen [X.]raum Kindergeld in Höhe von 82,20 € monatlich gewährte. Sie rechnete dabei [X.] Familienleistungen in Höhe von insgesamt 234 [X.] monatlich (Familienbeihilfe 64 [X.] zuzüglich Zulage für Alleinerziehende 170 [X.]) an. Im Termin zur mündlichen Verhandlung erklärte der Vertreter der Familienkasse, er halte nicht länger daran fest, dass die Klägerin im Streitzeitraum in [X.] selbständig gewesen sei.
[X.]as Finanzgericht ([X.]) gab der Klage überwiegend statt und verpflichtete die Familienkasse, der Klägerin für die Monate September 2006 bis einschließlich August 2007 Kindergeld in Höhe von 137,55 € anstelle von nur 82,20 € pro Monat zu gewähren. Zwar sei das [X.] Kindergeld um die in [X.] empfangenen Leistungen zu kürzen. Zu diesen anrechenbaren Leistungen gehöre aber nur das in [X.] gewährte Kindergeld in Höhe von 64 [X.]. [X.]ie laufenden [X.] und der einmalige [X.] seien [X.] Leistungen, die dem [X.]n Kindergeld nicht vergleichbar seien. [X.]as Urteil des [X.] ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 797 veröffentlicht.
Mit ihrer hiergegen eingelegten Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
[X.]ie Entscheidung des [X.] beruhe auf einer unzutreffenden Auslegung von Art. 1 Buchst. u Ziff. i, Art. 4 und Art. 5 der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der [X.]n Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71). Nach Art. 1 Buchst. u Ziff. i der VO Nr. 1408/71 seien Familienleistungen alle Sach- und Geldleistungen, die zum Ausgleich von [X.] im Rahmen der in Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der VO Nr. 1408/71 genannten Rechtsvorschriften bestimmt seien. Entgegen der Auffassung des [X.] sei die [X.] Zulage für Alleinerziehende ihrem Sinn und Zweck nach als Familienleistung i.S. des Art. 4 der VO Nr. 1408/71 anzusehen und daher bei der Gewährung des Kindergeldes anzurechnen.
[X.]ie Familienkasse beantragt, das [X.]-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
[X.]ie Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das [X.]-Urteil für zutreffend.
II. Im Streitfall hat zum 1. Mai 2013 ein gesetzlicher [X.] stattgefunden. Beklagte und Revisionsklägerin ist nunmehr die Familienkasse … (vgl. z.B. Urteile des [X.] --[X.]-- vom 28. Mai 2013 XI R 38/11, [X.], 1774, Rz 14). Das Rubrum war entsprechend zu ändern.
III. Die Revision der Familienkasse ist begründet. Sie führt zur [X.]ufhebung der Vorentscheidung und zur [X.]bweisung der Klage (§ 126 [X.]bs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).
Das [X.] hat im Rahmen der Gewährung von ([X.] zu Unrecht die der Klägerin in [X.] gewährte Zulage für [X.]lleinerziehende nicht angerechnet.
1. Das [X.] hat zutreffend erkannt, dass die Klägerin dem Grunde nach einen [X.]nspruch auf Kindergeld hat. Denn die Klägerin hat gemäß § 62 [X.]bs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ihren Wohnsitz im Inland. Ihre Tochter [X.] ist gemäß § 63 [X.]bs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 EStG, § 32 [X.]bs. 1 Nr. 1 EStG und § 32 [X.]bs. 3 EStG als Kind zu berücksichtigen. Dies ist im Übrigen zwischen den Beteiligten unstreitig.
2. Ferner hat das [X.] zu Recht erkannt, dass § 65 [X.]bs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG der Gewährung von Kindergeld nicht entgegensteht.
a) Nach § 65 [X.]bs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG wird Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt, für das im [X.]usland Leistungen zu zahlen sind oder bei entsprechender [X.]ntragstellung zu zahlen wären, die dem Kindergeld oder einer der unter § 65 [X.]bs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind.
b) Die [X.]uslegung dieser Vorschrift hat unter Beachtung der [X.]nforderungen des Primärrechts der [X.] auf dem Gebiet der Freizügigkeit der [X.]rbeitnehmer zu erfolgen (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen [X.] --[X.]-- [X.] und [X.] vom 12. Juni 2012 [X.]/10 und [X.]/10, [X.]:[X.], [X.]Entscheidungsdienst 2012, 999). Danach darf in einem Fall, in dem in einem anderen Mitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden, der [X.]nspruch auf Kindergeld nach dem EStG gemäß § 65 [X.]bs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nur in entsprechender Höhe gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn anderenfalls das Freizügigkeitsrecht der "Wanderarbeitnehmer" beeinträchtigt wäre (z.B. [X.]-Urteile vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.], 511, [X.], 1040, Rz 29; vom 8. [X.]ugust 2013 III R 17/11, [X.], 306, Rz 32; vom 18. Dezember 2013 III R 44/12, [X.], 344, [X.], 143, Rz 14; vgl. auch [X.]/[X.], EStG, 34. [X.]ufl., § 65 Rz 6, m.w.N.).
c) Bei [X.]nwendung dieser Rechtsgrundsätze im Streitfall ergibt sich zunächst, dass ein [X.]usschluss der Leistungen nach § 65 [X.]bs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausscheidet, weil die Klägerin bei der [X.]ufnahme ihrer nichtselbständigen Tätigkeit in [X.] seinerzeit von ihrem Freizügigkeitsrecht als "Wanderarbeitnehmerin" Gebrauch gemacht hat.
3. Das [X.] hat aber zu Unrecht entschieden, dass lediglich die [X.] Familienbeihilfe und nicht auch die monatliche [X.] Zulage für [X.]lleinerziehende bei der Gewährung des [X.] ([X.]es zu berücksichtigen sind.
a) Die Klägerin hat nach [X.]m Recht Familienbeihilfen in Höhe von 64 [X.] monatlich, eine Zulage für [X.]lleinerziehende von 170 [X.] monatlich und einen einmaligen Schulzuschuss von 100 [X.] erhalten.
b) Nach [X.]rt. 4 [X.]bs. 1 Buchst. h der bei [X.]nwendung des § 65 [X.]bs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu beachtenden VO Nr. 1408/71 (vgl. dazu z.B. [X.]-Urteil vom 5. Februar 2015 III R 40/09, [X.], 138, [X.]/NV 2015, 893) gilt diese Verordnung in ihrem sachlichen [X.]nwendungsbereich für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die u.a. "Familienleistungen" betreffen. Dabei umfasst der Begriff "Familienleistungen" nach [X.]rt. 1 Buchst. u Ziff. i der [X.] 1408/71 grundsätzlich alle Sach- oder Geldleistungen, die zum "[X.]usgleich von [X.]" im Rahmen der in [X.]rt. 4 [X.]bs. 1 Buchst. h der [X.] 1408/71 genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind.
c) Zum "[X.]usgleich von [X.]" hat der [X.] in seinem Urteil [X.] vom 15. März 2001 [X.]/99 ([X.]:C:2001:166, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht --FamRZ-- 2001, 683) unter Rz 38 ausgeführt: "... Familienleistungen [sollen] dazu dienen ..., [X.]rbeitnehmer mit [X.] dadurch sozial zu unterstützen, dass sich die [X.]llgemeinheit an diesen Lasten beteiligt". Der [X.]usdruck "[X.]usgleich von [X.]" in [X.]rt. 1 Buchst. u Ziff. i der [X.] 1408/71 erfasse folglich einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget, der die Kosten des Unterhalts von Kindern verringern solle ([X.]-Urteil [X.], [X.]:C:2001:166, FamRZ 2001, 683, Rz 41).
Der [X.] hat diese Rechtsprechung zum Begriff der "Familienleistungen" nach [X.]rt. 1 Buchst. u Ziff. i der [X.] 1408/71 übernommen (vgl. zum [X.] Unterhaltszuschuss nach dem [X.] 200: [X.]-Urteil vom 17. [X.]pril 2008 III R 36/05, [X.]E 221, 50, [X.], 921, unter [X.] bb, Rz 23; zur [X.] Familienzulage: [X.]-Urteil vom 26. Juli 2012 III R 97/08, [X.]E 238, 120, [X.], 24, unter [X.] aa, Rz 21).
d) Im Streitfall gelten hiernach nicht nur die [X.] Familienbeihilfe, sondern auch die [X.] Zulage für [X.]lleinerziehende gemäß [X.]rt. 2 Nr. 1, [X.]rt. 8 Nr. 3a und [X.]rt. 11a des [X.]n Gesetzes vom 28. November 2003 über Familienleistungen (--[X.]--, Gesetzblatt Nr. 228/2003 [X.]. 2255) jeweils als staatliche Beiträge zum Familienbudget in diesem Sinne.
aa) Nach [X.]rt. 2 Nr. 1 [X.] gehören das Kindergeld und die Zuschläge zum Kindergeld zu den Familienleistungen. Nach [X.]rt. 8 Nr. 3a [X.] kann die Zulage für [X.]lleinerziehende als Zuschlag mit dem Kindergeld bewilligt werden. Die Zulage beträgt nach [X.]rt. 11a Nr. 3 [X.] 170 [X.] monatlich pro Kind. Somit erfüllt die in [X.] im streitbefangenen Zeitraum gewährte Zulage für [X.]lleinerziehende als Zuschlag des Kindergeldes denselben Zweck wie das Kindergeld selbst, nämlich die teilweise Deckung der [X.]ufwendungen für den Unterhalt des Kindes ([X.]rt. 4 Nr. 1 [X.]).
bb) Entgegen der [X.]nsicht des [X.] gehört diese Zulage für [X.]lleinerziehende auch nach [X.]uffassung der Verwaltung zu den vergleichbaren Leistungen i.S. des § 65 [X.]bs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG (vgl. Schreiben des Bundeszentralamts für Steuern vom 21. März 2014, [X.], 768, [X.]nlage).
4. Das [X.] ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Seine Entscheidung war daher aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage war abzuweisen, weil der Klägerin nicht mehr als das von der Familienkasse gewährte Kindergeld von 82,20 € zustand. Ihre Einwendung gegen die Währungsumrechnung hat die Klägerin im Revisionsverfahren nicht weiterverfolgt.
5. [X.] beruht auf § 135 [X.]bs. 2 [X.]O.
Meta
16.09.2015
Urteil
vorgehend FG Köln, 30. Januar 2013, Az: 15 K 47/09, Urteil
§ 32 Abs 1 Nr 1 EStG 2002, § 32 Abs 3 EStG 2002, § 62 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2002, § 63 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2002, § 63 Abs 1 S 2 EStG 2002, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2002, Art 1 Buchst u Ziff 1 EWGV 1408/71
Zitiervorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 16.09.2015, Az. XI R 10/13 (REWIS RS 2015, 5356)
Papierfundstellen: REWIS RS 2015, 5356
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