Bundespatentgericht, Beschluss vom 03.07.2023, Az. 35 W (pat) 406/22

35. Senat | REWIS RS 2023, 4729

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tenor

In der Beschwerdesache

betreffend das Gebrauchsmuster 20 2011 109 887

hat der 35. Senat ([X.]) des [X.] auf die mündliche Verhandlung vom 19. April 2023 unter Mitwirkung des Vorsitzenden [X.] sowie [X.] Dr.-Ing. [X.] und Dipl.-Ing. Brunn

beschlossen:

1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin wird zurückgewiesen.

2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit des Gebrauchsmusters 20 2011 109 887 (i. F.: [X.]).

2

Das am 27. April 2012 beantragte [X.] ist aus der internationalen Anmeldung PCT/FI2011/050112, veröffentlicht als [X.] 2011/104432 [X.] (i. F.: [X.], im vorliegenden Verfahren als [X.] bezeichnet), mit Anmeldetag 9. Februar 2011 abgezweigt worden. Es beansprucht die ausländischen Prioritäten [X.] (im vorliegenden Verfahren als [X.] bezeichnet) und FI 20105182 (im vorliegenden Verfahren als [X.] bezeichnet), beide mit Prioritätstag 24. Februar 2010. Das [X.] ist mit fremdsprachigen Anmeldeunterlagen angemeldet worden, eine [X.] Übersetzung von Schutzansprüchen, Beschreibung und Zeichnungen ist am 27. Juli 2012 nachgereicht worden. Es ist am 2. August 2012 mit den Schutzansprüchen 1 - 5 und der Bezeichnung „Energieübertragungsvorrichtung“ eingetragen worden und nach Ablauf der Schutzdauer Ende Februar 2021 erloschen.

3

Gegen das [X.] in vollem Umfang richtet sich der Löschungsantrag vom 1. Februar 2018, den die Antragstellerin zunächst auf fehlende Schutzfähigkeit und im weiteren Verfahren dann auch auf unzulässige Erweiterung gestützt hat. Die Antragstellerin ist der Auffassung, dass die vorgenannten Prioritäten nicht wirksam für das [X.] beansprucht werden könnten, da eine aus Sicht der Antragstellerin erfindungswesentliche hydraulische Kurbel nicht Gegenstand des [X.]s geworden sei. Daher zählten die [X.]en [X.] und [X.] zum Stand der Technik und träfen den Gegenstand des [X.]s neuheitsschädlich. Neuheitsschädlich sei auch die weitere Druckschrift [X.] (bezeichnet als [X.]). Ferner fehle es an einem erfinderischen Schritt, da der Gegenstand des [X.]s in Zusammenschau der [X.] mit der weiteren Druckschrift [X.] (bezeichnet als [X.]) für den Fachmann nahegelegt sei.

4

Der Löschungsantrag ist der Antragsgegnerin am 8. Februar 2018 zugestellt worden. Sie hat dem Löschungsantrag mit Schriftsatz vom 7. März 2018, eingegangen am selben Tag, widersprochen und ihren Widerspruch mit Schriftsatz vom 13. Juni 2018 begründet. Mit [X.] hat die Antragsgegnerin einen neuen Hauptantrag mit geänderten [X.]n 1 – 2 und weitere Anspruchsfassungen als Hilfsanträge 1 – 5, jeweils mit einem einzigen Schutzanspruch eingereicht. Aus ihrer Sicht sei der [X.] der [X.] nicht auf eine hydraulische Kurbel beschränkt. Die neu eingereichten Anspruchsfassungen seien zulässig, ihr Gegenstand sei auch neu und erfinderisch.

5

Nach weiteren gewechselten Schriftsätzen hat die [X.] den Beteiligten mit Zwischenbescheid vom 13. Mai 2020 als vorläufige Auffassung mitgeteilt, dass der Löschungsantrag voraussichtlich erfolgreich sein werde, da es an der sachlichen Identität des Erfindungsgegenstands des [X.]s mit demjenigen der [X.] fehle.

6

Nach Erlöschen des [X.]s Ende Februar 2021 hat die Antragstellerin ihren ursprünglichen Löschungsantrag auf Feststellung der Unwirksamkeit umgestellt, zunächst nur bezüglich der [X.] – 3 und 5, in der mündlichen Verhandlung vor der [X.] vom 5. Oktober 2021 dann auch wieder bezüglich des Schutzanspruchs 4, wogegen die Antragsgegnerin keine Einwände hatte. Die Antragstellerin beruft sich hinsichtlich ihres Feststellungsinteresses auf einen zwischen den Beteiligten vor dem [X.] anhängigen [X.], in welchem die Antragsgegnerin Ansprüche auf Auskunft und Schadenersatz aus dem [X.] gegenüber der Antragstellerin geltend macht. Dieser parallele [X.] ist mit Blick auf das vorliegende Verfahren ausgesetzt.

7

In der mündlichen Verhandlung vor der [X.] am 5. Oktober 2021 hat die Antragstellerin beantragt, die anfängliche Unwirksamkeit des [X.]s bezüglich aller [X.] festzustellen. Die Antragsgegnerin hat das [X.] im Umfang des [X.] vom 13. Juni 2018 und hilfsweise im Umfang der Anspruchsfassungen nach den [X.] 1 – 5 vom 13. Juni 2018 verteidigt.

8

Mit in der mündlichen Verhandlung verkündetem Beschluss hat die [X.] festgestellt, dass das [X.] unwirksam sei (offenkundig gemeint: dass das [X.] von Anfang an unwirksam gewesen sei) und der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens auferlegt. Sie hat diesen Beschluss im Wesentlichen wie folgt begründet:

9

Die in der [X.] beschriebene hydraulische Kurbel sei nach dem [X.] der [X.] ein erfindungswesentliches Merkmal, so dass die Anspruchsfassung nach Hauptantrag, die dieses Merkmal nicht aufweise, unzulässig erweitert sei. Gleiches gelte auch für die Hilfsanträge 1 – 5.

Der Beschluss ist der Antragsgegnerin am 18. November 2021 und der Antragstellerin am 24. November 2021 zugestellt worden.

Gegen den vorgenannten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 16. Dezember 2021, eingegangen mit einem SEPA-Mandat am selben Tag und begründet mit Schriftsatz vom 28. April 2022.

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass der angefochtene Beschluss mit Blick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung, insbesondere die Entscheidung „[X.]“ (Urteil vom 7. November 2017, [X.]), fehlerhaft. Die [X.] habe zwei Lösungsaspekte beschrieben. Zum einen gehe es um die Verwendung von hydraulischen Kurbeln zur Erzeugung eines für die zur Bearbeitung der Innenflächen von [X.] bestimmten Kraftübertragungsvorrichtungen ausreichenden Drehmoments. Zum anderen werde in der [X.] die einfache Bedienbarkeit als weiteres technisches Problem beschrieben, wobei der Fachmann erkenne, dass die Anordnung der Drehachse der Trommel einen weiteren erfindungsgemäßen Lösungsaspekt bezüglich der einfachen Bedienbarkeit darstelle, der in keinem funktionellen Zusammenhang zum erstgenannten Aspekt (Drehmoment) stehe. Der Gegenstand nach Hauptantrag sei auch schutzfähig. Insbesondere werde er weder von der [X.] noch von der [X.] neuheitsschädlich vorweggenommen und werde vom Stand der Technik auch nicht nahegelegt. Gleiches gelte für die Anspruchsfassungen nach den Hilfsanträgen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss der [X.] des [X.] vom 5. Oktober 2021 aufzuheben und den Feststellungsantrag gegen das [X.] 20 2011 109 887 im Umfang der [X.] gemäß Hauptantrag vom 13. Juni 2018 zurückzuweisen,

hilfsweise in nachfolgend genannter Reihenfolge: [X.] vom 13. Juni 2018,

den Feststellungsantrag im Umfang der [X.] nach einem dieser Hilfsanträge zurückzuweisen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückzuweisen.

Die Antragstellerin hält die Beschwerde der Antragsgegnerin für unbegründet. Die [X.] habe den Löschungsgrund der unzulässigen Erweiterung zutreffend bejaht. Die [X.] habe keine Zweiterfindung offenbart. Die ursprüngliche [X.] beziehe sich auf Sicherstellung eines ausreichenden Drehmoments, als Lösung dafür die hydraulische Kurbel ursprungsoffenbart, während z.B. die [X.] elektrische Kurbeln insoweit als nachteilig beschreibe. Die Verwendung einer anderen als einer hydraulischen Kurbel, insbesondere eine elektrische Kurbel sei hingegen nicht ursprungsoffenbart.

In das Verfahren sind die nachfolgend genannten Dokumente und [X.] eingeführt worden:

[X.]    

[X.] 2011/104432 [X.] ([X.]);

[X.]    

[X.] (Prioritätsanmeldung);

[X.]    

FI 20105182 (Prioritätsanmeldung);

[X.]    

[X.];

[X.]    

[X.];

D6    

[X.] 2005/0193509 [X.].

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss der [X.], die Schriftsätze der Beteiligten und den übrigen Akteninhalt verwiesen.

II.

Die zulässige, insbesondere form- und fristgemäß unter Einzahlung der Beschwerdegebühr erhobene Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet, da das [X.] in keiner von ihr verteidigten Fassung Bestand hat.

1. Die Antragsgegnerin hat dem ursprünglichen Löschungsantrag wirksam, insbesondere rechtzeitig widersprochen, so dass das Löschungsverfahren mit inhaltlicher Prüfung der geltend gemachten Löschungsgründe durchzuführen war.

Die Antragstellerin hat nach dem Erlöschen des [X.]s wegen Ablaufs der Schutzdauer (§ 23 Abs. 1 [X.]) ihren ursprünglichen Löschungsantrag in zulässiger, insbesondere auch sachdienlicher Weise auf Feststellung der Unwirksamkeit des [X.]s umgestellt, da sie aufgrund des o.g. parallelen, zwischen den Beteiligten anhängigen Verletzungsrechtsstreit das erforderliche rechtliche Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit des [X.]s hat.

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist jedoch nicht die eingetragene Fassung des [X.]s, sondern an erster Stelle die Anspruchsfassung nach Hauptantrag vom 13. Juni 2018, gefolgt von den Anspruchsfassungen nach den [X.] 1 – 5, ebenfalls vom 13. Juni 2018, da die Antragsgegnerin nur diese Anspruchsfassungen zum Gegenstand ihrer Antragstellung gemacht hat.

2. Der Gegenstand des Schutzanspruchs 1 nach Hauptantrag in der Fassung vom 13. Juni 2018 ist unzulässig erweitert (§ 15 Abs. 1 Nr. 3 [X.]).

a. Die dem [X.] zugrundeliegende Erfindung betrifft [X.]übertragungsvorrichtung, die z.B. zum Beispiel bei der Bearbeitung bzw. Reinigung der Innenfläche von [X.] als Hilfsmittel verwendet werden kann. Bei derartigen Kraftübertragungsvorrichtungen wird [X.] mittels der Drehbewegung einer langgestreckten Kraftübertragungseinheit bzw. eines Kabels (im [X.] mit Bezugszeichen 110, 210) übertragen. Durch die Drehbewegung des Kabels wird die Kraft, die durch eine „Kurbel“ (im [X.] mit Bezugszeichen 140, 240) erzeugt wird, als eine Drehbewegung zu einem an dem Kopf des Kabels positionierten Werkzeug übertragen.

Bei derartigen, aus dem Stand der Technik bekannten, elektromotorisch oder durch Wasserturbinen angetriebenen Kraftübertragungsvorrichtungen träten nach der Beschreibung des [X.]s verschiedene Probleme auf. [X.] angetriebene Kraftübertragungsvorrichtungen erzielten nur unzureichende Drehmomente und neigten zur Überhitzung. [X.] Lösungen benötigten einen speziell für diesen Zweck ausgerüsteten [X.], der die Zugänglichkeit in enge Räume erschwerte erforderten extrem hohe Wassermengen während des Betriebs, und könnten zu Korrosion an der Innenfläche von Metallrohren führen (Abs. [0001] – [0004] der Gebrauchsmusterschrift, i. F.: GS.).

Dem Gegenstand des [X.]s liegt daher die Aufgabe zugrunde, [X.]übertragungsvorrichtung bereitzustellen, die ein geeignetes Drehmoment erzeugt (Absatz [0006] GS.).

b. Schutzanspruch 1 nach Hauptantrag lautet – mit einer den Beteiligten übergebenen Merkmalsgliederung und mit optischer Hervorhebung der Änderungen gegenüber der eingetragenen Fassung – wie folgt:

M0    

Kraftübertragungsvorrichtung umfassend,

[X.]    

- ein Kabel (210) und einen das Kabel wenigstens teilweise umgebenden Kanal (212),

M2    

- eine Trommel (232),

M2.1   

die drehbar angeordnet ist

M2.2   

und einen Außenring (232)

M2.3   

und einen Innenring (233) aufweist,

M2.4   

wobei das Kabel mit seinem Kanal in den Bereich zwischen dem Innen- und Außenring aufgewickelt werden kann,

[X.]    

und eine Kurbel (240), die in Verbindung mit dem Kopfende (211) des Kabels ist, um das Kabel zu drehen,

        

wobei die Kraftübertragungsvorrichtung dadurch gekennzeichnet ist,

[X.]    

- dass die Differenz zwischen den Radien des Außenrings (232) und des [X.] (233) der Trommel (232) kleiner ist als das Doppelte in Bezug auf den Durchmesser des Kanals (212);

M5    

- dass die Kraftübertragungsvorrichtung weiter eine Führung (220) zum Zuführen des Kabels auf die Trommel und/oder Wegführen von der Trommel aufweist;

M6    

- dass die Kurbel (240) in Verbindung mit dem inneren Abschnitt (231) der

        

Trommel angebracht ist und angeordnet ist, um sich zusammen mit der Trommel (232) zu drehen; und

M8    

- dass die Drehachse der Trommel (232) im Wesentlichen senkrecht in Bezug auf die Basis angeordnet ist, auf der die Vorrichtung angebracht ist, wenn die Vorrichtung in der [X.] ist.

Es schließt sich der abhängige Schutzanspruch 2 mit folgendem Merkmal M7 an:


… dadurch gekennzeichnet, dass,

in Verbindung mit der Kurbel (240) und dem Kopfende (211) des Kabels ein
Sicherheitsschalter (113) vorhanden ist, der das Kabel von der Kurbel trennt, wenn die Torsion eine Grenze übersteigt.

c. Ausgehend vom vorgenannten Gegenstand und der Aufgabenstellung des [X.]s ist als zuständiger Fachmann – in Übereinstimmung mit dem angefochtenen Beschluss der [X.] - ein Maschinenbauingenieur (FH) mit mehrjähriger Erfahrung in der Konstruktion und Entwicklung von Rohrreinigungsgeräten anzusehen.

d. Einige Merkmale des [X.]s bedürfen der Auslegung.

Unter einem das Kabel wenigstens teilweise umgebenden Kanal gemäß dem Merkmal [X.] versteht das [X.], dass das Kabel mit Ausnahme von seiner freien Enden innerhalb des Kanals verläuft, wobei es in der Lage ist, sich je nach Bedarf innerhalb des Kanals zu drehen (vgl. Abs. [0023] GS.). Dementsprechend wird gemäß den Merkmalen M2.4 und [X.] das Kabel auch mit dem Kanal, indem es verläuft, auf die Trommel aufgewickelt bzw. vor der Trommel abgewickelt.

Unter einer Kurbel versteht daher der Fachmann einen beliebigen Drehantrieb, mit dem das Kabel innerhalb des Kanals bzw. eines Rohres um die eigene Achse gedreht werden kann, um das Werkzeug am anderen Ende des Kabels in Drehbewegung zu versetzen.

Unter einer Basis nach Merkmal M8 versteht das [X.] den Boden bzw. Fußboden oder eine andere Basis, auf der die Vorrichtung zum Betrieb bzw. in der [X.] platziert ist (Abs. [0027] GS.). Die Vorrichtung kann aus der [X.] um 90° in die [X.] gekippt werden (Abs. [0026] GS., dort letzter Satz, Abs. [0029] GS., dort erster Satz).

e. Die Fassung des Schutzanspruchs 1 nach Hauptantrag ist gegenüber dem [X.] der [X.] unzulässig erweitert (§ 15 Abs. 1 Nr. 3 [X.]).

aa. Ist, wie im vorliegenden Fall, das [X.] abgezweigt worden, so ist für die Prüfung des Löschungsgrunds der unzulässigen Erweiterung der [X.] der [X.] maßgebend, aus der das [X.] abgezweigt worden ist (vgl. [X.], vgl. [X.], 867 - Momentanpol I; [X.], 1243, [X.]. 17 – Feuchtigkeitsabsorptionsbehälter; ferner den Senatsbeschluss vom 7. Oktober 2020, 35 W (pat) 421/18). Insbesondere ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass sich § 4 Abs. 5 Satz 2 [X.] nicht nur auf die Fälle einer Erweiterung eines Gebrauchsmusters gegenüber den Unterlagen der ursprünglichen Gebrauchsmusteranmeldung bezieht, sondern auch für den Fall von Änderungen der abgezweigten Gebrauchsmusteranmeldung gegenüber der ursprünglichen Patentanmeldung die sachlich angemessene Regelung darstellt, der Gebrauchsmusterinhaber aus derartigen Erweiterungen keine Rechte herleiten kann und das abgezweigte Gebrauchsmuster gemäß § 5 Abs. 1 [X.] den Anmeldetag der [X.] erhält, so dass es nur konsequent ist, auf den am Anmeldetag vorhandenen [X.] abzustellen.

Im Übrigen ist maßgeblich, ob der zuständige Fachmann die im vorliegenden Schutzanspruch 1 nach Hauptantrag beschriebene technische Lehre den Unterlagen der [X.] unmittelbar und eindeutig entnehmen kann, wobei auch Verallgemeinerungen ursprungsoffenbarter Ausführungsbeispiele zulässig sind, etwa dann, wenn von mehreren Merkmalen, die nicht nur zusammengenommen, sondern auch für sich betrachtet dem erfindungsgemäßen Erfolg förderlich sind, nur eines oder einzelne beansprucht werden (vgl. [X.] GRUR 2018, 175, [X.]. 30 – [X.]). Für letzteres ist aber nur dann Raum, wenn der Gesamtheit der ursprünglichen Unterlagen entnommen werden kann, dass auch Ausführungsformen ohne die in Rede stehenden Merkmale als zur Erfindung gehörend offenbart sind (vgl. [X.] [X.], 149, [X.]. 84 – Sensoranordnung).

bb. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist Schutzanspruch 1 nach Hauptantrag unzulässig erweitert, weil nach dieser Fassung gemäß dem Merkmal [X.] eine Kurbel mit beliebigem Antrieb, also insbesondere auch mit elektrischem Antrieb oder Antrieb mittels Wasserturbine Gegenstand des Schutzanspruchs 1, während die [X.] eine hydraulische Kurbel als zwingendes erfindungswesentliches Merkmal offenbart hat.

Dies folgt jedoch nicht schon daraus, dass in Patentanspruch 1 der [X.] ausdrücklich und ausschließlich eine hydraulische Kurbel beansprucht wird (vgl. [X.] GRUR 2018, 175, [X.]. 32 – [X.]). Auch ist in den Ausführungsbeispielen der [X.] lediglich von einer „vorzugsweise“ zum Einsatz kommenden hydraulischen Kurbel die Rede (vgl. z.B. [X.], [X.], [X.] der [X.]).

Jedoch besteht die Aufgabe der auch der [X.] zugrundeliegenden Erfindung gerade darin, [X.]übertragungsvorrichtung bereitzustellen, die ein geeignetes Drehmoment erzeugt, und ein Kraftübertragungsverfahren bereitzustellen, das im Betrieb kein Wasser verbraucht (vgl. [X.] 8 – 10 der [X.]). Ferner beschreibt die [X.] die gegenüber einer hydraulischen Kurbel alternativen Antriebsarten, nämlich den elektrischen Antrieb und den Antrieb mittels Wasserturbinen als nachteilig. Im Falle des Antriebs mittels Elektromotor sind die Anwendungsmöglichkeiten wegen des damit verbundenen unzureichenden Drehmoments begrenzt, wodurch die Vorrichtung nicht zum Bearbeiten von großen [X.] mit beispielsweise einem Durchmesser von 20 cm verwendet werden können.

Ferner werden Elektromotoren während hoher Beanspruchung sehr heiß, so dass sie über einen längeren Zeitraum ohne eine signifikante Verkürzung der Lebensdauer nicht betrieben werden können (vgl. [X.] – 25 der [X.]).

Im Falle eines turbinenbasierten Antriebs werden speziell für diesen Zweck ausgerüstete, große und für Innenräume von Gebäuden kaum brauchbare Tankwagen und eine extrem hohe Wassermenge im Betrieb benötigt ([X.] 35 – [X.] der [X.]). Ein elektrischer Antrieb und ein Antrieb mittels Wasserturbine weist also gerade die Nachteile auf, deren Vermeidung Aufgabe der der [X.] zugrundeliegenden Erfindung ist. Konsequenterweise ist bereits gemäß [X.] 19 f. der [X.] die in der [X.] beschriebene Kraftübertragungsvorrichtung im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass die Kurbel eine hydraulische Kurbel ist. In der auf [X.] 1 – 11 beschriebenen Ausführungsform ist die dort genannte Kurbel ausdrücklich als hydraulische Kurbel bezeichnet. Schließlich weist [X.] 13 – 17 der [X.] darauf hin, dass aufgrund des durch die hydraulische Kurbel erzeugten Drehmoments die beschriebenen Kraftübertragungsvorrichtungen gemäß der Ausführungsformen – also aller in der Beschreibung der [X.] dargelegten Ausführungsformen – zur Verwendung bei der Reinigung von großen [X.] (z.B. Abwasser- oder Kanalisationsrohre) geeignet sind.

In einer Gesamtschau aller vorgenannter Umstände schließt der zuständige Fachmann aus den Unterlagen der [X.], dass zwar drei Antriebsarten – elektrisch, mittels Wasserturbine oder hydraulisch – bei derartigen Kraftübertragungsvorrichtungen in Betracht kommen, jedoch nur die Verwendung einer hydraulischen Kurbel aufgrund der Nachteile der beiden anderen Antriebsarten geeignet ist, um das der [X.] zugrundeliegende technische Problem zu lösen, so dass ein konkreter Bezug zwischen diesem Merkmal und der Lösung des zugrundeliegenden technischen Problems dahingehend festzustellen ist, dass gerade das Mittel eines hydraulischen Antriebs der beschriebenen Kurbel, so wie auch in Patentanspruch 1 der [X.] beansprucht, Voraussetzung für die Lösung dieses technischen Problems ist. Dann aber ist dieses Merkmal auch als erfindungswesentlich zu erachten (vgl. [X.] GRUR 2018, 175, [X.]. 35 – [X.]).

Soweit die Antragsgegnerin vorträgt, dass die zugrundeliegende technische Aufgabe breit gestellt und das Vorhandensein einer hydraulischen Kurbel nicht als unabdingbar beschrieben worden sei, sondern die [X.] und damit die Bedienbarkeit der beanspruchten Kraftübertragungsvorrichtung als separater erfindungswesentlicher Aspekt zu berücksichtigen sei, und bei [X.] kleiner 20 cm auch ein elektrischer Kurbelantrieb ein ausreichendes Drehmoment bereitstellen könne, vermag sich der Senat dieser Auffassung nicht anzuschließen. Einzelne, in der [X.] angeführte Vorteile, die auch mit einer anderweitigen Ausgestaltung – hier: elektrischer oder wasserturbinenbasierter Antrieb der Kurbel – verwirklicht werden können, führen gerade nicht zu einer anderen Sichtweise (vgl. [X.] GRUR 2018, 175, [X.]. 41 – [X.]). Vielmehr ist für den Fachmann mit Blick auf den o.g. [X.] der [X.] so, wie sich ihm dieser [X.] unmittelbar und eindeutig erschließt, der funktionale Zusammenhang zwischen hydraulischem Antrieb der Kurbel der ausschlaggebende Aspekt für die Lösung der zugrundeliegenden technischen Aufgabe. Entsprechend der der [X.] zugrundeliegenden Aufgabenstellung unter Berücksichtigung der aufgeführten Nachteile von elektrischen oder wasserhydraulischen Antrieben ist die hydraulische Kurbel als zu den unabdingbaren Merkmalen der offenbarten Erfindung gehörend anzusehen. Eine unmittelbare und eindeutige [X.] einer Ausgestaltung einer Energieübertragungseinrichtung mit einem elektrischen Kurbelantrieb zur Reinigung von [X.] mit einem Durchmesser kleiner als 20 cm ist der [X.] schlicht nicht entnehmbar. Dabei differenziert die [X.] in den Ausführungsbeispielen hinsichtlich eines ausreichenden Drehmoments („adequate torque“) auch nicht zwischen [X.] von kleiner oder größer 20cm. Ohne eine derartige eindeutige [X.] entnimmt der Fachmann jedoch der [X.] nichts als Gegenstand der Erfindung, was dort als nachteilig und zu lösendes Problem beschrieben wird.

Schutzanspruch 1 nach Hauptantrag weist daher ein nach dem [X.] der [X.] erfindungswesentliches Merkmal nicht auf, so dass der Löschungsgrund des § 15 Abs. 1 Nr. 3 [X.] erfüllt ist. Bei der vorliegenden Sachlage kann auch unter Berücksichtigung der Entscheidungen [X.] [X.], 40 – Winkelmesseinrichtung, [X.], 1003 – [X.], [X.], 573 – Wundbehandlungsvorrichtung und GRUR 2013, 1135 – Tintenstrahldrucker, die die umgekehrte Fallgestaltung betreffen, nämlich Aufweisen eines nicht ursprungsoffenbarten, aber in der Sache zu einer Beschränkung des Gegenstands des betr. Gebrauchsmusters führenden Merkmals nicht von der Feststellung der Unwirksamkeit des [X.]s abgesehen werden.

3. Auch die Anspruchsfassungen nach den Hilfsanträgen 1 – 5 sind unzulässig erweitert.

Die Fassung des jeweiligen Schutzanspruchs 1 nach den [X.] 1 – 5 unterscheidet sich von der Fassung des [X.] durch Hinzufügung weiterer Merkmale. In keiner Fassung ist jedoch das Merkmal [X.] mit der dort beschriebenen und nicht weiter konkretisierten Kurbel (240) geändert, insbesondere wird in keiner der Anspruchsfassungen nach den Hilfsanträgen 1 – 5 eine hydraulische Kurbel beansprucht.

4. Aus den o.g. Gründen ist daher hinsichtlich aller weiteren im Verfahren befindlichen Anspruchsfassungen der Löschungsgrund der unzulässigen Erweiterung zu bejahen, so dass nach alledem die Beschwerde der Antragsgegnerin ohne Erfolg bleibt.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 18 Abs. 2 Satz 2 [X.], 84 Abs. 2 [X.] i.V.m. §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Billigkeitsgesichtspunkte, die eine anderweitige Kostenentscheidung erfordern könnten, sind nicht gegeben.

Meta

35 W (pat) 406/22

03.07.2023

Bundespatentgericht 35. Senat

Beschluss

Sachgebiet: W (pat)

Zitier­vorschlag: Bundespatentgericht, Beschluss vom 03.07.2023, Az. 35 W (pat) 406/22 (REWIS RS 2023, 4729)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 4729

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

35 W (pat) 416/19 (Bundespatentgericht)

Gebrauchsmusterbeschwerdesache – Zulässigkeit von Product-by-process-Ansprüchen für Gebrauchsmuster – Schutzbereichsbeschränkung


35 W (pat) 401/19 (Bundespatentgericht)

Gebrauchsmusterbeschwerdeverfahren - Löschungsverfahren – Feststellung der Unwirksamkeit – Unzulässigkeit der Erweiterung des Schutzbereichs


35 W (pat) 401/21 (Bundespatentgericht)

Gebrauchsmusterbeschwerdesache - "Durch Zweikomponenten-Spritzgießen hergestellte äußere Schale eines Spenders" – Zurückverweisung an das Deutsche Patent …


35 W (pat) 412/16 (Bundespatentgericht)

(Gebrauchsmusterbeschwerdeverfahren – "Lithiumsilikat-Glaskeramik" - zum Ausschlusstatbestand des § 2 Nr. 3 GebrMG – zur Beurteilung …


35 W (pat) 428/17 (Bundespatentgericht)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

X ZR 63/15

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.