Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2020, Az. B 2 U 127/20 B

2. Senat | REWIS RS 2020, 2516

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Gegenstand

(Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler gem § 160 Abs 2 S 3 SGG - Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gem § 117 SGG - richterliche Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage - unmittelbarer persönlicher Eindruck vom Kläger)


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 2. Juni 2020 - L 21 U 17/18 - aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger am 20.11.2014 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

2

Der Kläger, der bei einem Baumarkt als Verkäufer beschäftigt ist, verletzte sich während des [X.] einer Waschmaschine auf die Ladefläche des Kleintransporters eines Kunden. In dem Durchgangsarztbericht vom Folgetag wurde dokumentiert, dass der Kläger die Waschmaschine mit beiden Armen umfasst und angehoben habe. Hierbei habe er einen einschießenden Schmerz im rechten Ellenbogengelenk verspürt, woraufhin er die Maschine abgesetzt habe. Der Kläger habe auf mehrfaches Nachfragen berichtet, nicht nachgefasst zu haben. Es bestehe der Verdacht auf eine distale Bizepssehnenruptur rechts. Gegenüber der Beklagten schilderte der Kläger den Unfallhergang so, dass beim Anheben der Waschmaschine auf ca 1,80 m Höhe beim Nachfassen/Umfassen das Muskelband im rechten Oberarm gerissen sei. Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall und die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab. Aus dem Durchgangsarztbericht gehe hervor, dass es zu keinem Nachfassen gekommen sei. Selbst wenn eine äußere Einwirkung anzunehmen sei, sei diese nicht geeignet, den Riss der Bizepssehne rechtlich wesentlich zu verursachen (Bescheid vom [X.]). Den Widerspruch wies die Beklagte zurück, weil den [X.] vom Unfalltag wegen der Unkenntnis des [X.] von der Rechtslage ein höherer Beweiswert zuzumessen sei als seinen späteren Einlassungen (Widerspruchsbescheid vom 27.11.2015). Das [X.] hat Beweis erhoben durch Vernehmung des damaligen Vorgesetzten des [X.] und Beiziehung einer vom Marktleiter unterzeichneten Unfallanzeige sowie diverser Befundberichte. Weiterhin hat das [X.] ein orthopädisch-chirurgisches Sachverständigengutachten eingeholt. In der mündlichen Verhandlung vom 16.1.2018 hat das [X.] dem Kläger seine Angaben im Durchgangsarztbericht vorgehalten und die Einlassungen des [X.] hierzu protokolliert. Sodann hat das [X.] durch Urteil vom selben Tag unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide festgestellt, dass es sich bei dem Ereignis vom 20.11.2014 um einen versicherten Arbeitsunfall gehandelt habe. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Anheben einer 50 kg schweren Waschmaschine stelle ohne Weiteres eine Einwirkung von außen kommender, nicht rein innerkörperlicher Kräfte auf den Körper des [X.] dar. Auch bei einer gewillkürten Handlung liege eine äußere Einwirkung im Rechtssinne vor. Die Kammer habe sich auf die Darstellung des [X.] in seiner persönlichen Anhörung stützen können, die mit der Schilderung in der Unfallanzeige übereinstimme. Hiernach habe ein Nachfassen stattgefunden. Dem Umstand, dass der durchgangsärztliche Erstbericht Gegenteiliges vermerkt habe, sei kein überwiegendes Gewicht beizumessen. Der Kläger habe plausibel dargelegt, dass es ihm angesichts einer nahe bevorstehenden Urlaubsreise vorrangig um eine schnelle ärztliche Behandlung, nicht dagegen um eine genaue Darstellung des Hergangs des Unfalls gegangen sei. Der Kläger habe diese Angaben durchgängig seit der Unfallanzeige gemacht. Für eine prozesstaktische Änderung des Klagevorbringens bestünden keine Anhaltspunkte.

3

Auf die Berufung der Beklagten hat die Berichterstatterin des zuständigen Senats am L[X.] die Beteiligten gemäß § 155 Abs 3 und 4 iVm § 124 Abs 2 [X.]G zu einer Entscheidung durch sie anstelle des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung angehört. Nach entsprechenden Einverständniserklärungen beider Beteiligter hat das L[X.] durch Entscheidung der Berichterstatterin als Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung das Urteil des [X.] aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom [X.]). Der Kläger habe als angestellter Verkäufer zwar grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung iS des § 2 Abs 1 [X.] [X.]B VII gestanden. Jedoch stehe das behauptete, von außen auf den Körper einwirkende Ereignis iS des § 8 Abs 1 S 2 [X.]B VII - die Waschmaschine sei durch Nachfassen abgefangen worden, als diese zu verkanten und abzurutschen drohte - zur Überzeugung des Senats nicht im Sinne des [X.] fest. Gewichtige Zweifel ergäben sich insbesondere aus dem eigenen Verhalten und den widersprüchlichen Angaben des [X.], der beim Durchgangsarzt nicht von einem Nachfassen gesprochen habe. Entgegen der Auffassung des [X.] habe der Kläger mit seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] diese Diskrepanzen in den [X.] nicht überzeugend aufgeklärt. Soweit der Kläger nach detailreicher Schilderung des [X.] erstmals ausführe, es sei ihm beim Durchgangsarzt vorrangig um eine schnelle Behandlung gegangen, sei dieser Vortrag bereits durch seine weiteren Einlassungen in der Befragung widerlegt. Bei seinen divergierenden Angaben sei es "schlicht nicht glaubhaft", dass der Kläger den genauen Unfallhergang beim Durchgangsarzt nicht vollständig geschildert habe. Die angegebenen Gründe für eine unvollständige Unfallschilderung seien "insoweit als Schutzbehauptungen zu werten".

4

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und sinngemäß des § 117 [X.]G (Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme). Die Berichterstatterin am L[X.] negiere die Überzeugung der Kammer des [X.], die diese durch persönliche und unmittelbare Anhörung des [X.] gewonnen habe. Dabei habe sich das L[X.] selbst kein eigenes Bild von der Glaubwürdigkeit des [X.] gemacht.

5

II. [X.] ist zulässig. Sie genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G, denn sie bezeichnet substantiiert Tatsachen, aus denen sich ein Verstoß gegen § 117 [X.]G ergibt.

6

Das L[X.] hat die Angaben des [X.] als nicht glaubhaft und die angegebenen Gründe für die vermeintlich unvollständige Unfallschilderung gegenüber dem Durchgangsarzt als "Schutzbehauptungen" gewertet. Damit hat das L[X.] den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nach § 117 [X.]G verletzt. Dieser Grundsatz ist nur gewahrt und eine sachgerechte Beweiswürdigung nur möglich, wenn sich alle die Entscheidung treffenden [X.] einen persönlichen Eindruck von der zu beurteilenden Person machen (B[X.] Urteil vom 15.8.2002 - B 7 [X.] 66/01 R - [X.] 3-1500 § 128 [X.]; vgl B[X.] Beschluss vom 24.2.2004 - B 2 U 316/03 B - [X.] 4-1500 § 117 [X.] Rd[X.]; BVerwG Beschluss vom [X.] - 2 B 4/15 - juris Rd[X.]0; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 13. Aufl 2020, § 153 Rd[X.]b; vgl auch B[X.] Beschluss vom [X.] [X.]/17 B - juris Rd[X.] 5 zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines unmittelbaren persönlichen Eindrucks von Zeugen). Die Berichterstatterin am L[X.] hat hier die Aussagen des [X.] als Schutzbehauptungen und nicht glaubhaft bezeichnet. Eine solche Wertung durch den [X.] bzw die [X.]in ist ohne unmittelbaren Eindruck von der Person des [X.] im Regelfall nicht zulässig (vgl [X.], aaO, § 117 Rd[X.] 2). Dies gilt möglicherweise dann nicht, wenn der persönliche Eindruck, den der oder die [X.] in einer früheren mündlichen Verhandlung von einem Zeugen bzw Beteiligten gewonnen haben, protokolliert oder auf sonstige Weise aktenkundig gemacht worden ist und sich die Beteiligten dazu erklären konnten (B[X.], aaO, mwN; insofern zweifelnd, wenn es gerade auf die Glaubwürdigkeit eines [X.] ankommt: [X.], aaO, § 117 Rd[X.] 2 mwN). Gerade dies ist im vorliegenden Verfahren aber ohnehin nicht geschehen, weil keine mündliche Verhandlung vor dem L[X.] stattfand (B[X.] Beschluss vom 18.6.2019 - [X.] V 38/18 B - juris Rd[X.]3) und auch sonst keinerlei richterlicher Hinweis darauf erfolgte, dass die Berichterstatterin am L[X.] die Aussagen des [X.] vor dem [X.] einbeziehen und als nicht glaubhaft bzw als Schutzbehauptungen werten werde. Zwar kann der Kläger im sozialgerichtlichen Verfahren nicht förmlich als [X.] vernommen werden (vgl § 118 Abs 1 [X.]G, der nicht auf § 445 der Zivilprozessordnung verweist). Dennoch liegt hier ein Verstoß gegen § 117 [X.]G vor, weil die für Zeugen maßgeblichen Grundsätze für die Befragung von Verfahrensbeteiligten entsprechend gelten (B[X.] Urteil vom 26.1.1983 - 9b [X.] - juris Rd[X.]3; B[X.] Urteil vom [X.]/7a [X.] 14/07 R - [X.] 4-1500 § 128 [X.] Rd[X.]1).

7

Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass das L[X.] bei Beachtung des § 117 [X.]G zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre (B[X.] Beschluss vom 24.2.2004 - B 2 U 316/03 B - [X.] 4-1500 § 117 [X.] Rd[X.] 9).

8

Bei seiner erneuten Entscheidung wird das L[X.] ggf auch zu prüfen haben, ob die unfallbringende Verrichtung des [X.] einer Waschmaschine auf das Fahrzeug eines Kunden der grundsätzlich versicherten Tätigkeit als Beschäftigter beim Baumarkt gemäß § 2 Abs 1 [X.] [X.]B VII zuzurechnen ist, oder ob der Kläger möglicherweise als Wie-Beschäftigter des Kunden gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 [X.]B VII handelte. [X.] wird das L[X.] dann auch die Verbandszuständigkeit der Beklagten zu prüfen haben.

9

Des Weiteren könnte das L[X.] bei seiner erneuten Prüfung zu berücksichtigen haben, dass das Tatbestandsmerkmal eines "von außen auf den Körper einwirkenden Ereignisses" gemäß § 8 Abs 1 Satz 2 [X.]B VII keines außergewöhnlichen Vorgangs bedarf. Vielmehr genügt jedes Ereignis, bei dem ein Teil der Außenwelt - wie auch das Gewicht eines angehobenen Gegenstandes - auf den Körper einwirkt. Das Erfordernis der Einwirkung von außen dient der Abgrenzung von unfallbedingten Gesundheitsschäden zu Gesundheitsbeeinträchtigungen aus inneren Ursachen sowie zu absichtlichen Selbstschädigungen (vgl B[X.] Urteil vom [X.] - B[X.]E 111, 52 = [X.] 4-2700 § 2 [X.], Rd[X.]6). Soweit das L[X.] davon ausgeht, dass willentliche Kraftanstrengungen ohne eine zusätzliche Einwirkung, wie das Nachfassen, kein geeigneter Unfallmechanismus für einen Bizepssehnenriss sein können, wird es zu beachten haben, dass die Aussagen der Gutachter mit der einschlägigen Fachliteratur zur Feststellung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über [X.] vollständig unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte abgeglichen werden müssen (vgl zur Literaturauswertung ohne Gutachten durch auf dem medizinischen Gebiet nicht fachgerecht ausgebildete [X.] B[X.] Urteil vom 6.9.2018 - B 2 U 13/17 R - [X.] 4-5671 Anl 1 [X.]08 [X.]0 Rd[X.] 22). So benennt die vom L[X.] zitierte Quelle ([X.]/[X.]/[X.], Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, [X.]) das Nachfassen bei [X.] nur als ein Beispiel für unphysiologische, überfallartig auf die muskulär gespannte Struktur einwirkende Belastungen. [X.] wären daher weitere Ermittlungen zum Unfallhergang erforderlich und hierzu der Sachverständige ergänzend zu hören. Dabei könnte auch zu berücksichtigen sein, dass der Kläger den Sehnenriss in einem Alter erlitten hat, in dem Texturstörungen der [X.] mit zunehmender Häufigkeit festgestellt werden ([X.]/[X.]/[X.], aaO, [X.]). Da die Abwägung, ob das Unfallereignis den Gesundheitsschaden wesentlich (mit-)verursacht hat, auf dem Boden der individuellen körperlichen und seelischen Konstitution des einzelnen Versicherten im Zeitpunkt der jeweiligen Einwirkung zu treffen ist, könnten regelhaft-altersgerechte und damit [X.] ggf keine die Kausalität der versicherten Einwirkung ausschließende [X.] iS einer Vorerkrankung oder Schadensanlage darstellen.

Das L[X.] wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 2 U 127/20 B

06.10.2020

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Berlin, 16. Januar 2018, Az: S 163 U 5/16

§ 160 Abs 2 S 3 SGG, § 117 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2020, Az. B 2 U 127/20 B (REWIS RS 2020, 2516)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2516

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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