Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25.08.2015, Az. 1 BvR 3474/13

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2015, 6232

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für PKH-Antrag nach erstinstanzlichem Obsiegen nur bei vollständigem Entfallen des Kostenrisikos - Verletzung der Rechtsschutzgleichheit (Art 3 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) durch Versagung von PKH im sozialgerichtlichen Verfahren bei zusprechender, jedoch anfechtbarer Hauptsacheentscheidung - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 29. Oktober 2013 - [X.] AS 1633/11 - verletzt die Beschwerdeführerinnen in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

2. Das [X.] hat den Beschwerdeführerinnen ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung von Prozesskostenhilfe in einem sozialgerichtlichen Klageverfahren.

2

1. Die Beschwerdeführerinnen stehen im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] ([X.]). Einen Antrag auf (vollständige) Übernahme einer Heizkostennachforderung lehnte der [X.]-Träger ab. Die hiergegen gerichtete Klage hatte vor dem Sozialgericht Erfolg. Das Sozialgericht verpflichtete zudem den [X.]-Träger, den Beschwerdeführerinnen ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten und ließ die Berufung zu. Den für das Klageverfahren gestellten Prozesskostenhilfeantrag der Beschwerdeführerinnen lehnte das Sozialgericht mit der Begründung ab, der Antrag habe sich mit dem stattgebenden Urteil erledigt.

3

2. Mit ihrer fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das Sozialgericht habe die Anforderungen an die Bewilligung von Prozesskostenhilfe überspannt und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe deutlich verfehlt. Die Kostenerstattungspflicht des [X.]-Trägers aus dem stattgebenden Urteil sichere ihnen aufgrund der [X.] keine geschützte Rechtsposition zu, da nicht auszuschließen sei, dass diese im Berufungsverfahren keinen Bestand haben werde.

4

3. Das [X.] [X.] hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

5

4. [X.] lag der Kammer vor.

6

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] liegen vor. Das [X.] hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.

7

1. Der Beschluss des [X.] vom 29. Oktober 2013 verkennt hinsichtlich der Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe den Gehalt des Rechts auf Rechtsschutzgleichheit und verletzt die Beschwerdeführerinnen dadurch in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

8

a) Nach ständiger Rechtsprechung des [X.]s gebietet das Grundgesetz mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG eine weitgehende Angleichung der Situation von [X.] und [X.]n bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes.

9

b) Das Sozialgericht hat das Gebot der Rechtsschutzgleichheit verkannt. Zwar wird weithin vertreten, dass das Rechtsschutzbedürfnis für einen Prozesskostenhilfeantrag entfällt, wenn der [X.] (endgültig) kostenerstattungspflichtig ist, oder dass die persönlichen und wirtschaftlichen Gründe für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe fehlen, da [X.] bereits durch die Kostenerstattung [X.] gleichgestellt werden (vgl. [X.] [X.], Beschluss vom 13. Februar 2012 - L 4 AS 1197/11 B -, juris, Rn. 5; Sächsisches [X.], Beschluss vom 22. Juni 2011 - L 3 [X.]/10 B PKH -, juris, Rn. 11 f.). Dies kann jedoch nur gelten, wenn das Kostenrisiko tatsächlich vollständig entfallen ist. So liegt es, wenn sich der [X.] freiwillig zur Kostenübernahme verpflichtet, aber daran fehlt es bei der Verpflichtung des [X.]s zur Kostenübernahme durch eine anfechtbare Hauptsacheentscheidung, da diese im Rechtsmittelverfahren aufgehoben werden kann, woraufhin die zunächst begünstigte [X.] ihre Kosten für das erstinstanzliche Verfahren letztlich selbst zu tragen hat. Dies hat das Sozialgericht verkannt. Der angegriffene Beschluss lässt eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung der grundrechtlich verbürgten Rechtsschutzgleichheit erkennen, auf der die Entscheidung auch beruht.

2. Der Beschluss des [X.] vom 29. Oktober 2013 ist hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Die Entscheidung über den Gegenstandswert beruht auf § 37 Abs. 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG.

Meta

1 BvR 3474/13

25.08.2015

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend SG Neubrandenburg, 29. Oktober 2013, Az: S 14 AS 1633/11, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 73a SGG, § 144 SGG, § 114 S 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25.08.2015, Az. 1 BvR 3474/13 (REWIS RS 2015, 6232)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 6232

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Wird zitiert von

L 8 AY 106/22 B ER

1 BvR 1623/17

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