Bundessozialgericht, Beschluss vom 14.12.2023, Az. B 4 AS 72/23 B

4. Senat | REWIS RS 2023, 8620

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig - Versäumung der Berufungsfrist - öffentliche Zustellung


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 22. November 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger macht in der [X.]ache geltend, die Beklagten hätten von ihm gestellte Anträge auf laufende Leistungen nicht bearbeitet.

2

Er hat am 31.12.2021 beim [X.] Klage erhoben; die Klageschrift enthält die Absenderangabe: "B. R, [X.], [X.]". Die an diese Anschrift versandte Eingangsbestätigung des [X.] vom 10.1.2022 ist am 18.1.2022 als unzustellbar zum Gericht zurückgelangt. Auf dem [X.] befindet sich ein Bearbeitungsvermerk des beauftragten [X.] "b", nach dem der Kläger unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln gewesen sei. Weder der Briefkasten noch die Klingel seien beschriftet gewesen. Eine daraufhin eingeholte Einwohnermeldeamtsauskunft der [X.]tadt [X.] vom 24.1.2022 hat ergeben, dass unter der vom Kläger angegebenen Anschrift niemand gemeldet ist. Die Übersendung der Eingangsbestätigung an die aus den Verwaltungsvorgängen ermittelte frühere Anschrift des [X.], c/o postlag. [X.]. R, J -[X.]traße, [X.]" hat ebenfalls zu einem [X.] geführt. Der erneut beauftragte Postdienst "b" hat wiederum mitgeteilt, unter der angegebenen Anschrift habe der Kläger nicht ermittelt werden können; der Briefkasten und die Klingel seien nicht beschriftet gewesen. Daraufhin hat das [X.] dem Kläger aufgegeben, eine ladungsfähige Anschrift anzugeben; andernfalls sei seine Klage unzulässig. Zugleich hat es die Beteiligten unter Fristsetzung bis zum 31.3.2022 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und beide Verfügungen öffentlich zugestellt.

3

Das [X.] hat die Klage als unzulässig abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 18.3.2022). Für seine Entscheidung hat es wiederum die öffentliche Zustellung angeordnet (Beschluss vom 18.3.2022). Die Zustellbenachrichtigung ist am [X.] ausgehängt worden. Dem Kläger ist der Gerichtsbescheid erst anlässlich einer [X.]achstandsanfrage im Mai 2022 bekannt geworden; daraufhin hat er am 27.5.2022 sinngemäß Berufung eingelegt. Das L[X.] hat das Rechtsmittel des [X.] als unzulässig verworfen, weil die Berufungsfrist von einem Monat nicht gewahrt worden sei; das [X.] habe dem Kläger den Gerichtsbescheid wirksam öffentlich zugestellt (Urteil vom 22.11.2022).

4

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger als Verfahrensmangel, die Entscheidung des L[X.] über die Zulässigkeit der Berufung sei unzutreffend. [X.]tatt eines Prozessurteils habe im Berufungsverfahren eine [X.]achentscheidung ergehen müssen. Der Gerichtsbescheid des [X.] habe ihm nicht wirksam öffentlich zugestellt werden dürfen, sodass die Berufungsfrist am 27.5.2022 noch nicht abgelaufen gewesen sei. Das [X.] sei gehalten gewesen, zunächst einen weiteren postalischen Zustellversuch unter der von ihm bei Klageerhebung angegebenen Anschrift durchzuführen, unter der ihn auch andere Post erreicht habe. Zudem habe das [X.] pflichtwidrig eine Kontaktaufnahme unter einer der beiden aus den beigezogenen Verwaltungsakten ersichtlichen E-Mail-Adressen unterlassen, obwohl er auf diesem Weg auch vorgerichtlich mit den Beklagten kommuniziert habe.

5

II. Die zulässige Beschwerde des [X.] führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der [X.]ache an das L[X.] gemäß § 160a Abs 5 [X.]G. Der Entscheidung liegt ein formgerecht gerügter (§ 160a Abs 2 [X.]atz 3 [X.]G) Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) zugrunde. Das L[X.] hätte die Berufung nicht wegen Verfristung als unzulässig verwerfen dürfen, sondern in der [X.]ache entscheiden müssen. Darin liegt ein Verfahrensmangel, denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum [X.]achurteil um eine q[X.]litativ andere Entscheidung (stRspr; vgl nur B[X.] vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - juris Rd[X.] 5; B[X.] vom 15.6.2016 - B 4 A[X.] 651/15 B - juris Rd[X.] 5; B[X.] vom 15.2.2023 - B 4 A[X.] 101/22 B - juris Rd[X.] 6).

6

Gemäß § 151 Abs 1 [X.]G beginnt die Berufungsfrist mit der "Zustellung des Urteils"; dasselbe gilt für den hier gegebenen Fall einer erstinstanzlichen Entscheidung durch Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 2 [X.]atz 1 [X.]G). Die Zustellung erfolgt nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (§ 63 Abs 2 [X.]atz 1 [X.]G). Danach kann eine Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung [X.] dann erfolgen, wenn der Aufenthaltsort einer Person unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist (§ 185 [X.] 1 ZPO). Letzteres war hier der Fall; das [X.] hat sich jedoch nicht in [X.] davon überzeugt, dass der klägerische Aufenthalt (allgemein und nicht nur ihm) unbekannt war.

7

Die Voraussetzungen des § 185 ZPO dürfen wegen des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) bzw des - hier einschlägigen - Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 [X.]atz 1 GG) nicht vorschnell angenommen werden, weil die öffentliche Zustellung in aller Regel tatsächlich keine Kenntnisnahme des Empfängers ermöglicht (siehe [X.] in [X.]/[X.], [X.]G, 14. Aufl 2023, § 63 Rd[X.] 17 mwN). [X.]ie ist daher als ultima ratio anzusehen und darf nur angeordnet werden, wenn zuvor alle der [X.]ache nach geeigneten und zumutbaren Nachforschungen angestellt wurden, um den Aufenthalt des Zustellungsadressaten zu ermitteln; eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt reicht nicht in jedem Fall aus (vgl B[X.] vom [X.] - [X.] [X.]O 50/17 B - juris Rd[X.] 7; [X.] vom 17.1.2017 - VIII ZR 209/16 - juris Rd[X.] 4; [X.] vom 25.2.2016 - X [X.] 23/15 (PKH) - juris Rd[X.] 19). Diesen Anforderungen genügt das Vorgehen des [X.] im vorliegenden Fall nicht. Gibt der Kläger an, dass er seine Briefe postlagernd in einer bestimmten Postfiliale entgegennimmt, liegt es nahe, ihm zunächst einen einfachen Brief auf die gewünschte Weise mit der [X.] zu übersenden. Diese ist zur Beförderung von Briefsendungen nach Maßgabe der Post-Universaldienstleistungsverordnung ([X.]), also insbesondere unter Einhaltung der in § 2 [X.] genannten Q[X.]litätsmerkmale, verpflichtet. Dass der vom [X.] beauftragte Dienstleister insoweit überfordert war, ist bereits mit dem Rücklauf der Eingangsbestätigung des [X.] am 18.1.2022 offensichtlich geworden, da der entsprechende Brief gerade nicht den Mitarbeitern der Postfiliale zur Aufbewahrung für den Kläger übergeben, sondern an das [X.] zurückgeschickt worden ist. In dieser [X.]it[X.]tion war es [X.], von einem Zustellversuch mit der [X.] abzusehen. Darüber hinaus wäre aber vor einer öffentlichen Zustellung auch eine formlose Nachfrage beim Kläger über eine der aktenkundigen E-Mail-Adressen erforderlich gewesen (vgl B[X.] vom 29.8.2012 - B 11 [X.] 72/11 B - juris Rd[X.] 7). Dass eine einfache E-Mail das Formerfordernis für die Erhebung oder Einlegung eines Rechtsmittels nicht wahrt (vgl B[X.] vom [X.] - B 4 A[X.] 104/22 BH - juris Rd[X.] 8 mwN - zur Veröffentlichung in [X.]ozR 4-1500 § 66 [X.] 6 vorgesehen), steht dem nicht entgegen.

8

Die öffentliche Zustellung des Gerichtsbescheids ist vor diesem Hintergrund für den Beginn der Berufungsfrist nicht maßgebend gewesen, weil der Verstoß gegen § 185 ZPO nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zur Folge hat, dass die [X.] des § 188 ZPO nicht ausgelöst wird und damit auch keine Frist zu laufen beginnt (statt aller [X.] vom 6.10.2006 - [X.] - NJW 2007, 303 Rd[X.] 12 mwN; B[X.] vom 24.3.2015 - [X.] [X.]O 73/14 B - juris Rd[X.] 7). Eine gegenüber dem Kläger wirksame Zustellung des Gerichtsbescheids des [X.] vor Ende Mai 2022 ist nicht nachweisbar, sodass sein vom L[X.] zu Recht als Berufung ausgelegtes Rechtsmittel vom 27.5.2022 die Berufungsfrist gewahrt hat. Die Berufung ist ferner statthaft, da der Kläger jedenfalls auch (die Nichtbescheidung von Anträgen auf) laufende Leistungen ab März 2020 geltend macht. [X.]chließlich bestehen keine Anhaltspunkte, dass das klägerische Rechtsmittel aus anderen Gründen unzulässig sein könnte.

9

Die Entscheidung des L[X.] beruht auch auf dem vorliegenden Verfahrensfehler, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine [X.]achentscheidung zu einem anderen Ergebnis führt.

Gemäß § 160a Abs 5 [X.]G kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die [X.]ache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der [X.]enat von dieser Möglichkeit Gebrauch. Das L[X.] wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren zunächst in eigener Zuständigkeit zu beurteilen haben, ob die Klage zulässig ist. Insofern hat es im Ausgangspunkt zutreffend darauf hingewiesen, dass ein zulässiges Rechtsschutzbegehren grundsätzlich die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift voraussetzt (ebenso zuletzt B[X.] vom 23.6.2023 - B 4 A[X.] 191/22 BH - juris Rd[X.] 5 mwN). [X.]ollte das L[X.] zu dem Ergebnis kommen, dass die Klage diesen Anforderungen nicht entsprochen hat, wird es zu berücksichtigen haben, dass im erstinstanzlichen Verfahren das zwingende Verfahren des § 92 Abs 2 [X.]atz 1 [X.]G nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, weil die entsprechende Aufforderung der Vorsitzenden vom [X.] dem Kläger ebenfalls nicht wirksam zugestellt worden ist. Vor diesem Hintergrund wird der Kläger - vorbehaltlich weiterer [X.]chritte des L[X.] - bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz Gelegenheit haben, fehlende Angaben nachzuholen. [X.]odann wird das L[X.] unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes das sachliche Begehren des [X.] festzustellen haben. [X.]ollte sich dabei ergeben, dass der Kläger ([X.] auch) einen [X.]chadensersatzanspruch geltend macht, der sich nicht auf eine sozialrechtliche Anspruchsgrundlage, sondern allein auf einen Amtshaftungsanspruch stützen lässt, wird es vorrangig zu prüfen haben, ob das [X.] hierüber eine Entscheidung in der Hauptsache getroffen hat (§ 202 [X.]atz 1 [X.]G iVm § 17a Abs 5 [X.]). Andernfalls wird es das Verfahren im Fall der objektiven Klagehäufung (§ 56 [X.]G) insoweit abtrennen und an das zuständige Landgericht verweisen müssen (§ 202 [X.]atz 1 [X.]G iVm § 17a Abs 2 [X.]; siehe zum Ganzen B[X.] vom 19.9.2023 - B 4 A[X.] 56/23 B - zur Veröffentlichung in [X.]ozR vorgesehen; vgl auch [X.] vom [X.] - [X.]/89 - juris Rd[X.] 17 ff).

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem L[X.] vorbehalten.

        

[X.]

Burkiczak

B. [X.]

Meta

B 4 AS 72/23 B

14.12.2023

Bundessozialgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Braunschweig, 18. März 2022, Az: S 57 AS 1035/21, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 105 Abs 2 S 1 SGG, § 63 Abs 2 S 1 SGG, § 62 SGG, § 185 Nr 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 14.12.2023, Az. B 4 AS 72/23 B (REWIS RS 2023, 8620)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 8620

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