Bundessozialgericht, Beschluss vom 19.05.2022, Az. B 8 SO 57/21 B

8. Senat | REWIS RS 2022, 3534

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig wegen Versäumung der Berufungsfrist - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - unverschuldete Verhinderung - rechtzeitige Absendung der Berufungsschrift


Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des [X.] vom 21. Juli 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Zwischen den Beteiligten steht die Versagung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem [X.] Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]) im Streit.

2

Die miteinander verheirateten Kläger beziehen beide eine Altersrente von der Beigeladenen. Nachdem der Beklagte die Kläger mehrfach unter Hinweis auf die Folgen fehlender Mitwirkung zur Einreichung von Unterlagen aufgefordert hatte, versagte der Beklagte die Leistungen der Grundsicherung (Bescheid vom 5.3.2019). Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15.5.2019; Urteil Sozialgericht <[X.]> München vom 10.3.2021). Das Urteil des [X.] wurde den Klägern per Postzustellungsurkunde ([X.]) am 20.3.2021 zugestellt. Hiergegen haben die Kläger mit einem am 23.4.2021 eingegangenen Einwurf-Einschreiben jeweils Berufung beim [X.] (L[X.]) eingelegt. Nach gerichtlichem Hinweis haben sie mitgeteilt, dass die Berufungen innerhalb gesetzter Frist per Einschreiben abgesandt worden seien.

3

Das L[X.] hat durch Beschluss vom [X.] die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es [X.] ausgeführt, beide [X.] seien zwar formgerecht, aber nicht mehr innerhalb der Monatsfrist gemäß § 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ([X.]G) eingelegt worden. Die einmonatige Frist zur Einlegung der Berufung habe am Tag nach der laut [X.] wirksamen Zustellung am 20.3.2021 zu laufen begonnen und die Frist damit am Dienstag, den [X.] geendet. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 [X.]G komme nicht in Betracht. Es liege im Risiko und Verantwortungsbereich der Kläger als Rechtsmittelführer, fristwahrende Schreiben so rechtzeitig abzusenden, dass sie noch innerhalb laufender Fristen mit dem Eingang rechnen können.

4

II. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Beschluss des L[X.] ist zulässig, denn sie haben einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G). Der gerügte Mangel liegt auch vor. Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 [X.]G macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen.

5

Das L[X.] hat zu Unrecht durch Prozessurteil und nicht in der Sache entschieden. Darin liegt ein Verfahrensmangel (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G), denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine q[X.]litativ andere Entscheidung (stRspr; vgl nur B[X.] vom [X.] [X.]/15 B - Rd[X.] 5 - 6; B[X.] vom 5.6.2014 - [X.] [X.]/13 B - Rd[X.] 9; B[X.] vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - Rd[X.] 5, jeweils mwN).

6

Die Behandlung der Berufung der Kläger als verfristet begründet einen Verfahrensmangel. Zwar hat die Frist des § 151 Abs 1 [X.]G mit Zustellung des [X.]-Urteils, die laut [X.] am 20.3.2021 (einem Samstag) erfolgt ist, zu laufen begonnen (§ 64 Abs 1 [X.]G). Fristbeginn ist damit der [X.] und die Frist hat am Dienstag, den [X.] um 24.00 Uhr geendet (§ 64 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 3 [X.]G). Der Eingang der Berufungsschrift am 23.4.2021 erfolgte damit nicht mehr innerhalb der Berufungsfrist, wovon auch das L[X.] ausgegangen ist.

7

Die Kläger haben indes zutreffend einen Verstoß gegen § 67 [X.]G gerügt, auf dem der Beschluss des L[X.] beruhen kann. Das L[X.] hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern hätte Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewähren und sodann über die Berufung in der Sache entscheiden müssen. Nach § 67 Abs 1 [X.]G ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (B[X.]) liegt ein Verschulden grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozess[X.]len Verkehr erforderliche Sorgfalt außer [X.] gelassen worden ist (B[X.] vom 8.10.2009 - [X.] [X.] 35/09 B - Rd[X.] 4).

8

Ein solcher Fall des Verschuldens liegt hier nicht vor. Ausweislich des frankierten aktenkundigen [X.] wurde die Berufungsschrift am [X.] (einem Freitag) adressiert und ausreichend frankiert an das L[X.] zur Post gegeben. Zwar ist entscheidend für die Wahrung der Frist der Eingang beim Rechtsmittelgericht, dennoch spricht für eine im Rahmen der Wiedereinsetzung zu beachtende Schuldlosigkeit der Wiedereinsetzung, wenn die Berufungsschrift so rechtzeitig abgesandt wurde, dass nach üblichen Postlaufzeiten zu erwarten war, dass sie noch innerhalb der Berufungsfrist bei dem Rechtsmittelgericht eingehen würde. Dies gilt nicht bei voraussehbarer Verzögerung wegen außergewöhnlicher Ereignisse, insbesondere wenn die Verzögerungsgefahren bekannt gemacht worden sind oder offenkundig waren und wenn die Beteiligten Kenntnis davon haben mussten, dass eine konkrete Gefahr von Verzögerungen bestand, wie dies zB bei längerfristigen Streiks der Fall ist (B[X.] vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/16 B - Rd[X.] 6; vgl [X.] vom 29.12.1994 - 2 BvR 106/93 - NJW 1995, 1210; [X.] vom 9.12.1992 - [X.] - NJW 1993, 1332, 1333; siehe dazu nur [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 13. Aufl 2020, § 67 Rd[X.] 6c). Solche Umstände sind indes vorliegend nicht ersichtlich. Vielmehr durften die Kläger davon ausgehen, dass nach Aufgabe des Briefes bei der [X.] am Freitag, den [X.] im Hinblick auf § 2 [X.] Satz 1 Post-Universaldienstleistungsverordnung ([X.]) vom 15.12.1999 ([X.]) diese am folgenden Werktag (Samstag, den 17.4.2021), spätestens aber am folgenden Montag, den [X.] zugehen würde (vgl B[X.] vom 27.11.2018 - [X.] U 17/18 B - Rd[X.] 9).

9

Die Entscheidung des L[X.] beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Wäre es nicht von einer Verfristung der Berufung ausgegangen, so hätte es den Rechtsstreit in der Sache entscheiden müssen. Insoweit gilt, dass eine für die Kläger günstigere Entscheidung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des B[X.] (vgl nur B[X.] vom [X.] - [X.] [X.]/13 R - B[X.]E 116, 86 = [X.]-4200 § 21 [X.] 18; daran anschließend B[X.] vom 18.11.2014 - [X.] [X.]/14 R - B[X.]E 117, 240 = [X.]-4200 § 21 [X.] 19; B[X.] vom 11.2.2015 - [X.] AS 27/14 R - vorgesehen in B[X.]E und [X.]-4200 § 21 [X.] 21) nicht ausgeschlossen erscheint.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem L[X.] vorbehalten.

                [X.]                Bieresborn

        für die an der Unterschrift

        gehinderte Vorsitzende

        Richterin am B[X.] Krauß

Meta

B 8 SO 57/21 B

19.05.2022

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG München, 10. März 2021, Az: S 48 SO 305/19, Urteil

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 158 S 1 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 2 Nr 3 S 1 PUDLV

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 19.05.2022, Az. B 8 SO 57/21 B (REWIS RS 2022, 3534)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 3534

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