Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.09.2012, Az. 5 AZR 924/11

5. Senat | REWIS RS 2012, 3054

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Gegenstand

Zweistufige Ausschlussfrist - Annahmeverzugsvergütung - Krankengeld


Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 28. September 2011 - 3 [X.] - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 7.466,79 Euro seit dem 5. Februar 2010, aus weiteren 2.723,24 Euro seit dem 28. April 2010, aus weiteren 919,89 Euro seit dem 2. Juni 2010, aus weiteren 1.492,72 Euro seit dem 28. September 2010 und aus weiteren 405,45 Euro seit dem 12. November 2010 zu zahlen hat.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über Vergütung wegen Annahmeverzugs.

2

Der 1971 geborene Kläger ist seit 1992 bei der [X.] in deren Betrieb in [X.] als Produktionsmitarbeiter/Maschinenführer beschäftigt. Die Beklagte hat ihren Hauptsitz in [X.] [X.]. Sie ist Mitglied im Arbeitgeberverband Steine und [X.]rden [X.] und [X.] e. V. In einem mit der IG BC[X.] abgeschlossenen Haustarifvertrag ist vereinbart, dass im Betrieb in [X.] die jeweils gültigen tariflichen Bestimmungen der Industrie der Steine und [X.]rden im Lande [X.] Anwendung finden. Nach der Feststellung des [X.] ist dieser Tarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft Individualvereinbarung anwendbar.

3

§ 8 des Rahmentarifvertrags für die Arbeitnehmer der Industrie der Steine und [X.]rden im Lande [X.] vom 27. April 2005 (im Folgenden: [X.]) lautet:

        

„1.     

Ansprüche aus Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit, auf Zahlung von Zuschlägen jeder Art verfallen, wenn sie nicht innerhalb von vier Wochen nach Fälligkeit bei dem Arbeitgeber geltend gemacht werden.

        

2.    

Alle sonstigen beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach Fälligkeit schriftlich erhoben werden.

        

3.    

Werden die Ansprüche abgelehnt, so verfallen sie, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Ablehnung gerichtlich geltend gemacht werden.“

4

Mit Schreiben vom 3. Dezember 2008 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 2009. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage. In der [X.] vom 1. Juli 2009 bis zum 30. September 2010 beschäftigte die Beklagte den Kläger im Rahmen eines [X.]sverhältnisses. Während dessen Dauer vergütete die Beklagte dem Kläger lediglich die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden mit einem Stundenentgelt iHv. 13,99 [X.]uro brutto ohne Zuschläge und tarifliche Sonderleistungen. Insgesamt bezog der Kläger in diesem [X.]raum von der [X.] 30.603,85 [X.]uro brutto. Die Beklagte zahlte keine [X.]ntgeltfortzahlung für Feiertage und im Krankheitsfall sowie kein Urlaubsentgelt. Während der [X.] erhielt der Kläger außerdem Krankengeld iHv. insgesamt 1.069,84 [X.]uro netto.

5

Mit einer der [X.] am 4. Februar 2010 im Rahmen des [X.] zugestellten [X.] hat der Kläger erstmals Annahmeverzugsvergütung für die [X.] von Juli bis Dezember 2009 beansprucht. Hinsichtlich der Folgemonate bis September 2010 hat er später die Klage erweitert. Mit rechtskräftigem Teilurteil vom 17. August 2010 (- 1 Ca 2809/08 -) stellte das Arbeitsgericht die Unwirksamkeit der Kündigung vom 3. Dezember 2008 fest.

6

Der Kläger hat - soweit für die Revision von Interesse - zuletzt sinngemäß beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger über den bereits rechtskräftig ausgeurteilten Betrag von 3.914,31 [X.]uro brutto hinaus weitere 11.839,23 [X.]uro brutto abzüglich 1.069,84 [X.]uro netto erhaltenen Krankengeldes nebst Prozesszinsen zu zahlen.

7

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Die Ansprüche seien verfallen.

8

Das Arbeitsgericht hat der Klage - soweit sie in die Revisionsinstanz gelangt ist - durch Schlussurteil stattgegeben. Das [X.] hat die Berufung der [X.] zurückgewiesen. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte die Klageabweisung hinsichtlich der Vergütung für den [X.]raum Juli bis November 2009 weiter.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision der [X.]n ist unbegründet. Das [X.] hat die Berufung der [X.]n gegen das der Klage stattgebende Schlussurteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen.

I. Die [X.] schuldet dem Kläger für die [X.] vom 1. Juli bis zum 30. November 2009 Vergütung wegen Annahmeverzugs gemäß §§ 615, 611 BGB. Nach einer unwirksamen Arbeitgeberkündigung bedarf es zur Begründung des Annahmeverzugs keines Angebots des Arbeitnehmers ([X.]Rspr., zuletzt [X.] 22. Februar 2012 - 5 [X.] - Rn. 14 mwN, EzA BGB 2002 § 615 Nr. 36). Soweit der Kläger an der Arbeitsleistung verhindert war, stehen ihm gemäß § 3 Abs. 1 EFZG Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und gemäß § 2 Abs. 1 EFZG Feiertagsvergütung zu.

II. Der Höhe nach beträgt der Differenzvergütungsanspruch des [X.] einschließlich des vom Arbeitsgericht bereits rechtskräftig zugesprochenen Betrags iHv. 3.914,31 Euro brutto für den gesamten Annahmeverzugszeitraum 14.651,47 Euro brutto. Hinsichtlich des Krankengeldes iHv. 1.069,84 Euro netto ist der Anspruch auf die Krankenkasse übergegangen (§ 115 Abs. 1 SGB X).

1. Das [X.] hat für den [X.]raum Juli 2009 bis September 2010 einen [X.] iHv. [X.] Euro brutto errechnet. Die Berechnung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, die [X.] erhebt insoweit auch keine Einwände mehr. Das [X.] ist zutreffend von den tariflichen Ansprüchen des [X.] ausgegangen. Die einschlägigen Tarifverträge finden nach den Feststellungen des [X.]s auf das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgrund einer Individualvereinbarung Anwendung. Die [X.] hat hiergegen keine Revisionsrügen, der Kläger keine Gegenrügen erhoben.

Zutreffend ist das [X.] auch davon ausgegangen, dass die [X.] einen monatlichen Zuschuss zu den vermögenswirksamen Leistungen schuldet. Die [X.] hat ohne Zuzahlung des von ihr selbst geschuldeten Zuschusses zu den vermögenswirksamen Leistungen aus der abgerechneten Nettovergütung des [X.] die monatlichen Beiträge auf das [X.] abgeführt. Mit dieser Zahlung ist der Kläger lediglich von seiner Zahlungsverpflichtung aus dem Bausparvertrag frei geworden. Er kann deshalb noch Zahlung des [X.] als Bruttobetrag an sich selbst verlangen. Vermögenswirksame Leistungen sind Geldleistungen, die der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer anlegt; sie sind insgesamt, dh. auch soweit sie auf einem vom Arbeitgeber zusätzlich zum Lohn gezahlten Zuschuss beruhen, arbeitsrechtlich Bestandteil der Vergütung, gehören im Sinne der Sozialversicherung zum Arbeitsentgelt und steuerrechtlich zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit ([X.] 22. September 2011 - III R 57/09 - Rn. 10, [X.]/NV 2012, 562; vgl. auch [X.] 15. August 1984 - 5 [X.] - zu II 2 b der Gründe, [X.]E 46, 174).

2. Die [X.] zahlte an den Kläger während des [X.] 30.603,85 Euro brutto, so dass ein Restbetrag von 14.651,47 Euro brutto verbleibt. Dieser Betrag verringert sich um den vom Arbeitsgericht bereits rechtskräftig zugesprochenen Betrag von 3.914,31 Euro brutto auf 11.839,23 Euro brutto.

3. Der Anspruch des [X.] ist iHv. 1.069,84 Euro netto wegen des bezogenen Krankengeldes gemäß § 115 Abs. 1 SGB X auf die Krankenkasse übergegangen. Dieser Forderungsübergang umfasst nicht die seitens der Krankenkasse abgeführten Beiträge zur Sozialversicherung (vgl. [X.] 4. Dezember 2002 - 7 [X.] - zu [X.] 1 der Gründe, [X.] § 2 SR 2y Nr. 24 = EzA BGB 2002 § 620 Nr. 1; zum Arbeitslosengeld vgl. [X.] 24. September 2003 - 5 [X.] - zu II 5 der Gründe, [X.] BGB § 151 Nr. 3 = EzA BGB 2002 § 615 Nr. 3). Die Krankenkasse führt die Sozialversicherungsbeiträge aufgrund einer eigenen gesetzlichen Verpflichtung ab. Sie zählen nicht zur Krankengeldleistung selbst (§§ 44 ff. [X.]) und sind deshalb keine Sozialleistung an den Arbeitnehmer iSd. § 115 SGB X, sondern eine zusätzliche Aufwendung der Krankenkasse ([X.]. zu [X.] 9. April 1981 - 6 [X.] - [X.] KSchG 1969 § 11 Nr. 1). Ob und inwieweit die Krankenkasse gegen den Arbeitgeber einen Anspruch auf Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge hat (vgl. für Sozialleistungen im Bereich des SG[X.] § 335 Abs. 3 SG[X.] und [X.] Januar 2008 - B 7/7a [X.] 58/06 R - Rn. 20, [X.] 4-4300 § 128 Nr. 2) ist im Streitfall unerheblich.

4. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB. Die Verzinsungspflicht begann nach § 187 Abs. 1 BGB einen Tag nach dem jeweiligen Eintritt der Rechtshängigkeit (vgl. [X.] 25. April 2007 - 10 [X.] - Rn. 14; 15. November 2000 - 5 [X.] - [X.]E 96, 228).

III. Die in der Revision noch streitigen Ansprüche aus dem [X.]raum vom 1. Juli bis zum 30. November 2009 sind nicht gemäß § 8 Abs. 3 [X.] verfallen. Vielmehr ist diese Tarifnorm verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass mit Erhebung einer Bestandsschutzklage (Kündigungsschutz- oder Befristungskontrollklage) die davon abhängigen Ansprüche wegen Annahmeverzugs im Sinne der tariflichen Ausschlussfrist gerichtlich geltend gemacht sind.

1. Mit einer Bestandsschutzklage wahrt der Arbeitnehmer, ohne dass es einer bezifferten Geltendmachung bedarf, die erste Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist für alle vom Ausgang dieses Rechtsstreits abhängigen Ansprüche. Mit einer solchen Klage erstrebt der Arbeitnehmer nicht nur die Erhaltung seines Arbeitsplatzes, sondern bezweckt darüber hinaus, sich die Vergütungsansprüche wegen Annahmeverzugs zu erhalten. Die Ansprüche müssen weder ausdrücklich bezeichnet noch beziffert werden(für die Kündigungsschutzklage ständige Rechtsprechung seit [X.] 10. April 1963 - 4 [X.] - [X.]E 14, 156).

2. Zugleich macht der Arbeitnehmer mit einer Bestandsschutzklage die vom Ausgang dieses Rechtsstreits abhängigen Ansprüche im Sinne der zweiten Stufe einer tarifvertraglich geregelten Ausschlussfrist „gerichtlich geltend“.

a) Nach bisheriger Rechtsprechung des [X.] war für die Wahrung der zweiten Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist regelmäßig die Erhebung einer bezifferten Zahlungs- oder Feststellungsklage erforderlich ([X.] 3. November 1961 - 1 [X.] - [X.] 1962, 155; 26. April 2006 - 5 [X.] - Rn. 20, [X.]E 118, 60; 17. November 2009 - 9 [X.] -). Die Frist für diese Klage wurde mit Zugang des [X.] beim Arbeitnehmer in Gang gesetzt, ohne dass es einer ausdrücklichen Ablehnungserklärung bedurfte ([X.] 17. November 2009 - 9 [X.] - Rn. 36; 26. April 2006 - 5 [X.] - Rn. 18, aaO).

b) An dieser Rechtsprechung kann nach dem Beschluss des [X.] vom 1. Dezember 2010 (- 1 BvR 1682/07 - [X.] TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 196 = EzA TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 197) nicht festgehalten werden. Das [X.] hat entschieden, dass der Arbeitnehmer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt werde, wenn das tarifliche Erfordernis einer gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen, die vom Ausgang einer Bestandsstreitigkeit abhängen, nach den bisherigen Grundsätzen des [X.] ausgelegt und angewandt werde. Dem Arbeitnehmer werde insoweit eine übersteigerte Obliegenheit zur gerichtlichen Geltendmachung seiner Ansprüche wegen Annahmeverzugs auferlegt. Die Art der Geltendmachung der Ansprüche auf Vergütung wegen Annahmeverzugs müsse dem Arbeitnehmer möglich und zumutbar sein. Das sei nicht der Fall, wenn er gezwungen werde, Ansprüche wegen Annahmeverzugs einzuklagen, bevor die Bestandsschutzstreitigkeit rechtskräftig abgeschlossen sei. Damit erhöhe sich sein Kostenrisiko im Rechtsstreit über den Bestand des Arbeitsverhältnisses.

c) [X.] Ausschlussfristen, die eine rechtzeitige gerichtliche Geltendmachung vorsehen, sind verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die vom Erfolg einer Bestandsschutzstreitigkeit abhängigen Ansprüche bereits mit der Klage in der Bestandsstreitigkeit gerichtlich geltend gemacht sind.

aa) Die verfassungskonforme Auslegung von Rechtsnormen gebietet, die Wertentscheidungen der Verfassung zu beachten und die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung zu bringen ([X.] 21. Dezember 2010 - 1 [X.] - Rn. 16, GRUR 2011, 223; 15. Oktober 1996 - 1 [X.], 1 [X.] - [X.]E 95, 64; 30. März 1993 - 1 BvR 1045/89, 1 BvR 1381/90, 1 [X.] - [X.]E 88, 145; [X.] 6. April 2011 - 7 [X.] - Rn. 27 f., [X.] TzBfG § 14 Nr. 82 = EzA TzBfG § 14 Nr. 77; [X.] AöR 125, 177). Ist eine Norm verfassungskonform auslegbar, ist für die Annahme ihrer Unwirksamkeit mit ggf. nachfolgender ergänzender Tarifauslegung kein Raum mehr.

bb) Die durch eine undifferenzierte tarifliche Regelung veranlasste verfassungswidrige Obliegenheit zur gerichtlichen Geltendmachung der Ansprüche wegen Annahmeverzugs wird vermieden, wenn in der Erhebung der Kündigungsschutz- oder Befristungskontrollklage die gerichtliche Geltendmachung der vom Ausgang dieser Bestandsschutzstreitigkeit abhängigen Ansprüche liegt.

cc) Der Wortlaut des Tarifvertrags steht dieser verfassungskonformen Auslegung nicht entgegen. Bereits zur Auslegung der zweiten Stufe einer in Allgemeinen Geschäftsbedingungen geregelten Ausschlussfrist (vgl. [X.] 19. Mai 2010 - 5 [X.] - Rn. 31, [X.] BGB § 310 Nr. 13 = EzA BGB 2002 § 310 Nr. 10; 19. März 2008 - 5 [X.] - Rn. 22, [X.]E 126, 198) hat der [X.] entschieden, dass der Wortsinn eines „Einklagens“ bzw. einer „gerichtlichen Geltendmachung“ der vom Ausgang der Bestandsschutzstreitigkeit abhängigen Ansprüche nicht zwingend verlange, dass gerade der Streitgegenstand „Vergütung“ zum Inhalt des arbeitsgerichtlichen Verfahrens gemacht werden müsse (vgl. [X.] 19. Mai 2010 - 5 [X.] - Rn. 31, aaO; 19. März 2008 - 5 [X.] - Rn. 22, aaO). Eine an einen engen prozessualen Begriff des Streitgegenstands anknüpfende weitere Klage verlange eine solche Klausel nicht. Hinzu kommt, dass bei der verfassungskonformen Auslegung dem Wortsinn nur eine eingrenzende Funktion zukommt. Der Umstand, dass die Tarifvertragsparteien die Formulierung in Kenntnis der bisherigen Rechtsprechung des [X.] verwandt haben, steht der nunmehr verfassungsrechtlich gebotenen Neuinterpretation nicht entgegen.

dd) Die verfassungskonforme Auslegung des Merkmals „gerichtliche Geltendmachung“ berücksichtigt in angemessener Weise den Zweck einer zweistufigen Ausschlussfrist. Ausschlussfristen bezwecken, dem Schuldner zeitnah Gewissheit darüber zu verschaffen, mit welchen Ansprüchen er noch zu rechnen hat. Zulasten des Arbeitnehmers wirkende Ausschlussfristen sollen den Arbeitgeber vor der Verfolgung unzumutbarer Ansprüche bewahren, das sind regelmäßig solche, mit deren Geltendmachung er nicht rechnet und auch nicht zu rechnen braucht (so schon [X.] 27. Februar 1940 - [X.] 162/39 - [X.]). Erhebt der Arbeitnehmer Bestandsschutzklage, kann der Arbeitgeber an der Ernstlichkeit der Geltendmachung der hiervon abhängigen Vergütungsansprüche nicht wirklich zweifeln. Schon mit der Erhebung einer Bestandsschutzklage kann sich der Arbeitgeber auf die vom Ausgang dieser Streitigkeit abhängigen Forderungen einstellen, Beweise sichern und vorsorglich Rücklagen bilden. Ihm muss bewusst sein, dass ggf. auch über die Höhe der zu zahlenden Vergütung noch Streit entstehen kann und nicht selten auch entsteht. Dass die Ansprüche nicht in einer den Anforderungen des § 253 Abs. 2 ZPO entsprechenden Bestimmtheit geltend gemacht werden, ist - wie bei der Wahrung der ersten Stufe der Ausschlussfrist für Ansprüche, die vom Ausgang der Bestandsschutzstreitigkeit abhängen - aus verfassungsrechtlichen Gründen hinzunehmen. Überdies ist zu berücksichtigen, dass durch den Zwang zur vorzeitigen Erhebung der Klage auch der Arbeitgeber unnötigen Kostenrisiken ausgesetzt würde.

ee) Entgegen der Auffassung der [X.]n ist, um den Vorgaben des [X.] zu entsprechen, nicht auf eine Kostenbelastung des Arbeitnehmers im Einzelfall abzustellen. Maßgeblich ist nicht der Umfang der wirtschaftlichen Belastung, die den Arbeitnehmer durch den Rechtsstreit trifft, sondern der Gesichtspunkt der Risikoerweiterung. Kann der Arbeitnehmer nicht das Obsiegen in der Bestandsschutzstreitigkeit abwarten, wird ihm ein prozessuales Risiko aufgebürdet, das die Durchsetzung des gesetzlichen Bestandschutzes beeinträchtigen kann. Die Frage der Wirksamkeit und der Einhaltung der tariflichen Ausschlussfrist von einer einzelfallbezogenen Prüfung der Kostenbelastung abhängig zu machen, führte zudem zu größter Rechtsunsicherheit. Es kann deshalb nicht darauf ankommen, ob der Arbeitnehmer rechtsschutzversichert ist, Prozesskostenhilfe beanspruchen kann, ob er die - im Misserfolgsfall - unnötigen Kosten der Zahlungsklage aus eigenen Mitteln unproblematisch aufbringen oder sie durch eine strategisch günstige Antragstellung vermeiden könnte. Das Kostenrecht gilt für alle Parteien gleichermaßen, seine gesetzlichen Wertungen sind zwingend. Das erfordert zugunsten des durchschnittlich kundigen Arbeitnehmers als Tarifnormunterworfenen, der mit den Möglichkeiten einer kostengünstigen Prozessführung nicht vertraut ist, eine einheitliche Auslegung des Tarifvertrags.

ff) Durch die verfassungskonforme Auslegung bleibt das tarifliche Erfordernis der gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen, die nicht vom Ausgang einer Bestandsschutzstreitigkeit abhängig sind, erhalten. Im Übrigen wird die Entstehung einer Regelungslücke vermieden, die erst zu einer ergänzenden Auslegung berechtigen würde. Denn Voraussetzung einer ergänzenden Auslegung ist, dass entweder eine unbewusste Regelungslücke vorliegt oder nachträglich eine Regelung lückenhaft geworden ist. Hieran fehlt es bei verfassungskonformer Auslegung des Tarifvertrags.

IV. Einer Anrufung des Großen [X.]s gemäß § 45 ArbGG bedarf es nicht, denn alle [X.]e des [X.] sind gehindert, die frühere Auslegung zweistufiger tariflicher Ausschlussfristen aufrechtzuerhalten. Die Rechtsfrage, welche Anforderungen an die Wahrung der zweiten Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist für Ansprüche, die vom Ausgang einer Bestandschutzstreitigkeit abhängen, zu stellen sind, ist im Hinblick auf den Beschluss des [X.] vom 1. Dezember 2010 (- 1 BvR 1682/07 - [X.] TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 196 = EzA TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 197) neu zu beantworten. Schon im Hinblick auf § 31 [X.]G entfällt die Vorlagepflicht, wenn das [X.] die entscheidungserhebliche Rechtsfrage abweichend von der bisherigen Rechtsprechung selbst entschieden hat (vgl. [X.] 21. März 2000 - 4 [X.] - zu II 2 b aa der Gründe, [X.]St 46, 17; 26. Januar 1977 - 3 StR 527/76 - NJW 1977, 686; 17. März 2011 - [X.]/10 - Rn. 30, [X.]Z 189, 1). Nichts anderes gilt, wenn es den Fachgerichten aufgegeben hat, einen bestimmten rechtlichen Komplex insgesamt anhand der von ihm entwickelten Maßstäbe neu zu gestalten ([X.] 21. März 2000 - 4 [X.] - zu II 2 b aa der Gründe, aaO; 5. August 1998 - 5 AR ([X.]) 1/97 - [X.]St 44, 171). Die rechtliche Grundlage der früheren Entscheidungen des [X.] ist durch den Beschluss des [X.] vom 1. Dezember 2010 (- 1 BvR 1682/07 - aaO) entfallen. Deshalb fehlt es an der für eine Anrufung des Großen [X.]s erforderlichen Identität der Rechtslage (vgl. [X.] 28. Juni 2012 - 6 [X.] - Rn. 81, [X.] 2012, 1029).

V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1, § 92 Abs. 1 Satz 1 iVm. § 269 Abs. 3 ZPO.

        

    Müller-Glöge    

        

    Laux    

        

    Biebl    

        

        

        

    Mandrossa    

        

    Pollert    

                 

Meta

5 AZR 924/11

19.09.2012

Bundesarbeitsgericht 5. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Hagen (Westfalen), 8. März 2011, Az: 1 Ca 2809/08, Urteil

§ 4 Abs 4 S 3 TVG, § 295 BGB, § 615 BGB, § 45 ArbGG, § 115 Abs 1 SGB 10, §§ 44ff SGB 5

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.09.2012, Az. 5 AZR 924/11 (REWIS RS 2012, 3054)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 3054


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 5 AZR 924/11

Bundesarbeitsgericht, 5 AZR 924/11, 19.09.2012.


Az. 3 Sa 671/11

Landesarbeitsgericht Hamm, 3 Sa 671/11, 28.09.2011.


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Referenzen
Wird zitiert von

5 Sa 245/17

5 Ca 1796/15

10 Sa 223/13

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