Bundessozialgericht, Beschluss vom 22.11.2012, Az. B 3 P 10/12 B

3. Senat | REWIS RS 2012, 1086

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Erforderlichkeit einer erneuten Anhörung zur Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung bei neu ergehendem Bescheid im Berufungsverfahren - rechtliches Gehör - faires Verfahren - überlange Verfahrensdauer - soziale Pflegeversicherung


Leitsatz

Das Landessozialgericht muss die Beteiligten erneut zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss anhören und ggf eine mündliche Verhandlung durchführen, wenn ein im Berufungsverfahren neu ergehender Bescheid Verfahrensgegenstand wird.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin werden die Beschlüsse des [X.] vom 22. März und 4. Juni 2012 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Klägerin ist Rechtsnachfolgerin des im April 2007 verstorbenen Versicherten [X.] (im Folgenden: [X.]), der bei der beklagten Pflegekasse gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit pflichtversichert gewesen ist. Streitbefangen waren und sind Leistungen nach der [X.]II.

2

Mit Urteil vom 19.12.2006 hat das [X.] einer bereits im Mai 2002 erhobenen Klage des [X.] teilweise stattgegeben und die Beklagte verurteilt, diesem nicht nur für die bewilligte [X.] ab 4.4.2002 Pflegegeld nach der [X.] zu gewähren, sondern auch schon für den [X.]raum vom 6.6.2001 bis [X.]; außerdem hat es ihm für die [X.] ab 1.2.2005 Leistungen nach der [X.]I zuerkannt. Im Übrigen hat das [X.] die Klage abgewiesen: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe zu keinem [X.]punkt Anspruch auf Leistungen nach der [X.]II bestanden, weil die hierfür erforderlichen gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt seien. Hinsichtlich der erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung am 19.12.2006 geltend gemachten Ansprüche auf Pflegeleistungen für die [X.] vom 1.4.1995 bis 5.6.2001 sei die Klage sogar unzulässig, weil die Beklagte darüber noch gar nicht entschieden habe und es folglich an dem notwendigen Vorverfahren mangele.

3

Mit Bescheid vom 24.1.2008 und Widerspruchsbescheid vom 17.12.2008 hat es die Beklagte abgelehnt, Pflegeversicherungsleistungen auch schon ab 1.4.1995 zu gewähren, weil für [X.]en vor dem 6.6.2001 keine Pflegebedürftigkeit bei [X.] feststellbar sei. In der Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheides ist gemäß § 85 Abs 3 S 4 [X.]G auf die Anfechtbarkeit vor dem [X.] hingewiesen worden.

4

Im Berufungsverfahren hat die Berichterstatterin des L[X.] die Beteiligten mit Formschreiben vom 11. bzw 12.9.2007 ([X.] 322 R L[X.]-Akte) davon unterrichtet, dass eine Entscheidung gemäß § 153 Abs 4 [X.]G durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung beabsichtigt sei. Die anwaltlich nicht vertretene Klägerin hat dieser Absicht des L[X.] widersprochen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt und zudem darauf hingewiesen, dass der im Widerspruchsverfahren bestätigte Bescheid der Beklagten vom 24.1.2008 ebenfalls zum Gegenstand des Verfahrens geworden sei. Mit weiterem Schreiben der Berichterstatterin des L[X.] vom 4. bzw 7.4.2008 ([X.] 362 L[X.]-Akte) ist den Beteiligten mitgeteilt worden, dass es bei der angekündigten Verfahrensweise - Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung - verbleibe; sodann heißt es: "Der Antrag auf Überprüfung des Pflegegeldes für den [X.]raum 1995 bis 2001 wird nicht Gegenstand des anhängigen Verfahrens."

5

Mit Beschluss des L[X.] vom [X.] - in der [X.] vom [X.] bis zu dieser Beschlussfassung sind keinerlei richterliche oder sonstige Aktivitäten aktenkundig - hat das L[X.] die Berufung einstimmig als unbegründet zurückgewiesen. Entgegen der zunächst im Berufungsverfahren geäußerten Auffassung sei der Bescheid der Beklagten vom 24.1.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2008 jedoch gemäß § 96 Abs 1 [X.]G Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden, weil [X.] schon im Jahre 2001 und früher auf in der Vergangenheit gestellte Anträge und entsprechende Falschbescheide der Beklagten hingewiesen habe. Deshalb sei der hier streitige Ausgangsbescheid der Beklagten vom 26.7.2001 - auch - als Ablehnung einer entsprechenden Überprüfung zu werten. Der Klägerin stünden die begehrten Leistungen nach der [X.]II indes weder für die [X.] vom 1.4.1995 bis 5.6.2001 noch für [X.]en danach zu, weil der versicherte [X.] die dafür maßgeblichen Leistungsvoraussetzungen zu keiner [X.] erfüllt habe.

6

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Verfahrensweise des LS[X.] Zum einen hätte das Berufungsgericht nicht auf die beantragte Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichten dürfen, weil es den streitigen Sachverhalt entgegen früherer Ankündigung in einem wesentlichen Punkt später anders bewertet habe. Damit sei auch ihr Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, denn sie habe sich zum Bescheid der Beklagten vom 24.1.2008 nicht mehr äußern können. Durch die übermäßig lange Verfahrensdauer sei zudem ihr Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verletzt.

7

Auf Veranlassung des erkennenden [X.]s ist der Beschluss vom [X.] den Beteiligten am [X.] nochmals - nunmehr mit korrekter Rechtsmittelbelehrung - zugestellt worden.

8

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Beschlusses wegen Verfahrensfehlern und Zurückverweisung an das L[X.] begründet.

9

1. Die Klägerin beanstandet mit Recht, dass das L[X.] über ihre Berufung entschieden hat, ohne sie erneut gemäß § 153 Abs 4 [X.] [X.]G vor der Beschlussfassung anzuhören.

a) Gemäß § 153 Abs 4 S 1 [X.]G kann das L[X.] die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach [X.] der Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Die [X.] nach § 153 Abs 4 [X.] [X.]G ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG), das bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im [X.] nicht verkürzt werden darf (vgl B[X.] SozR 4-1500 § 153 [X.]; B[X.] SozR 3-1500 § 153 [X.] f mwN). Nach ständiger Rechtsprechung des B[X.] ist eine erneute Anhörung gemäß § 153 Abs 4 [X.] [X.]G erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die [X.] entscheidungserheblich ändert (vgl B[X.] aaO; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 10. Aufl 2012, § 153 Rd[X.] 20). Insoweit gilt Entsprechendes wie für den sog Verbrauch einer Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 [X.]G (B[X.] SozR 3-1500 § 124 [X.].

b) Die [X.] ändert sich auch dann entscheidungserheblich, wenn das L[X.] seine gegenüber den Beteiligten in einem entscheidungserheblichen Punkt geäußerte Rechtsauffassung ändert (B[X.] SozR 4-1500 § 153 [X.] Rd[X.] 14). Die Beteiligten müssen dann vor der Beschlussfassung gemäß § 153 Abs 4 S 1 [X.]G erneut Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Dies ist hier nicht geschehen; nach der von der Berichterstatterin des L[X.] geäußerten Rechtsauffassung zur Frage der Einbeziehung des streitigen [X.]raums 1995 bis 2001 gemäß § 96 Abs 1 [X.]G hat das Berufungsgericht diametral entgegengesetzt entschieden und damit einen Verfahrensfehler begangen - ungeachtet der Frage, ob die eine oder die andere Verfahrensweise rechtens gewesen wäre.

c) Bei einer Verletzung des § 153 Abs 4 [X.]G sind keine näheren Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers erforderlich. Da das L[X.] nur nach einer erneuten Anhörungsmitteilung im gewählten vereinfachten Beschlussverfahren hätte entscheiden dürfen, bedarf es keiner Prüfung, was die Klägerin auf den gebotenen schriftlichen Hinweis zur geänderten Rechtsmeinung oder in einer mündlichen Verhandlung vorgetragen hätte. Es handelt sich um einen absoluten Revisionsgrund gemäß § 202 [X.]G iVm § 547 [X.] 1 ZPO, denn die Verletzung des § 153 Abs 4 [X.]G führt zur nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des L[X.] ohne [X.] (B[X.] SozR 4-1500 § 153 [X.] Rd[X.] 17; vgl auch B[X.] SozR 4-1500 § 158 [X.] 2 Rd[X.] 10). Mit einer Verletzung des § 153 Abs 4 [X.]G ist regelmäßig, auch ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, zugleich die Besetzung des Berufungsgerichts nur mit Berufsrichtern und damit ein absoluter Revisionsgrund nach § 202 [X.]G iVm § 547 [X.] 1 ZPO gerügt (B[X.] Beschluss vom [X.] [X.]/12 B -; B[X.] SozR 3-1500 § 153 [X.] 13).

2. Damit ist auch der Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 [X.]G) verletzt. Grundsätzlich darf nämlich eine Entscheidung nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher gar nicht oder nicht in dieser Weise erörtert worden sind, so dass der Rechtsstreit dadurch eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte ([X.] in [X.]/[X.]/ [X.], [X.]G, 10. Aufl 2012, § 62 Rd[X.] 8b, mit zahlreichen weiteren Rspr-Nachweisen). Dies gilt erst Recht, wenn das Gericht - wie hier - eine konkrete Rechtsansicht kundtut, anschließend jedoch wieder davon abrückt, ohne den Beteiligten die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen.

Letztlich folgt daraus ebenfalls ein Verstoß des L[X.] gegen den Anspruch der Klägerin auf ein faires Verfahren ([X.] 57, 250, 275; 78, 123; vgl auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.], aaO, Vor § 60 Rd[X.] 1b): Die damals anwaltlich nicht vertretene Klägerin hatte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gerade mit dem Argument beantragt, der im Widerspruchsverfahren bestätigte Bescheid der Beklagten vom 24.1.2008 sei zum Gegenstand des laufenden Verfahrens geworden. Nach dem anderslautenden Hinweis der Berichterstatterin des L[X.] vom 4. bzw 7.4.2008 muss es ihr schlechterdings unverständlich erschienen sein, dass das L[X.] ihrer Argumentation im Beschluss vom [X.] nunmehr gefolgt ist, ohne ihr indes die Möglichkeit zu einer - weiteren - Stellungnahme einzuräumen.

3. Das L[X.] durfte schließlich auch deshalb nicht nach § 153 Abs 4 [X.]G verfahren, weil die Bescheide vom 24.1. und 17.12.2008, die das L[X.] letztendlich doch gemäß § 96 [X.]G in das laufende Verfahren einbezogen hat, während des Berufungsverfahrens ergangen sind. Das L[X.] war insoweit aber nicht als Berufungs-, sondern als erstinstanzliches Gericht zuständig und hätte allein schon wegen der Einbeziehung dieser Bescheide eine mündliche Verhandlung durchführen müssen, weil die Klägerin einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht zugestimmt hatte (vgl [X.], aaO, § 153 Rd[X.] 15b). Demzufolge hätte das L[X.] auch im Tenor klarstellen müssen, dass die Klage gegen den Bescheid vom 24.1.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2008 abgewiesen wird.

4. Der zu entscheidende Fall gibt für den erkennenden [X.] erneut Veranlassung, auf Folgendes hinzuweisen: Die Klage ist im Mai 2002 erhoben und nach knapp zehn Jahren im März 2012 zweitinstanzlich entschieden worden. Eine solche Verfahrensdauer ist auch unter Berücksichtigung der nicht ganz einfachen Sach- und Rechtslage deutlich zu lang. Dies gilt hier umso mehr, als der Rechtsstreit beim L[X.] zwischen 2009 und 2012 über drei Jahre lang nicht bearbeitet und damit überhaupt nicht iS von § 106 [X.]G "gefördert" worden ist. Der Streit um Versicherungsleistungen nach dem [X.]B XI berührt oft die finanzielle Basis der Pflegebedürftigen und hat für diese deshalb eine besondere Bedeutung. In Anlehnung an den Rechtsgedanken aus Art 6 Europäische Menschenrechtskonvention gehört es auch im öffentlichen Recht zum fairen Verfahren, eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist zu treffen und tatsächliche oder rechtliche Hindernisse zügig auszuräumen, die einer solchen Entscheidung entgegenstehen. Dieser Verpflichtung ist zumindest das L[X.] nicht gerecht geworden.

5. Der von der Klägerin unter Beachtung der Darlegungsanforderungen (§ 160a Abs 2 S 3 [X.]G) gerügte Verfahrensmangel liegt vor und führt gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 [X.] 3 [X.]G zur Aufhebung der beiden Beschlüsse vom 22.3. und [X.] und zur Zurückverweisung der Sache an das LS[X.] Der [X.] hat - trotz gewisser Bedenken - davon Abstand genommen, den Rechtsstreit gemäß § 202 [X.]G iVm § 563 Abs 1 [X.] ZPO an einen anderen [X.] des L[X.] zurückzuverweisen.

6. Im Rahmen des erneut durchzuführenden Berufungsverfahrens wird das L[X.] auch über die Kosten dieses Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 3 P 10/12 B

22.11.2012

Bundessozialgericht 3. Senat

Beschluss

Sachgebiet: P

vorgehend SG Hannover, 19. Dezember 2006, Az: S 15 KN 16/02 P, Urteil

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 96 Abs 1 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 6 MRK, SGB 11

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 22.11.2012, Az. B 3 P 10/12 B (REWIS RS 2012, 1086)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 1086

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